BT-Drucksache 15/445

Chemiekalienpolitik im "Jahr der Chemie"

Vom 12. Februar 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/445
15. Wahlperiode 12. 02. 2003

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgit Homburger, Dr. Christian Eberl, Daniel Bahr (Münster),
Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen, Ulrike Flach,
Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel
Happach-Kasan, Christoph Hartmann (Homburg), Klaus Haupt, Ulrich Heinrich,
Dr. Werner Hoyer, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Sibylle Laurischk, Harald
Leibrecht, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Eberhard
Otto (Godern), Detlef Parr, Gisela Piltz, Marita Sehn, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Dieter Thomae, Jürgen Türk,
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion der FDP

Chemikalienpolitik im „Jahr der Chemie“

In der Tradition naturwissenschaftlich themenbezogener Veranstaltungsreihen
vergangener Jahre haben das Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) sowie die vom BMBF, dem Stifterverband für die Deutsche Wissen-
schaft und den großen Forschungsorganisationen getragene Initiative „Wissen-
schaft im Dialog“ gemeinsam mit den Chemieorganisationen in Deutschland
das „Jahr der Chemie 2003“ initiiert. Die in diesem Rahmen avisierten Veran-
staltungen sind dem Ziel verpflichtet, den Dialog zwischen Wissenschaft und
interessierter Öffentlichkeit zu fördern. Auch mit Blick auf die Berufswahlent-
scheidungen junger Menschen sollen die aufzugreifenden Themen im Vergleich
zu den Vorjahren (Jahr der Physik 2000, Jahr der Lebenswissenschaften 2001
und Jahr der Geowissenschaften 2002) angesichts des breiten Spektrums che-
mienaher Berufe um die Bedeutung der Chemie als einem der wichtigsten Wirt-
schaftsfaktoren in Deutschland erweitert werden, zumal Deutschland in Europa
die mit Abstand größte Chemieindustrie besitzt und gut ein Viertel des Umsat-
zes mit chemischen Produkten in der EU von deutschen Unternehmen stammt.
Die Veranstaltungen zum „Jahr der Chemie“ gewinnen politische Relevanz u. a.
durch den Sachverhalt, dass die Bundesregierung sich im Frühjahr 2002 mit
dem Verband der Chemischen Industrie e. V. (VCI) und der Industriegewerk-
schaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) auf eine gemeinsame Position zu
dem im Februar 2001 vorgelegten Weißbuch der Europäischen Kommission
„Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik“ verständigt hat. Kernele-
ment des Weißbuchs ist die Einführung eines neuartigen Chemikalienkontroll-
systems, mit dem ein einheitlicher Ordnungsrahmen für Chemikalien geschaf-
fen werden soll. Die Vorlage eines entsprechenden Richtlinienentwurfs durch
die EU-Kommission wird für den Sommer 2003 erwartet.
In der „Gemeinsamen Position“ von Bundesregierung, VCI und IG BCE wird
u. a. die Notwendigkeit betont, günstige Rahmenbedingungen für die Innova-
tions- und Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie sicherzustellen. Die
in der Gemeinsamen Position aufgelisteten allgemeinen Erwägungen und Ziel-

Drucksache 15/445 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

vorstellungen sind aus der Sicht Betroffener offenbar wenig befriedigend, da
der VCI und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sich wenige
Monate später ungeachtet der Gemeinsamen Position veranlasst gesehen haben,
erneut öffentlich darauf hinzuweisen, dass das Weißbuch „mittelständische
Chemieunternehmen in ihrer Existenz“ bedrohe und geeignet sei, „Deutschland
in (die) Rezession zu stürzen“ (Pressemitteilungen jeweils vom 7. November
2002). Angesichts der Zielvorstellung der Bundesregierung, im „Jahr der Che-
mie“ auch deren Bedeutung als wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland
zu thematisieren, müssen auch die aktuellen Entwicklungen der Chemikalien-
politik in diesem Rahmen aufgegriffen werden.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die wirtschaftlichen Aus-

wirkungen neuerer Entwicklungen der EU-Chemikalienpolitik die Chemie
als wichtigen Wirtschaftsfaktor in Deutschland unmittelbar betreffen?

2. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die wirtschaftlichen Aus-
wirkungen neuerer Entwicklungen der EU-Chemikalienpolitik deshalb auch
im Rahmen der Veranstaltungen zum „Jahr der Chemie“ erörtert werden
sollten?

3. Wenn nein, weshalb nicht, und wenn ja, welche Vorstellungen hat die Bun-
desregierung dazu im Einzelnen entwickelt, welche konkreten Vorschläge
hat sie in diesem Sinne vorgelegt, welche Resonanz haben diese Vorschläge
im Kreis der anderen Initiatoren des Jahrs der Chemie ggf. gefunden und
welche Veranstaltungen sind zu diesem Themenbereich im Einzelnen ge-
plant?

4. Wie bewertet die Bundesregierung das gegenwärtige Sicherheitsmanage-
ment in der deutschen chemischen Industrie sowie in mittelständischen
Unternehmen der deutschen Chemiewirtschaft?

5. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die in Deutschland für
chemische Produktions- und Verarbeitungsbetriebe geltenden Sicherheits-
bestimmungen und -vorkehrungen im europäischen und internationalen Ver-
gleich besonders anspruchsvoll sind und insoweit als vorbildlich gelten
können?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die vorgenannte Sorge, dass die im Weiß-
buch vorgesehenen chemikalienrechtlichen Neuregelungen insbesondere
mittelständische Chemieunternehmen in ihrer Existenz bedrohe und in-
soweit die Gefahr bestehe, dass Unternehmen der deutschen Chemiewirt-
schaft ggf. eine Verlagerung ihrer Produktionsstätten an weniger intensiv
regulierte Standorte in Erwägung ziehen könnten aus wirtschafts- und aus
sicherheitspolitischer Perspektive?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Einschätzung, dass die im Weißbuch
vorgesehenen chemikalienrechtlichen Neuregelungen erheblichen büro-
kratischen Mehraufwand entstehen lassen, dem absehbar kein erheblicher
Zugewinn an Sicherheit bei der Herstellung chemischer Produkte gegen-
übersteht und welche Schlussfolgerungen leitet die Bundesregierung daraus
ab?

8. Wie bewertet die Bundesregierung den durch die im Weißbuch vorgese-
henen chemikalienrechtlichen Neuregelungen entstehenden bürokratischen
Mehraufwand, der aufgrund der Bewertung und Registrierung von Stoffen
und Zubereitungen entstehen wird, und wie gedenkt die Bundesregierung,
den in dieser Hinsicht drohenden Fehlentwicklungen entgegenzuwirken?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/445

9. Wie bewertet die Bundesregierung die von der deutschen (chemischen)
Industrie trotz der eingangs benannten „Gemeinsamen Position“ erneut
vorgetragene Sorge, dass
– einem von den genannten Verbänden in Auftrag gegebenen Fachgutach-

ten zufolge der deutschen Wirtschaft Arbeitsplatzverluste von bis zu
2,35 Millionen für den Fall drohen, dass die im Weißbuch vorgesehenen
Überregulierungen zur Grundlage eines neuen chemikalienrechtlichen
Regelwerks in Deutschland und Europa würden,

– Stoffe für spezielle und innovative Verwendungen durch die absehbaren
neuen Regelungen stark verteuert würden, so dass diese in Europa nicht
mehr hergestellt werden könnten oder importiert werden müssten,

– für Bereiche mit sehr kurzen Innovationszyklen, etwa im Elektronik-
bereich, es darauf ankomme, welche Zeitverzögerungen sich aus den
vorgesehenen neuen Verfahren beim Markteintritt neuer Produkte er-
gäben und dass die besonders bürokratischen Zulassungsverfahren für
hochkritische Stoffe ggf. wie eine zusätzliche Innovationsbremse
wirken würden,

– eine Pflicht zur weitgehenden Offenlegung von Informationen über die
Eigenschaften von Stoffen dort kritisch sei, wo es um Geschäfts- und
Betriebsgeheimnisse gehe,

– für die rund 1 750 mittelständischen Betriebe in der chemischen Indus-
trie in Deutschland, welche überwiegend als Weiterverarbeiter tätig
sind, aufgrund der Registrierkosten in Extremfällen bis zu zwei Dritteln
der Produkte unwirtschaftlich werden,

– durch die vorgesehenen chemikalienrechtlichen Neuregelungen 20 bis
40 Prozent der Chemikalien, deren Produktion sich auf weniger als 100
Tonnen pro Jahr summiert, aufgrund der hohen Registrierungskosten in
Deutschland unrentabel und vom deutschen bzw. europäischen Markt
verschwinden werden,

– mit Blick auf das geplante Transparenzgebot beispielsweise amerika-
nische und japanische Hersteller von Spezialchemikalien nicht bereit
sein würden, ihre Zubereitungen offen zu legen und deshalb mutmaßlich
auf eine Belieferung deutscher bzw. europäischer Unternehmen verzich-
ten würden, um ihr betriebliches Know-how nicht preiszugeben,

und wie gedenkt die Bundesregierung den genannten drohenden Fehlent-
wicklungen auf europäischer Ebene konkret entgegenzuwirken und welche
Erfolge wurden bei diesbezüglichen Bemühungen bisher erzielt?

10. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die vorgenannten Fragen
zur künftigen Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen chemi-
schen Industrie auch eine hohe Relevanz für Berufswahlentscheidungen
junger Menschen haben, welche sich für diese Branche interessieren?

11. Wenn nein, weshalb nicht, und wenn ja, welche Schlussfolgerungen leitet
die Bundesregierung daraus hinsichtlich der Themenbereiche ab, die im
Rahmen der Veranstaltungen zum „Jahr der Chemie“ zu diskutieren sind?

Berlin, den 11. Februar 2003
Birgit Homburger
Dr. Christian Eberl
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher

Drucksache 15/445 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Hans-Michael Goldmann
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann (Homburg)
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Gisela Piltz
Marita Sehn
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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