BT-Drucksache 15/4204

Flüchtlinge aus Tschetschenien

Vom 10. November 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4204
15. Wahlperiode 10. 11. 2004

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Harald Leibrecht, Rainer Funke, Daniel Bahr (Münster), Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Horst Friedrich
(Bayreuth), Dr. Christel Happach-Kasan, Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit
Homburger, Dr. Werner Hoyer, Gudrun Kopp, Sibylle Laurischk, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Jürgen Türk, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Flüchtlinge aus Tschetschenien

Infolge des Konflikts in Tschetschenien wächst der Strom von Flüchtlingen aus
dieser Region weiter an. Alleine nach Polen kommen pro Monat durchschnitt-
lich 400 tschetschenische Flüchtlinge, die vorwiegend in Aufnahmelagern an
der Grenze zu Weißrussland untergebracht werden. Durch die Flüchtlingsflut
sind die Aufnahmelager in Polen inzwischen überfüllt. Mehrere Tausend Flücht-
linge haben dort um Asyl gebeten. Mangels Finanzierung stehen in den polni-
schen Aufnahmelagern nicht genügend Unterbringungsplätze zur Verfügung
und die medizinische Betreuung ist nicht ausreichend. Aufgrund dieser Proble-
me bei der Unterbringung und in der medizinischen Versorgung häufen sich die
Versuche von Flüchtlingen, von Polen nach Deutschland oder Österreich zu ge-
langen. Polen wäre durchaus bereit, sich mehr für tschetschenische Flüchtlinge
einzusetzen und ihnen zu helfen, doch fühlt es sich von der EU im Stich gelas-
sen. ImHaager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der
Europäischen Union sind erste Schritte zur Einführung einer gemeinsamen Re-
gelung des Asyls, der Migration und der Grenzproblematik vorgesehen.
In Deutschland droht den tschetschenischen Flüchtlingen nach wie vor die Ab-
schiebung, obwohl sich die Lage in Tschetschenien nicht verbessert hat. Im Zeit-
raum von Januar 2004 bis August 2004 wurden in der Bundesrepublik Deutsch-
land Asylanträge von mindestens 409 Tschetschenen abgelehnt. Das Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge begründete seine Entscheidung
unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass sich Antragsteller ohne größere
Probleme langjährig in anderen Gebieten der Russischen Föderation aufhalten
konnten. Jedoch haben sich die Übergriffe auf Menschen tschetschenischer Her-
kunft dort innerhalb der letzten Monate, auch wegen der Terroranschläge in
Moskau und Beslan, verstärkt. Bei einer Abschiebung in eine andere Region der
Russischen Föderation erwarten die Flüchtlinge Diskriminierung, Schikane und
Demütigung. Sie werden als „Zwangsumsiedler“ nicht anerkannt. Diesen Status
benötigen die Flüchtlinge, um humanitäre Leistungen in Anspruch nehmen und
um sich an ihrem neuen Wohnort bei der Meldebehörde registrieren lassen zu
können. Ohne diese Registrierung sind diese Menschen von der Gesundheits-
versorgung, Bildung und Arbeit ausgeschlossen. Die Gesellschaft für bedrohte
Völker e.V. berichtete von Fällen, in denen von Deutschland abgeschobene

Drucksache 15/4204 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Tschetschenen nach ihrer Ankunft in Moskau verhaftet wurden und die seitdem
spurlos verschwunden sind.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie erklärt sich die Bundesregierung die Zunahme von Flüchtlingen aus der

Russischen Föderation nach Deutschland, obwohl „positive Folgen der
engagierten Reformpolitik für den Staatshaushalt und den Arbeitsmarkt in
Russland bereits sichtbar werden“, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder
anlässlich des Festaktes zum 150-jährigen Bestehen von Siemens in Russ-
land am 11. April 2003 erklärte?

2. Wie werden tschetschenische Flüchtlinge in Deutschland medizinisch und
psychologisch betreut?

3. Unter welchen Umständen erhalten Menschen tschetschenischer Herkunft
in Deutschland ein Bleiberecht, wenn sie in der Russischen Föderation von
tschetschenischen Separatisten bzw. von russischen Behörden diskriminiert,
schikaniert oder bedroht werden?

4. Wie hoch ist die Zahl tschetschenischer Flüchtlinge in der Bundesrepublik
Deutschland?

5. Bis zu welcher Höchstgrenze ist die Bundesregierung bereit, tschetscheni-
sche Flüchtlinge aufzunehmen?

6. Ist der Bundesregierung bekannt, über welche Grenzen und Wege tschet-
schenische Flüchtlinge nach Deutschland kommen?

7. Wie viele tschetschenische Flüchtlinge wurden in diesem Jahr an der
deutsch-polnischen Grenze aufgegriffen und wie wird mit diesen Menschen
verfahren?

8. Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen deutschen und polnischen Behör-
den aus, um einen illegalen Übergang von tschetschenischen Flüchtlingen
nach Deutschland zu unterbinden?

9. Wie sieht die Bundesregierung die humanitäre Situation, die Unterbringung
und die medizinische Versorgung für tschetschenische Flüchtlinge in polni-
schen Aufnahmelagern?

10. Worin unterscheiden sich die Vorschläge des Bundesministers des Innern,
Otto Schily, des österreichischen Innenministers Dr. Ernst Strasser und des
britischen Innenministers David Blunkett zur Schaffung von Aufnahmestel-
len für Flüchtlinge außerhalb der EU?

11. Gibt es von Seiten der Bundesregierung Informationen darüber, dass
Polen politischen Druck von Seiten Russlands bezüglich der Aufnahme
tschetschenischer Flüchtlinge bekommt?

12. In welcher finanziellen Höhe wird die Bundesregierung gemäß dem Haager
Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Euro-
päischen Union Polen bei der Betreuung tschetschenischer Flüchtlinge
unterstützen?

13. Welche Verbesserungen verspricht sich die Bundesregierung von der Um-
setzung des Haager Programms in Bezug auf die allgemeine Flüchtlings-
situation in Europa und in Bezug auf die illegale Einwanderung?

14. Was passiert nach Kenntnis der Bundesregierung mit den tschetschenischen
Flüchtlingen, die von Deutschland aus in die Russische Föderation abge-
schoben werden?

15. Hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, wie andere EU-Staaten mit
tschetschenischen Flüchtlingen verfahren, und wenn ja, welche?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4204

16. Gibt es Gespräche zwischen der Bundesregierung und Russland über die
tschetschenischen Flüchtlinge, und wenn ja, auf welcher Ebene finden diese
statt und was sind deren Ergebnisse?

17. Wie beabsichtigt die Bundesregierung, insbesondere das Bundesminis-
terium des Innern, mit dem tschetschenischen Vizepräsidenten Said
Abumuslimow, der Anfang des Jahres Asyl in Deutschland beantragt hat, zu
verfahren?

18. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Fälle es seit 1999 von Demü-
tigung, Diskriminierung und Verschleppung von Menschen mit tschetsche-
nischer Herkunft in der Russischen Föderation gegeben hat?

19. Bestehen Forderungen von Seiten Russlands gegenüber der Bundesregie-
rung wegen der Auslieferung von in Deutschland lebenden Tschetschenen,
und wenn ja, welche?

20. Unter welchen humanitären bzw. politischen Bedingungen können nach
Ansicht der Bundesregierung die tschetschenischen Flüchtlinge wieder in
ihre Heimat zurückkehren?

21. Wie weit ist innerhalb der Europäischen Union die Diskussion über einen
„Ring von sicheren Drittstaaten“ unter dem Gesichtspunkt der Rückführun-
gen fortgeschritten, und was bedeutet diese bezüglich des Umgangs mit
tschetschenischen Flüchtlingen?

Berlin, den 9. November 2004
Harald Leibrecht
Rainer Funke
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Christel Happach-Kasan
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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