BT-Drucksache 15/358

Das Sozialhilferecht gerechter gestalten - Hilfebedürftige Bürger effizienter fördern und fordern

Vom 29. Januar 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/358
15. Wahlperiode 29. 01. 2003

Antrag
der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr (Münster), Dr. Dieter Thomae,
Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Dr. Christian Eberl, Jörg van
Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke,
Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher,
Dr. Christel Happach-Kasan, Christoph Hartmann (Homburg), Klaus Haupt, Ulrich
Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin,
Sibylle Laurischk, Ina Lenke, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Gisela Piltz,
Dr. Andreas Pinkwart, Marita Sehn, Carl-Ludwig Thiele, Jürgen Türk, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Das Sozialhilferecht gerechter gestalten – Hilfebedürftige Bürger effizienter
fördern und fordern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Von rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfängern sind über 800 000 Menschen
grundsätzlich arbeitsfähig. Nach Angaben der Arbeitgeberverbände werden
insgesamt rund 1,5 Millionen offene Stellen angeboten, von denen etwa nur ein
Drittel den Arbeitsämtern gemeldet sind. Die Statistik der Bundesanstalt für
Arbeit zeigt, dass von den gemeldeten offenen Stellen knapp die Hälfte für
Nichtfacharbeiter und Angestellte mit einfachen Tätigkeiten ausgeschrieben
waren. Rechnet man die Zahlen hoch, wurden im Jahr 2000 mehr als 750 000
einfache qualifizierte Arbeitskräfte gesucht. Darüber hinaus besteht ein enor-
mes, bislang ungenutztes Beschäftigungspotential auch und gerade für gering
oder niedrig Qualifizierte im Bereich der personen- und haushaltsbezogenen
Dienstleistungen.
Angesichts dieser offensichtlichen Diskrepanz ist eine grundlegende Struktur-
reform der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unabweisbar. Denn die Ursachen
der anhaltenden Arbeitslosigkeit sind mehr struktureller, weniger zyklischer
Natur. Für die offensichtlichen Fehlanreize spielt die Sozialhilfe eine zentrale
Rolle, weil sie mit der Bestimmung des Mindesteinkommens bei Nichterwerbs-
tätigkeit implizit den Mindestlohn definiert: Sie stellt damit die Nahtstelle zwi-
schen dem Sozialsystem und dem Arbeitsmarkt dar.
Eine beschäftigungsorientierte Sozialpolitik, die sich vor allem auf die Gruppe
der geringer qualifizierten Arbeitnehmer und die Integration in den ersten
Arbeitsmarkt konzentriert, erfordert eine ebenso konsequente, wie differen-
zierte Reform der gesamten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

Drucksache 15/358 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Im Mittelpunkt muss stehen, die Anreize für Sozialhilfe empfangende Men-
schen zu erhöhen, um wieder in das Erwerbsleben zurückkehren zu können. Es
muss derjenige Hilfeempfänger, der eine Beschäftigung finden kann und arbei-
ten will, finanziell deutlich besser gestellt werden als derjenige, der sich nicht
um eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bemüht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der folgende Eckpunkte berücksichtigt:

1. Die Freibeträge in der Sozialhilfe sind zu erhöhen und die Anrechnungssätze
müssen langsamer ansteigen. Diese Maßnahmen sind temporär einzuräu-
men, um zu verhindern, dass Arbeitnehmer diskriminiert werden, die auch
ohne Sozialhilfe bereit sind zu arbeiten. Schließlich muss der Eingangs-
steuersatz bereits 2003 auf 15 Prozent gesenkt werden. Um den Arbeits-
anreiz für Mitglieder von mehrköpfigen Familien zu steigern, erscheint es
nahe liegend, Kindergeld und Sozialhilfesätze für Kinder anzugleichen –
etwa durch einen Kindergeldzuschlag, ebenso den Mietzuschuss und das
Wohngeld. Durch die in einem ersten Schritt zu einem Bürgergeldsystem
erfolgte teilweise Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Sozialleistungen
können bisher arbeitslose Leistungsempfänger trotz niedrigen Lohnes oder
geringer Stundenzahl ihr Auskommen sichern und gegenüber der Arbeits-
losigkeit oder Sozialhilfe verbessern.

2. In einem weiteren Schritt in Richtung auf ein Bürgergeldsystem muss die
Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zu einem System mit einer Leistung,
eingleisigen Verfahren und schlankerer Verwaltung zusammengefasst wer-
den. Gleichzeitig sollte mit dieser Reform ein dauerhafter föderaler Finanz-
ausgleich erfolgen: Von den durch den Wegfall der Arbeitslosenhilfe sowie
weiterer Personalkosten ersparten Leistungen muss der Bund den Kommu-
nen einen – je nach ihren Aufwendungen – jährlich im Voraus festgelegten
Betrag geben, so dass ein Budgetsystem mit dem Anreiz zum sparsamen
Haushalten geschaffen wird. Dieser, den Kommunen jährlich vom Bund zu
überweisende Pauschalbetrag, sollte sich an den Bundesausgaben für die
Arbeitslosenhilfe im letzten Jahr vor der Reform richten. Städte und Ge-
meinden können nicht verbrauchte Mittel, etwa weil sie besonders viele
Menschen vermittelt haben, behalten. Gleichzeitig müssen sie Unterdeckun-
gen aus ihren Haushalten begleichen.

3. Die organisatorische Verzahnung der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe soll
durch die Bildung einer gemeinsamen Anlaufstelle für Arbeitslose und
Sozialhilfeempfänger, so genannte „One-Stop-Career-Centers“, gewähr-
leistet werden, damit Beratung, gezieltere Unterstützung, medizinische
Dienste, individuelle Kontaktanbahnung mit Unternehmen, Computertrai-
ning sowie begleitende Qualifizierung bei der Arbeitssuche mit dem gebün-
delten Personal des sozialen Sicherungssystems, unterstützt von Sozialarbei-
tern und Psychologen und unter Einbeziehung von privaten Job-Vermittlern
sowie Zeitarbeit, in einem Haus stattfinden kann.

4. Das Gerechtigkeitsprinzip „Keine Leistung ohne grundsätzliche Bereitschaft
zur Gegenleistung“ muss deutlicher zur Geltung gebracht werden.
Die vorhandenen Sanktionsmechanismen müssen in Zukunft straffer und
stärker angewandt werden. Während bisher die Beweislast, dass ein Sozial-
hilfeempfänger entgegen seiner Behauptung arbeitsfähig ist, nach der Recht-
sprechung beim Sozialamt liegt, muss hier gelten: Es muss der Sozialhilfe-
empfänger darlegen, dass er nicht selbst seinen Lebensunterhalt bestreiten
kann, wenn er vom Staat und damit vom Steuerzahler Hilfe will. Nur bei
einem solchen Nachweis eigener Bemühungen zur Aufnahme von Arbeit be-
steht der Anspruch auf das so genannte sozio-kulturelle Existenzminimum,

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/358

also die Leistungen, die über das materielle Existenzminimum hinaus für die
Eingliederung des Bedürftigen in die Gesellschaft erforderlich sind. Ansons-
ten erfolgt eine Kürzung auf das materielle Existenzminimum, also die die
Existenz sichernden Leistungen wie Ernährung, Unterkunft, Kleidung und
Hausrat, § 12 BHSG.

5. Die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit ist besonders im Hin-
blick auf Sozialhilfe empfangende Alleinerziehende zu fördern und der Auf-
bau eines flächendeckenden kinder- und elterngerechten Angebotes an Kin-
dertageseinrichtungen in Kooperation mit den Ländern und Gemeinden zu
unterstützen. Dabei ist die ganze Vielfalt der familienergänzenden Formen
zur Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern anzustreben: Von Krip-
pen, Kindergärten, Horten, Tagespflege über verlässliche Schulzeiten, Ganz-
tagsschulen – mit all den unterschiedlichen privaten, staatlichen und freien
Trägern. Die sozialliberal geführte Landesregierung von Rheinland-Pfalz hat
ein vernünftiges, auf Freiwilligkeit beruhendes Ganztagsschulmodell einge-
führt. Gerade im Bereich der Ganztagsbetreuung sind sehr unterschiedliche
an die jeweiligen örtlichen Verhältnisse angepasste Konzeptionen denkbar
und wünschenswert.
Der Übergang von der Objekt- zur Subjektförderung bei Kleinkindern ist
durch die Einführung des so genannten KiTa-Gutschein-Modells zu fördern.
Dabei ist darauf zu achten, dass Kindergärten und vorschulische Einrichtun-
gen in die Lage versetzt werden, ihren besonderen pädagogischen Bildungs-
auftrag wahrzunehmen. Der Anspruch der Eltern auf eine solche Kinder-
betreuung wird bestätigt, ohne dass damit die Zuweisung eines konkreten
Platzes verbunden ist. Mit dem KiTa-Gutschein treten die Eltern am Markt
der Anbieter als Nachfrager auf und suchen sich die gewünschte Leistung
aus. Durch die mit dem KiTA-Gutschein verbundene Förderung von nicht-
staatlichen Kinderbetreuungsformen wie private Einrichtungen und Tages-
mütter bietet sich auch die Chance, Kinderbetreuungsangebote beispiels-
weise in ländlichen Regionen zu schaffen, wo die Kinderzahl die Gründung
eines Kindergartens nicht rechtfertigt, sehr wohl aber die Einrichtung einer
Tagesmuttergruppe.

Berlin, den 29. Januar 2003
Dr. Heinrich L. Kolb
Daniel Bahr
Dr. Dieter Thomae
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Dr. Christian Eberl
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann (Homburg)
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich

Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Ina Lenke
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Marita Sehn
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

Drucksache 15/358 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Begründung
Die Sozialhilfe muss so ausgestaltet werden, dass sie einerseits den tatsächlich
Bedürftigen ein Leben in Würde ermöglicht, andererseits aber zugleich die
Selbständigkeit aller Hilfeempfänger stärkt und den Leistungsmissbrauch ver-
meiden hilft. Bislang gibt das deutsche Sozialhilfesystem arbeitsfähigen Sozial-
hilfeempfängern zu wenig Anreize, in das Erwerbsleben zurückzukehren. Etwa
ein niedriger qualifizierter Sozialhilfeempfänger mit Kindern hat nicht nur kei-
nen wirtschaftlichen Grund zu arbeiten, er hat auch keine Chance, eine gering-
fügige oder Teilzeitbeschäftigung zu finden, bei der er zumindest dasselbe ver-
dient wie in der Sozialhilfe. Die subsidiäre Hilfegewährung darf nicht zu einer
„Kultur der Unselbständigkeit“ führen. Entscheidend muss der Anreiz sein,
wieder in das Erwerbsleben zurückzukehren, weil für die Betroffenen die
dauerhafte Erwerbslosigkeit zu einer sozialen Stigmatisierung führt.
Das Gerechtigkeitsprinzip in der Sozialpolitik „Keine Leistung ohne grundsätz-
liche Bereitschaft zur Gegenleistung“ ist noch deutlicher zur Geltung zu brin-
gen. Ein solches „Fördern und Fordern“ beinhaltet eine gegenseitige Verant-
wortung von öffentlicher Hand und Transferempfängern. Wenn jemand gesund
und arbeitsfähig ist und keine Kinder und pflegebedürftige Angehörigen zu
versorgen hat, dann ist es ihm zuzumuten, dass er für das, was er erhält, auch
eine Gegenleistung erbringt. Und wer dazu nicht bereit ist, obwohl er es kann,
bei dem müssen die steuerfinanzierten Sozialleistungen des Staates mit den
vorhandenen Sanktionsmöglichkeiten straffer und stärker gekürzt werden. Eine
grundlegende Sozialhilfereform muss helfen, Streuverluste und Leistungsmiss-
brauch in unserem Sozialstaat möglichst gering zu halten, denn die Schwarz-
arbeit steigt dramatisch. Eine solche Reform muss darauf hinwirken, die Eigen-
verantwortung und das Solidaritätsprinzip, welches im Kern ein Gegenseitig-
keitsprinzip ist, zu stärken.

Im Einzelnen
Zu 1
Warum lohnt es sich für viele der rund 800 000 arbeitsfähigen Sozialhilfeemp-
fänger nicht, eine Arbeit anzunehmen? Gerade bei niedrigem Einkommen ist
der Lohnabstand zu gering: Während das durchschnittlich verfügbare Monats-
einkommen – also nicht einmal die untere Lohn- und Gehaltsgruppe – eines
Paares mit einem Alleinverdiener und zwei Kindern einschließlich Kindergeld
rund 1 600 Euro (3 200 DM) beträgt, liegt das Transfereinkommen einer
Sozialhilfefamilie mit rund 1 470 Euro (2 940 DM) lediglich 130 Euro (260
DM) darunter. Hinzu kommt: Ein arbeitswilliger Sozialhilfeempfänger kann
höchstens die Hälfte des Regelsatzes mehr im Monat verdienen, wenn er arbei-
tet als wenn er nichts tut. Jeder Zuverdienst darüber hinaus wird ihm zu 100 %,
also voll, auf die Sozialhilfe angerechnet. Eine solche „Sozialhilfe-Falle“ be-
günstigt die Schwarzarbeit. Sie nimmt dem Einzelnen mit zunehmender Ver-
weildauer in der Arbeitslosigkeit jede Chance und Motivation, jemals wieder
auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Nicht zuletzt werden die öffent-
lichen Kassen von Bund, Ländern und Kommunen durch diese Praxis schwer
belastet. Dies ist weder im Interesse der arbeitsfähigen Hilfeempfänger, die so
zu einem Leben in Hilfsbedürftigkeit bestimmt werden, noch im Interesse einer
freiheitlichen Gesellschaft, die für die Eröffnung von Chancen und Teilhabe
steht.
Während die Sozialhilfe-Regelsätze für Kinder je nach Alter zwischen rund 137
Euro (275 DM) und 247 Euro (495 DM) liegen, beträgt der gesetzliche Kinder-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/358

geldsatz für das erste, zweite und dritte Kind 154 Euro und ab dem vierten Kind
179 Euro. Dies verringert faktisch den Lohnabstand zwischen Familien mit
Kindern, die Erwerbseinkommen erzielen und Familien mit Kindern, die
Sozialhilfe beziehen.

Zu 2.
Es gibt es keine überzeugende Begründung dafür, warum es in Deutschland
mehrere steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen für einen Tatbestand, nämlich den
der Arbeitslosigkeit, gibt. Während die Sozialämter Sozialhilfe in Höhe von
rund 23,3 Mrd. Euro an rund 2,7 Millionen Sozialhilfeempfänger leisten, zahlt
der Bund Arbeitslosenhilfe in Höhe von rund 12,5 Mrd. Euro an 1,5 Millionen
Empfänger. Allein die Verwaltung beider Sozialleistungen verbraucht jährlich
rund 3,5 Mrd. Euro. Bislang werden die Kosten wie auf Verschiebebahnhöfen
zwischen den Arbeitsämtern und den Kommunen hin- und hergeschoben. Das
Verfahren ist ineffektiv, für den Empfänger undurchsichtig und für den Steuer-
zahler zu teuer. Auch ist es für Betroffene unwürdig, zwei verschiedenen Be-
hörden für den gleichen Zweck jeweils ihre persönlichsten Daten offenbaren zu
müssen.

Zu 3.
Die materiellrechtliche Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
hängt zwingend von einer organisatorischen Zusammenarbeit von Arbeits-
ämtern und den Trägern der Sozialhilfe ab, wie sie in manchen kommunalen
Initiativen bereits Praxis ist. Die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt kann
so verbessert, Doppelarbeiten vermieden, Verwaltungsverfahren vereinfacht
und die damit gewonnenen Spielräume noch mehr für Beratung und Vermitt-
lung eingesetzt werden. Gleichzeitig sollte mit dieser Reform ein dauerhafter
föderaler Finanzausgleich erfolgen: Die durch den Wegfall der Arbeitslosen-
hilfe sowie weiterer Personalkosten ersparten Leistungen sollte der Bund den
Kommunen in einem – je nach ihren Aufwendungen – jährlich im Voraus fest-
gelegten Betrag zur Verfügung stellen, so dass ein Budgetsystem mit dem An-
reiz zum sparsamen Haushalten geschaffen wird. Dieser, den Kommunen jähr-
lich im Voraus vom Bund zu überweisende Pauschalbetrag, sollte sich an den
Bundesausgaben für die Arbeitslosenhilfe im letzten Jahr vor der Reform
richten. Städte und Gemeinden können nicht verbrauchte Mittel, etwa weil sie
besonders viele Menschen vermittelt haben, behalten. Gleichzeitig müssen sie
Unterdeckungen aus ihren Haushalten begleichen.

Zu 4.
Bereits nach geltendem Recht kann dem Sozialhilfeempfänger der Leistungsan-
spruch um 25 % gekürzt werden, wenn er eine zumutbare Arbeit nicht annimmt
bzw. sein Anspruch kann bei weiteren Verstößen auch ganz entfallen (§§ 18 bis
20, 25 BSHG). In der Praxis erwiesen sich diese Sanktionsmechanismen aller-
dings bislang als wenig effektiv und sehr aufwendig, diese auch „gerichtsfest“
zu gestalten. Zur Feststellung der Sachlage bedarf es im Einzelfall erheblichen
Prüfungsaufwandes. Die Ämter machen daher bei der Durchführung der vor-
handenen Sanktionsmöglichkeiten nur zurückhaltend Gebrauch.

Zu 5.
Unter den fast 2,7 Millionen Empfängern von laufender Hilfe zum Lebens-
unterhalt außerhalb von Einrichtungen waren im Jahr 2000 gut achthundertsieb-
zigtausend (870 000 (!)) Kinder unter 15 Jahren, das sind 32,5 % aller Sozial-
hilfeempfänger. Die zweithäufigste Haushaltsform, in der Empfänger von lau-
fender Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen leben, sind

Drucksache 15/358 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Haushalte von Alleinerziehenden. Alleinerziehende und ihre Kinder tragen das
höchste Risiko, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Diverse empirische Unter-
suchungen belegen, dass ein Großteil (bis zu 90 %) der nicht erwerbstätigen
allein erziehenden Mütter von betreuungsbedürftigen Kindern gerne erwerbs-
tätig sein wollen. Das Vorhandensein bedarfsgerechter Betreuungsangebote für
Kinder ist der Schlüssel für die Erwerbsbeteiligung gerade für Alleinerziehende
und damit der entscheidende Faktor für die sozioökonomische Situtation der
Mütter und ihrer Kinder.
Ein Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, das im Januar 2003 veröffentlicht wurde, gibt Ab-
schätzungen zu den (Brutto-)Einnahmeeffekten öffentlicher Haushalte und der
Sozialversicherungsträger beim Ausbau von Kindertageseinrichtungen: Wenn
dank eines bedarfsgerechten Ausbaus der familienergänzenden Kinderbetreu-
ung die sozialhilfebeziehenden allein erziehenden Mütter eine Erwerbstätigkeit
anstrebten und auch tatsächlich am Arbeitsmarkt aufgenommen würden, ergäbe
sich (auf Basis von Daten aus dem Jahr 1997) laut Gutachten ein mögliches
Einsparpotential von bis zu 1,5 Mrd. Euro jährlich für die Kommunen. Schon
pro 1 000 allein erziehender Mütter, die 1997 Sozialhilfe bezogen und die durch
eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung erwerbstätig werden könnten, könnten
die Sozialhilfeträger etwa 12,9 Mio. DM im Jahr einsparen.
Der Ausbau eines flächendeckenden kinder- und elterngerechten Angebotes zur
familienergänzenden Kinderbetreuung trägt zur Lösung mehrer Probleme bei:
Erstens ist dies ein Mittel, um Alleinerziehende und Kinder aus dem Sozial-
hilferisiko zu holen und ihre sozioökonomische Situation zu verbessern.
Zweitens entstehen Entlastungen durch Einsparungen im Sozialhilfebereich
und Einkommensteuereinnahmen und Beitragseinnahmen für die Sozial-
versicherungsträger, wenn die Erwerbswünsche von Müttern, die bisher an der
fehlenden Kinderbetreuung scheitern, realisiert werden.
Drittens dient ein quantitativ und qualitativ verbessertes Betreuungsangebot der
Chancengerechtigkeit und dem Wohl der Kinder: Kinderbetreuungseinrichtun-
gen können und müssen verstärkt Beiträge zur Bildung und Erziehung und zur
sozialen Integration von Kindern leisten. Es geht in der Kinderbetreuung um
frühzeitige qualitativ hochwertige Förderung u. a. der sprachlichen, sozialen
und emotionalen Kompetenzen, um Erziehung und Bildung, um Integration
von Kindern mit Migrationshintergrund oder mit Behinderungen, um Kompen-
sation von sozialen oder intellektuellen Benachteiligungen.

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