BT-Drucksache 15/3949

Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei

Vom 19. Oktober 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3949
15. Wahlperiode 19. 10. 2004

Antrag
der AbgeordnetenDr.WolfgangSchäuble, Dr. Friedbert Pflüger, Peter Hintze, Peter
Altmaier, Veronika Bellmann, Dr. Wolfgang Bötsch, Anke Eymer (Lübeck), Erich G.
Fritz, Kurt-Dieter Grill, Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Olav Gutting,
Klaus-Jürgen Hedrich, Joachim Hörster, Volker Kauder, Gunther Krichbaum,
Patricia Lips, Dr. Gerd Müller, Claudia Nolte, Dr. Georg Nüßlein, Dr. Klaus Rose,
Albert Rupprecht (Weiden), Bernd Schmidbauer, Dr. Andreas Schockenhoff,
Thomas Silberhorn, Michael Stübgen, Dr. Hans-Peter Uhl, Matthias Wissmann
und der Fraktion der CDU/CSU

Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die Türkei

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Türkei hat in letzter Zeit im Lichte der beim EU-Gipfel von Kopenhagen
1993 für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen verbindlich festgelegten
Kriterien (Kopenhagener Kriterien) wichtige Fortschritte, insbesondere auf dem
Gebiet der Rechtssetzung gemacht. Jedoch steht vieles bislang nur auf dem
Papier. Deshalb muss die Türkei ihren Weg des Ausbaus der demokratischen
und rechtsstaatlichen Strukturen, der vollen Verwirklichung der Menschen- und
Minderheitenrechte und der Implementierung der hierzu nötigen Reformen kon-
sequent weitergehen. Dabei braucht die Türkei unsere tatkräftige Unterstützung.
Die zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Türken haben die deut-
sche Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur bereichert. Viele von ihnen sind deut-
sche Staatsbürger geworden. Der Deutsche Bundestag setzt sich mit Nachdruck
dafür ein, die weitere Integration der Türkinnen und Türken zu fördern, erwarten
umgekehrt von ihnen aber auch die Bereitschaft, sich zu integrieren.
Die Europäische Kommission hat in ihrem Bericht an den Europäischen Rat
vom 6. Oktober 2004 über die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien trotz be-
merkenswerter Zweifel empfohlen, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf-
zunehmen. Die geäußerten Zweifel spiegeln Bedenken wider, die im Deutschen
Bundestag erhoben worden sind. Dies stellt bereits einen Erfolg dar. Insbeson-
dere hat die Kommission die weitere Festigung und Ausdehnung von Gesetzge-
bung und Umsetzungsmaßnahmen angemahnt, vor allem bei der Bekämpfung
von Folter und Misshandlung, bei den Menschen- und Minderheitenrechten und
den Grundfreiheiten; sie hat periodische Überprüfungen der türkischen Reform-
anstrengungen vorgeschlagen und darauf hingewiesen, dass sich die Unumkehr-
barkeit des Reformprozesses über einen längeren Zeitraum bestätigen müsse; sie
hat für einige Bereiche wie die Strukturpolitiken und die Landwirtschaft Sonder-
regelungen, für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sogar unbefristete Schutz-
klauseln angeregt; und sie hat in ihre Empfehlung explizit aufgenommen, dass
„dies ein Prozess mit offenem Ende ist, dessen Ausgang sich nicht im Vorhinein

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garantieren lässt“. Zuletzt erinnert die Kommission ausdrücklich daran, dass die
möglichen Verhandlungen jederzeit ausgesetzt werden können, falls „eine ernst-
hafte und andauernde Verletzung der Prinzipien der Freiheit, der Demokratie,
der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und des Rechtsstaates“
festgestellt werden sollte.
Der Deutsche Bundestag ist der Ansicht, dass schon angesichts dieser Empfeh-
lung Beitrittsverhandlungen im bislang üblichen Verfahren nicht aufgenommen
werden können. Insbesondere kann der bisherige Automatismus, nach dem die
Aufnahme von Verhandlungen de facto einem Beitrittsversprechen gleichkam,
im Falle der Türkei nicht aufrecht gehalten werden.
Unbeschadet der Frage, ob die Türkei von sich aus die Kopenhagener Kriterien
erfüllt hat, muss die Frage eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union
ebenfalls im Zusammenhangmit den Vorstellungen zu einer politischen Identität
Europas gesehen werden, die die Unterstützung der Menschen gewinnt. Die Ar-
beiten des Europäischen Konvents und der Entwurf zu einem Europäischen Ver-
fassungsvertrag haben diese Fragen nicht abschließend geklärt. Insbesondere
muss sich die Europäische Union als handlungsfähige politische Einheit Klar-
heit über ihre Grenzen verschaffen und darüber, ob Länder, die nur teilweise zu
Europa gehören, uneingeschränkt Mitglied werden können. Die Nicht-Anerken-
nung Zyperns und die völkerrechtswidrige Besatzung Nordzyperns durch die
Türkei lassen bereits heute berechtigte Zweifel daran aufkommen, dass die
Europäische Union nach einer Vollmitgliedschaft der Türkei noch eine hand-
lungsfähige politische Einheit bleibt.
Zusätzlich ist zu beachten, dass die Umsetzung der gerade erst erfolgten Erwei-
terung um 10 neue Mitgliedstaaten und die beabsichtigte Erweiterung um drei
weitere von der EU für die nächsten Jahre einen mit den bisherigen Erweite-
rungsrunden unvergleichlichen Kraftakt verlangen wird. Zudem steht die Rati-
fizierung des Verfassungsvertrags durch alle Mitgliedstaaten und damit das
Inkrafttreten der erreichten notwendigen strukturellen Reformschritte noch aus.
Nicht zuletzt sind auch die Fragen der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben
in der erweiterten Union ab 2007 bislang noch nicht gelöst. Es besteht jetzt
schon die Gefahr der Überdehnung der EU und eines Verlustes an Integrations-
fähigkeit. Die zusätzlichen Auswirkungen einer Erweiterung um die Türkei, die
in absehbarer Zeit das bevölkerungsreichste Mitgliedsland würde und die als
EU-Mitglied einen erheblichen Teil der zur Verfügung stehenden europäischen
Fördermittel für seine wirtschaftliche Modernisierung beanspruchen würde,
sind derzeit noch kaum kalkulierbar.
In den Kopenhagener Kriterien vom 22. Juni 1993 heißt es nicht umsonst auch:
„Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoß-
kraft der europäischen Integration zu erhalten, stellt ebenfalls einen sowohl für
die Union als auch für die Beitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar“.
Angesichts der geschilderten Lage ist dieses Kriterium eindeutig nicht erfüllt.
Diese zentrale Forderung hat die EU-Kommission in ihrem Bericht vom 6. Ok-
tober 2004 nicht ausreichend berücksichtigt.
Vor diesem Hintergrund hält der Deutsche Bundestag die von der Bundesregie-
rung angestrebte Vollmitgliedschaft der Türkei für einen schwerwiegenden Feh-
ler.
Die Türkei ist ein bedeutender und verlässlicher Partner des Westens, ein wich-
tiges und verantwortungsbewusstes Mitglied der NATO und bereits eng mit der
Europäischen Union verbunden. Gleichzeitig ist sie eine wichtige Brücke zur
IslamischenWelt und zumNahen undMittleren Osten, wobei sie diese Funktion
möglicherweise besser wahrzunehmen vermag, wenn sie nicht als Vollmitglied
vollständig in die EU-Solidarität eingebunden undmit dieser identifiziert würde.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3949

Diese politischen Erwägungen sprechen dafür, dass in beiderseitigem Interesse
eine besondere, privilegierte Partnerschaft die geeignetste Form für die zukünf-
tigen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU ist.
Seitens der EU sollte aus diesen Gründen auf dem Gipfel im Dezember der Tür-
kei das Angebot einer privilegierten Partnerschaft mit der Europäischen Union
gemacht werden. Der Europäische Rat sollte der Europäischen Kommission den
Auftrag erteilen, in Kürze Möglichkeiten undWege zu präsentieren, wie ein sol-
ches besonderes Verhältnis der Türkei und anderer Länder zu Europa in eine an-
gemessene Form gebracht werden kann. Dabei können konzeptionelle Vorarbei-
ten aus den Reihen der EVP-Fraktion des Europäischen Parlaments entspre-
chend berücksichtigt werden.
Sollte der Europäische Rat im Dezember dennoch die Aufnahme von Verhand-
lungen beschließen, muss, wie bereits vor dem Gipfel von Kopenhagen im
Dezember 2002 seitens der Fraktion der CDU/CSU im Deutschen Bundestag
gefordert (Bundestagsdrucksache 15/126 vom 2. Dezember 2002) und wie nun-
mehr durch die Empfehlung der Kommission bestätigt, das Ergebnis dieser Ver-
handlungen ausdrücklich offen gehalten werden. Während der Verhandlungen
kann so im Einvernehmen mit der Türkei und in beiderseitigem Interesse geklärt
werden, wie das zukünftige Verhältnis zwischen der EU und der Türkei am bes-
ten und für beide Seiten vorteilhaftesten auszugestalten ist.

Vor diesem Hintergrund fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung
auf,
1. darauf hinzuwirken, dass beim im Dezember anstehenden EU-Gipfel das

Thema der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht iso-
liert, sondern im Lichte der Entwicklung der Europäischen Union hin zu einer
Politischen Union und im Zusammenhang mit einer plausiblen Finanzarchi-
tektur für eine um die Türkei erweiterte EU behandelt wird;

2. sich auf dem Europäischen Rat im Dezember für eine privilegierte Partner-
schaft anstelle einer EU-Vollmitgliedschaft einzusetzen;

3. für den Fall, dass der Europäische Rat die Aufnahme von Beitrittsverhand-
lungen dennoch beschließen sollte, sich bei den Partnern in der EU dafür ein-
zusetzen, dass diese Verhandlungen im Sinne der Empfehlung der EU-Kom-
mission ausdrücklich ergebnisoffen geführt werden und dabei als deutsches
Verhandlungsziel auch die Alternative einer besonderen, privilegierten Part-
nerschaft mit der Europäischen Union enthalten;

4. sich im Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass der Europäischen Kommis-
sion der Auftrag erteilt wird, in Kürze Möglichkeiten zu präsentieren, wie ein
solches besonderes Verhältnis der Türkei zu Europa angemessen formalisiert
werden kann.

Berlin, den 19. Oktober 2004
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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