BT-Drucksache 15/3019

Die Ukraine vor der Präsidentschaftswahl 2004

Vom 27. April 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3019
15. Wahlperiode 27. 04. 2004

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Claudia Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch,
Anke Eymer (Lübeck), ErichG. Fritz, Karl-Theodor Freiherr von und zuGuttenberg,
Klaus-Jürgen Hedrich, Siegfried Helias, Joachim Hörster, Ruprecht Polenz,
Dr. Klaus Rose, Volker Rühe, Bernd Schmidbauer, Dr. Andreas Schockenhoff,
Dr. Hans-Peter Uhl, Marco Wanderwitz, Willy Wimmer (Neuss) und der Fraktion
der CDU/CSU

Die Ukraine vor der Präsidentschaftswahl 2004

Die Ukraine befindet sich in einem komplizierten Transformationsprozess und
weist nur ein geringes soziales und wirtschaftliches Niveau auf. Der Human
Development Index für die Ukraine ist nach wie vor einer der niedrigsten in
Europa und liegt unterhalb des Niveaus, das vor der Unabhängigkeit des Lan-
des von der Sowjetunion bestanden hat. Oligarchen haben einen bestimmenden
Einfluss auf die Wirtschaftsstruktur.
In den letzten Jahren gab es nur geringe Fortschritte in der demokratischen,
staatlichen und zivilgesellschaftlichen Konsolidierung und Entwicklung. Die
Lage der Menschenrechte in der Ukraine ist Besorgnis erregend. Die Situation
in den Haftanstalten ist weiterhin schlecht, Folterungen und Misshandlungen
durch Polizeibeamte sowie Korruption und Einflussnahme auf das Handeln von
Verwaltungs- und Justizangestellten sind keine Ausnahme. Die Medien unter-
liegen einer starken staatlichen Einflussnahme durch die Präsidialverwaltung.
Auch privaten Medien werden Themen und Personen in Form von „Temniks“
zur Berichterstattung vorgegeben. Mehrfach wurden frei berichtende Medien
verboten oder geschlossen. Willkürliche Verhaftungsmaßnahmen, Drohungen
und Gewalt gegen Journalisten stehen auf der Tagesordnung. Das Internet kann
in den Regionen aufgrund weniger Zugangsmöglichkeiten zur freien Mei-
nungsbildung der Bevölkerung kaum wirken. Unter der schlechten wirtschaftli-
chen Situation haben insbesondere Frauen zu leiden, die auf der Suche nach Ar-
beit oft an Menschenhändlerbanden geraten, zur Prostitution gezwungen und in
andere europäische Länder verkauft werden.
Am 31. Oktober 2004 wird in der Ukraine zum vierten Mal seit ihrer Unabhän-
gigkeit im Jahre 1991 ein Staatspräsident gewählt. Nach Ergebnissen der
OSZE/ODIHR-Wahlbeobachtung zu den vorigen Präsidentschaftswahlen 1999
waren diese vor allem hinsichtlich der Kandidatenaufstellung bedenklich. Bei
der Stimmabgabe in der zweiten Wahlrunde kam es offensichtlich zu Einfluss-
nahme und mehrfachen Stimmabgaben. Schließlich wurde eine „chaotische“
Wahlauszählung festgestellt, in die sich Staatsangestellte in bedenklicher Weise
einmischten. Die Parlamentswahlen 2002 genügten nach dem entsprechenden
Bericht des ODIHR ebenfalls in mehrerer Hinsicht nicht den internationalen
Standards. Es wurde unter anderem festgestellt, dass staatliche Stellen Druck
auf Wähler ausgeübt hätten und dass die Wählerlisten teilweise nicht korrekt

Drucksache 15/3019 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

aufgestellt worden sein sollen. Auch soll von der Staatsführung für den Wahl-
kampf auf „administrative Ressourcen“, Mitarbeiter der regionalen Verwaltun-
gen, zurückgegriffen worden sein. Nach Presseberichten gab es auch bei einer
von Beobachtern als Testwahl eingeschätzten Bürgermeisterwahl im Ort Muka-
chevo am 18. April 2004 Unstimmigkeiten und administrative Probleme, die
sich nicht zuletzt im Diebstahl der Dokumente mit den Auszählungsergebnis-
sen und Protokollen der Wahlkommission äußerten. Die Erfahrungen mit
diesen Wahlen nähren Sorgen, dass es im Herbst nicht zu freien, fairen und
demokratischen Präsidentschaftswahlen kommt.
Die Ukraine ist ein potentiell reiches Land in Europa, das wirtschaftlich, kultu-
rell und historisch mit Deutschland und anderen Mitgliedsländern der EU ver-
bunden ist. Mit der Erweiterung des Binnenmarktes sind weiter steigende Ver-
flechtungen zu erwarten, die eine Verbesserung der Lage erforderlich machen.
Nach den USA und Kanada ist die Bundesrepublik Deutschland der größte
Geber bilateraler Hilfe seit 1993. Nach Russland ist Deutschland der wichtigste
Handelspartner der Ukraine. Die Exportquoten liegen zwar noch auf niedrigem
Niveau, weisen aber große Steigerungen auf und lassen damit auf eine weitere
positive Entwicklung hoffen. 38 Partnerschaften zwischen Gemeinden, Städten
und Landkreisen zeugen von einem umfangreichen zivilgesellschaftlichen Dia-
log. Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Tatsache, dass die EU ab 1. Mai
2004 eine Außengrenze mit der Ukraine hat, muss eine demokratische, rechts-
staatliche und marktwirtschaftliche Entwicklung der Ukraine Anliegen deut-
scher und europäischer Politik sein. Umso bedauerlicher ist es, dass das
TRANSFORM-Programm, mit dem die Bundesregierung den Transforma-
tionsprozess auch in der Ukraine mittels wichtiger Projekte unterstützt hat, in
diesem Jahr auslaufen wird. Wie dieser deutsche Beitrag zugunsten der Ukraine
fortgeführt werden kann, ist bisher nicht geklärt.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie beurteilt die Bundesregierung die demokratische, rechtsstaatliche und

marktwirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine während der Amtszeit des
Präsidenten Leonid Kutschma?
Teilt die Bundesregierung im Einzelnen die Auffassung, dass es in den letz-
ten Jahren nur geringe Fortschritte hinsichtlich der demokratischen, staat-
lichen und zivilgesellschaftlichen Konsolidierung und Entwicklung gab und
dass die Lage der Menschenrechte in der Ukraine Besorgnis erregend ist?
Wie bewertet sie die Situation in den Haftanstalten und Berichte von
Menschenrechtsorganisationen über Folterungen und Misshandlungen durch
Polizeibeamte sowie Korruption und verschiedentliche Einflussnahmen auf
das Handeln von Verwaltungs- und Justizangestellten?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung den Zustand der Meinungs- und Presse-
freiheit in der Ukraine?
Teilt sie die Auffassung, dass die Medien einer starken staatlichen Einfluss-
nahme unterliegen, die offenbar von der Präsidialverwaltung gesteuert wird,
und dass auch privaten Medien Themen und Personen zur Berichterstattung
vorgegeben werden, in mehreren Fällen frei berichtende Medien verboten
oder geschlossen wurden, willkürliche Verhaftungsmaßnahmen, Drohungen
und Gewalt gegen Journalisten auf der Tagesordnung stehen und das Inter-
net als freies Medium aufgrund geringer Zugangsmöglichkeiten in den Re-
gionen nicht wirken kann?
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, hier zu einer Verbesse-
rung der Lage beizutragen?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3019

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Stellung der Frauen
in der Ukraine?
Wie bewertet sie den hohen Anteil an ukrainischen Frauen, die Opfer von
Menschenhandel werden und welche Folgerungen zieht sie daraus für ihre
Politik?

4. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es bei der ukrainischen
Regierung und ihr nahe stehenden Oligarchen oder anderen Akteuren eine
zunehmende Bereitschaft gibt, demokratische und rechtsstaatliche Grund-
sätze zu verletzen?
Wenn ja, worauf lässt sich dieses zurückführen und wie wird die Bundesre-
gierung darauf reagieren?
Wenn nein, warum nicht?

5. In welcher Form und mit welchen inhaltlichen Aussagen hat die Bundesre-
gierung bei den Deutsch-Ukrainischen Regierungskonsultationen die Ent-
wicklungen hinsichtlich demokratischer Wahlen, Menschenrechten und
Medienfreiheit kritisiert?
Sind Veränderungen auf ukrainischer Seite mittels dieser Konsultationen
zu erwarten?

6. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Erfahrungen mit den
vorangegangenen Wahlen Sorgen nähren, dass es nicht zu freien, fairen
und demokratischen Präsidentschaftswahlen kommt?
Wenn nein, warum nicht?

7. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Zusicherung Präsident
Leonid Kutschmas, in der Ukraine mehr Wahlbeobachter als bei der letzten
Präsidentenwahl in Russland zuzulassen, eine ausreichende Garantie für
die Durchführung demokratischer Wahlen ist?
Falls nein, welche anderen oder weiteren Voraussetzungen sieht die Bun-
desregierung?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung aus den Abschlussberichten
der OSZE/ODIHR zu den Präsidentschaftswahlen 1999 und den Parla-
mentswahlen 2002 insbesondere hinsichtlich der Fairness im Wahlkampf
und in der Kandidatenaufstellung gezogen und wie versucht sie, Präsident
und Regierung der Ukraine für die Einhaltung der demokratischen Spiel-
regeln bei künftigen Wahlen zu gewinnen?

9. Unterstützt die Bundesregierung die Haltung der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarats, die Aussetzung der Mitgliedschaft der Ukraine
im Europarat zu prüfen, sofern im Oktober 2004 keine demokratischen
Wahlen stattfinden oder weiterhin versucht wird, verfassungswidrige Mit-
tel hinsichtlich der Gestaltung der Wahlen einzusetzen?
Wenn nein, warum nicht?

10. In welcher Weise bringt sich die Bundesregierung bei der Ausarbeitung des
EU-Aktionsplanes für die Ukraine im Rahmen des Nachbarschaftskon-
zeptes ein?
Welche Schwerpunkte sind aus der Sicht der Bundesregierung dabei zu set-
zen und wie berücksichtigt die Bundesregierung dabei die Entwicklung der
politischen und wirtschaftlichen Freiheiten in der Ukraine?

11. In welcher Form und mit welchen Handlungsempfehlungen wird die Bun-
desregierung die politische Entwicklung in der Ukraine auf den anstehen-
den G8-Treffen, bei EU-Gipfeln, im OSZE-Ministerrat und bei NATO-
Gipfeln thematisieren?

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12. Welche Rolle spielen nach Auffassung der Bundesregierung ausländische
Medien in ukrainischer Sprache für die freie öffentliche Meinungsäuße-
rung?

13. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass in den letzten
Monaten vermehrt staatliche Repressionen gegen diejenigen Medien unter-
nommen wurden, die westliche Programme ausstrahlten?

14. Kann die Bundesregierung die Einschätzung von Serhiy Sholokh, Chef der
Radiostation „Kontinent“, bestätigen, nach der Störsender in Kiew einge-
schaltet wurden, als das Programm einen Bericht der Deutschen Welle über
die Aussagen des ehemaligen Geheimdienstoffiziers Walerij Krawtschenko
über seine nachrichtendienstlichen Tätigkeiten in Deutschland im Auftrage
von Präsident Leonid Kutschma ausstrahlte?
Wenn nein, wie erklärt die Bundesregierung dann die obige Einschätzung
von Serhiy Sholokh?

15. Teilt die Bundesregierung die Auffassung eines Sprechers des US-Außen-
ministeriums, der die Schließung von Radio Kontinent als einen Angriff
auf die Demokratie wertete, der gerade im Wahljahr Anlass zu größter Be-
sorgnis gebe (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 6./7. März 2004)?
In welcher Form hat die Bundesregierung auf die Schließung von Radio
Kontinent reagiert und welche Verbesserungen zog dies nach sich?

16. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung unternommen bzw. wird sie
noch unternehmen, um von europäischer bzw. internationaler Seite stärker
Druck auf die Ukraine auszuüben, um den Mord an dem ukrainischen Jour-
nalisten Georgiy Gongadze aufzuklären?

17. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, dass der ukrainische Ge-
heimdienst (SBU) in der Vergangenheit seine Residenten an den diploma-
tischen Vertretungen im Ausland angewiesen hat, ukrainische Politiker
sowie ukrainische und ausländische Journalisten bespitzeln zu lassen?
Wenn ja, wie und mit welchen Folgen hat die Bundesregierung hierauf
reagiert und welche Maßnahmen werden folgen?

18. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse, dass aus diesen Maßnahmen
gewonnene Erkenntnisse des SBU im Rahmen der multilateralen Koopera-
tion mit anderen Nachrichtendiensten der GUS mit diesen geteilt wurden?

19. Welche Auswirkungen auf eine engere Zusammenarbeit mit der EU hat der
Beitritt der Ukraine zum einheitlichen Wirtschaftsraum mit der Russischen
Föderation, Kasachstan und Belarus?

20. Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um die Regierung
der Ukraine darin zu unterstützen, die Rechts- und Planungssicherheit für
ausländische Investoren zu erhöhen?

21. Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um das Problem der
ausbleibenden Mehrwertsteuererstattungen durch den ukrainischen Staat
an deutsche Unternehmen zu lösen?
Wann ist mit einer dauerhaften und für die deutschen Unternehmen an-
nehmbaren Lösung zu rechnen?

22. Welche Pläne hat die Bundesregierung zur Fortführung der Deutschen Be-
ratergruppe Wirtschaft bei der ukrainischen Regierung, deren Finanzierung
nur noch bis zur zweiten Jahreshälfte 2004 garantiert ist?

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23. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung hinsichtlich einer Freihan-
delszone zwischen der Ukraine und der EU ein, die nach dem Beitritt der
Ukraine zur Welthandelsorganisation (WTO) entsprechend dem Partner-
schafts- und Kooperationsabkommen angestrebt wird?

24. Wie ist der Stand der Verhandlungen über Rückführungen deutscher Kul-
turgüter aus der Ukraine, wer sind die Verhandlungspartner und wie gestal-
tet sich die diesbezügliche Zusammenarbeit?

25. Aufgrund welcher Einreisegenehmigungen konnten Präsident Leonid
Kutschma und seine ca. 15 bis 20 Begleitpersonen Ende Dezember 2003 zu
einem Kuraufenthalt nach Deutschland reisen?
Welcher Personenkreis hat an diesem Aufenthalt teilgenommen?
Wurde dieser Aufenthalt nach Erkenntnissen der Bundesregierung aus dem
ukrainischen Staatshaushalt oder von Privatpersonen finanziert?

26. In welchem Umfang und in welchen Sektoren fördern EU und Bundesre-
gierung entwicklungspolitische Beratungs- bzw. Finanzierungsprojekte in
der Ukraine?

27. Welche Auswirkungen könnte eine Verschärfung der demokratischen und
rechtsstaatlichen Defizite auf diese Zusammenarbeit haben?

28. Wie wird die Fortführung der Kooperationsvorhaben sichergestellt, die un-
ter dem Dach des in 2004 auslaufenden TRANSFORM-Programms finan-
ziert wurden und die sich als wertvoller Beitrag zum Transformations-
prozess der Ukraine bewährt haben?

29. Wie beurteilt die Bundesregierung die bisherigen Maßnahmen der ukraini-
schen Regierung, zur Lösung des Transnistrien-Konflikts beizutragen?

Berlin, den 26. April 2004
Claudia Nolte
Dr. Friedbert Pflüger
Dr. Wolfgang Bötsch
Anke Eymer (Lübeck)
Erich G. Fritz
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
Klaus-Jürgen Hedrich
Siegfried Helias
Joachim Hörster
Ruprecht Polenz
Dr. Klaus Rose
Volker Rühe
Bernd Schmidbauer
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Hans-Peter Uhl
Marco Wanderwitz
Willy Wimmer (Neuss)
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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