BT-Drucksache 15/3324

zu der Abgabe einer Regierungserklärung der Bundesregierung Eine neue Ernährungs-Bewegung für Deutschland

Vom 15. Juni 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3324
15. Wahlperiode 16. 06. 2004

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Otto Fricke,
Rainer Funke, Dr. KarlheinzGuttmacher, UlrichHeinrich, Dr.Werner Hoyer, Gudrun
Kopp, Jürgen Koppelin, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Dirk Niebel, Eberhard Otto (Godern), Cornelia Pieper, Dr. Max
Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Jürgen Türk, Dr. Volker Wissing,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung

Eine neue Ernährungs-Bewegung für Deutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „Diet, nutrition and the
prevention of chronic deseases“ aus dem Jahre 2003 hat zu einer breiten Dis-
kussion über Ernährungsfragen geführt. Auf der Basis dieses Berichts hat die
WHO auf ihrer Jahresversammlung am 22. Mai 2004 in Genf den Vorschlag
einer globalen Strategie zur Verringerung chronischer Erkrankungen wie Fett-
leibigkeit verabschiedet. Die Empfehlungen richten sich an die Mitgliedstaaten,
an nichtstaatliche Organisationen und an die Wirtschaft. Schätzungen der WHO
gehen davon aus, dass bereits 2040 in etwa die Hälfte der Bevölkerung in den
westlichen Industriestaaten krankhaft übergewichtig sein wird. In Deutschland
wird jedes fünfte Kind und jeder dritte Jugendliche als „zu dick“ eingestuft.
Ziel der WHO-Strategie ist es, den Trend der ständig steigenden Zahl chroni-
scher, ernährungsbedingter Erkrankungen zu stoppen. Dazu unterbreitet die
WHO konkrete Handlungsmaßnahmen:
– die Lebensmittelwirtschaft wird aufgefordert, mit ihren Produkten und ihrer

Werbung zu einer gesunden Ernährungsweise beizutragen. Dazu wird vor-
geschlagen, den Gehalt an Fett, Salz und Zucker in bereits bestehenden
Produkten zu reduzieren sowie dem Verbraucher Informationen für eine
informierte Entscheidung zur Verfügung zu stellen;

– alle gesellschaftlichen Gruppen bei der Förderung gesunder Ernährung und
Bewegung einzubeziehen;

– die Durchsetzung der Ziele erfolgt u. a. durch Steuern und Subventionen.
Adipöse Kinder und Jugendliche leiden nicht selten unter Erwachsenen-
Erkrankungen (z. B. Bandscheibenleiden, erhöhte Insulin- und Blutfettwerte,

Drucksache 15/3324 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Bluthochdruck, Diabetes), hinzu kommen psychosomatische Probleme, wie
Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, soziale Ablehnung, Hänseleien in der
Schule und ein geringes Selbstwertgefühl. Die Wissenschaft sieht multikausale
Faktoren als Ursachen von Übergewicht, wobei die Schwerpunkte zum einen in
der genetischen Disposition und zum anderen im sozio-ökonomischen Bereich
liegen. Das soziale Umfeld, die häusliche und familiäre Situation, ein niedriges
Einkommen sowie vielfach die hohe Abhängigkeit von staatlichen Transfer-
leistungen bei Arbeitslosigkeit und eine mangelhafte Bildung spielen für das
Vorkommen von Übergewicht die entscheidende Rolle. Diese Umstände führen
vielfach zu einem insgesamt gesundheitlich problematischen Lebensstil, der
sich vor allem auch in einer mangelnden körperlichen Bewegung im Kindes-
und Jugendalter zeigt. Damit einher geht oftmals ein an den verminderten Ener-
gieverbrauch nicht angepasstes Ernährungsverhalten, dass auch mitursächlich
für die Entstehung von Übergewicht sein kann. Dieses nicht angepasste Ernäh-
rungsverhalten stellt einen wesentlichen Faktor als Ursache von Übergewicht
dar. Das einzelne Lebensmittel spielt als solches keine Rolle. Es wäre wissen-
schaftlich nicht zulässig, einzelne Produkte aus der großen Angebotsvielfalt für
das Problem verantwortlich zu machen. Entscheidend ist vielmehr die Menge,
Auswahl und Kombination von Lebensmitteln.
Die modernen Lebensbedingungen haben zu einer Verringerung der körper-
lichen Aktivitäten geführt: Heute bewegen sich Erwachsene, Jugendliche und
Kinder im Alltag deutlich weniger als früher. Die Energieaufnahme hat sich
dieser Entwicklung nur unzureichend angepasst. Bei gleich bleibender Energie-
aufnahme führt dies zwangsläufig zu einem Ungleichgewicht zwischen Ener-
gieaufnahme und -verbrauch.
Bereits heute leisten die Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft mit einem
vermehrten Angebot an Kalorien reduzierten Produkten im Rahmen ihres Port-
folios, einer verstärkten Ernährungs- und Verbraucherinformation und einer
Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten zur Erforschung der Ursachen und
Möglichkeiten der Prävention von Übergewicht einen wichtigen Beitrag. Diese
Anstrengungen müssen konsequent fortgesetzt werden.
Zugleich wächst die Zahl der magersüchtigen Jugendlichen. Vor allem Mäd-
chen sind von Magersucht betroffen, doch ist auch die steigende Zahl mager-
süchtiger Jungen alarmierend. Schon in jungen Jahren werden Diäten durch-
geführt, die meist nicht auf wissenschaftlicher Basis entwickelt werden und für
den Nährstoffbedarf von Erwachsenen vorgesehen sind. Magersucht und Buli-
mie wie auch andere Essstörungen sind Ausdruck einer psychischen Erkran-
kung, die sich in einem krankhaft veränderten Ernährungsverhalten wie auch
eines gestörten Verhältnisses zum eigenen Körper niederschlägt. Erst in lang-
wierigen Therapien, die während der Schulbildung und der Teilnahme am Er-
werbsleben nur sehr eingeschränkt möglich sind, können die Betroffenen wie-
der ein normales Essverhalten erlernen.
Neben gesundheitsbezogenen Kosten, die durch Essstörungen wie Adipositas
oder Magersucht hervorgerufen werden, dürfen auch die volkswirtschaftlichen
Kosten nicht außer Betracht bleiben. Durch Gesundheitsschäden und psychi-
sche Probleme wird die Arbeitsleistung der Betroffenen erheblich gemindert.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,
– neben dem gesetzlichen Verbraucherschutz verstärkt auf Eigeninitiative,

Wettbewerb und Marktöffnung zu setzen. Das Urteilsvermögen informierter
Verbraucher, Transparenz und Produktvielfalt leisten einen entscheidenden
Beitrag zu einem effektiven Verbraucherschutz. Sachliche Information, Auf-
klärung und Wettbewerb sind die wesentlichen Elemente der Verbraucher-
politik;

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3324

– sich für eine grundlegende Überarbeitung der Vorschläge der EU-Kommis-
sion über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben und über den Zusatz
von Vitaminen und Mineralien einzusetzen. Deutschland muss auf nationale
Sonderwege verzichten. Notwendig ist eine einheitliche europäische Ver-
braucherpolitik mit Augenmaß, die eine gleiche Anwendung des euro-
päischen Verbraucherschutzrechtes in Europa gewährleistet;

– den eingeschlagenen Kurs der einseitigen politischen Steuerung des Kon-
sums zu beenden und zu korrigieren. Er führt zu einer Bevormundung der
Verbraucher und einer zusätzlichen Bürokratisierung des Wirtschaftslebens,
die die Unternehmen mit weiteren Kosten belastet. Dirigistische Eingriffe
des Staates in das Marktgeschehen, wie z. B. Werbeverbote, sind abzuleh-
nen. Selbstverpflichtungen der Industrie sind zu begrüßen. Pauschale Forde-
rungen der rot-grünen Bundesregierung zur Reduzierung des Gehaltes an
Fett, Salz und Zucker und hinsichtlich der Werbung oder bestimmter Ver-
marktungspraktiken insbesondere gegenüber Kindern sind abzulehnen;

– einem Fonds, in den die Lebensmittelwirtschaft einbezahlt, über dessen Ver-
wendung die Politik oder bestimmte gesellschaftliche Organisationen be-
stimmen sollen, eine Ablehnung zu erteilen. Das von der Bundesregierung
in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegte Verbraucherinformations-
gesetz schafft keine höhere Transparenz für die Verbraucher. Vielmehr ent-
stehen für die Unternehmen zusätzliche Kosten und Bürokratie. Entspre-
chende Initiativen sind daher abzulehnen;

– die Forschung zu den Ursachen der Entwicklung von Übergewicht zu inten-
sivieren und eine nationale Verzehrsstudie vorzulegen. Daraus ist eine ganz-
heitliche Strategie auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Bekämp-
fung von Übergewicht und Essstörungen insbesondere bei Kindern und
Jugendlichen zu entwickeln. Nur so kann man dem Thema Übergewicht als
einem multifaktoriellen Problem gerecht werden. Die betroffenen gesell-
schaftlichen Gruppen sind einzubinden;

– die Angebote an Familienbildung für eine gesunde Ernährung von Kindern
und Erwachsenen auszudehnen. Initiativen wie „5 am Tag“, an denen sich
gesellschaftliche Gruppen insbesondere die Träger von Bildungseinrichtun-
gen, der Handel, Krankenkassen und Landesregierungen beteiligen, sind zu
fördern und weiterzuführen;

– gemeinsam mit den Ländern Sorge zu tragen, dass das Informations- und
Bildungsangebot in Kindergärten und Schulen im Hinblick auf Ernährung,
Hauswirtschaft und Gesundheit verstärkt wird;

– die Rahmenbedingungen für Bewegungsmöglichkeiten von Kindern und
Jugendlichen gemeinsam mit den Ländern und Kommunen zu verbessern
sowie außerschulische Sportaktivitäten zu fördern. Damit soll die Bundes-
regierung der Erkenntnis Rechnung tragen, dass die Förderung der Sport-
vereine und ihrer Angebote insbesondere für Jugendliche nicht nur eine
überragende soziale und gesellschaftliche Funktion erfüllt, sondern auch
zu gesundem Bewegungsverhalten beiträgt. Kampagnen wie „Sport tut
Deutschland gut“ müssen auch in Zukunft besonders unterstützt werden.

III. Der Deutsche Bundestag appelliert an die Länder
– in den Schulen die Einhaltung der verbindlich vorgeschriebenen Anzahl von

Sportstunden sowie Sportförderunterricht für Kinder und Jugendliche mit
körperlichen Leistungsschwächen und sportmotorischen Defiziten in sinn-
voller Weise zu gewährleisten und die Erkenntnis umzusetzen, dass schuli-
sche Lernleistungen und auffälliges psycho-soziales Verhalten bei Schülern
oft sehr eng mit körperlichen Entwicklungsrückständen und motorischen
Defiziten korreliert;

Drucksache 15/3324 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
– beim Ausbau und Betrieb von Ganztagsschulen und Kindertagesstätten ge-
meinsam mit Kommunen für ein gesundes Verpflegungs- und zusätzliches
Bewegungsangebot Sorge zu tragen und insbesondere Kooperationen mit
Sportvereinen zu unterstützen.

Berlin, den 16. Juni 2004
Hans-Michael Goldmann
Dr. Christel Happach-Kasan
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Otto Fricke
Rainer Funke
Dr. Karlheinz Guttmacher
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Dirk Niebel
Eberhard Otto (Godern)
Cornelia Pieper
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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