BT-Drucksache 15/2860

Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet

Vom 31. März 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2860
15. Wahlperiode 31. 03. 2004

Antrag
der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr (Münster),
Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen, Ulrike Flach,
Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen),
Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Sibylle Laurischk,
Harald Leibrecht, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Markus Löning,
Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Eberhard Otto (Godern), Cornelia Pieper,
Gisela Piltz, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Jürgen Türk, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Status des Kosovo als EU-Treuhandgebiet

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Eine langfristige Strategie für den Kosovo ist für die Stabilisierung der gesam-
ten Balkanregion unverzichtbar. Die von der Europäischen Union beschlossene
Sicherheitsstrategie betont das vitale Interesse der EU an der Nachbarschaft
stabiler, verantwortungsvoll regierter Staaten. Der Balkan ist ein Teil Europas,
deshalb steht Europa in der Pflicht zu einem verstärkten Engagement.
Nach der akuten Konfliktbeilegung 1999 durch die NATO-Intervention haben
die Vereinten Nationen (UN) die Verantwortung für die Krisenregion innerhalb
der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien übernommen. Die United Nations
Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) sollte die Grundlagen für
eine demokratische und multiethnische Zukunft des Kosovo legen. Gemäß der
UN-Sicherheitsratsresolution 1244 wird die Sicherheit im Kosovo durch die
NATO-geführte KFOR gewährleistet. Die UNMIK gliedert sich in vier Pfeiler,
die von Internationalen Organisationen getragen werden: Pfeiler 1, Polizei und
Justiz, sowie Pfeiler 2, Zivilverwaltung, wurden direkt von der UN übernom-
men. Die OSZE ist verantwortlich für den 3. Pfeiler, Institutionenentwicklung.
Die EU verantwortet im 4. Pfeiler den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Der end-
gültige völkerrechtliche Status des Kosovo bleibt offen. Die UNMIK soll laut
Sicherheitsratsresolution 1244 die Souveränität und territoriale Integrität der
Bundesrepublik Jugoslawien wahren, hat aber das Mandat, einen politischen
Prozess zu ermöglichen, der den zukünftigen Status bestimmen soll.
In den vergangenen Jahren hat die UNMIK im Kosovo in Teilbereichen wich-
tige Aufbauarbeit geleistet. Trotzdem entspricht die Lage immer noch in vielen
Bereichen nicht den Anforderungen der internationalen Gemeinschaft. Die
Spannungen zwischen Serben und Kosovo-Albanern sind nicht abgeflaut, Aus-
schreitungen und Übergriffe können nur durch direkte Intervention der KFOR
verhindert werden. Weder gibt es bei der Verwirklichung eines multiethnischen
Kosovo erkennbare Fortschritte, noch ist die dringend erforderliche wirtschaft-
liche Entwicklung in Gang gekommen.

Drucksache 15/2860 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ein besonderes Problem ist die Situation in den vorwiegend von Serben besie-
delten Gebieten im Kosovo. Diese Gebiete beteiligen sich nicht an dem Aufbau
gesamtkosovarischer Institutionen, sondern orientieren sich weiterhin an den
politischen und rechtlichen Strukturen in Serbien. Dies wird auch von Serbien
unterstützt. Die UNMIK hat in Teilen dieser Gebiete de facto kein Durchset-
zungsvermögen. Die Rückkehr von Flüchtlingen ist nahezu gestoppt. Stattdes-
sen verlassen zunehmend Serben und Angehörige anderer Minderheiten den
Kosovo, in dem sie ihren Schutz nicht ausreichend gewährleistet sehen.
Die internationale Verwaltung hat durch die Ausschreitungen vom 17. März
2004 erheblich an Glaubwürdigkeit und Vertrauen eingebüßt. Die bisherige
Strategie der UNMIK „Standards vor Status“ ohne politische Perspektive für
den Kosovo muss als gescheitert angesehen werden.
Deshalb muss jetzt in absehbarer Zeit eine solche langfristige politische Pers-
pektive eröffnet werden.
Dabei ist keine der bisher diskutierten Optionen in der aktuellen Situation ziel-
führend. Eine Rückführung des Kosovo unter serbische Souveränität ist für die
albanische Mehrheitsbevölkerung des Kosovo unannehmbar. Eine derartige
Statusregelung gegen den ausdrücklichen Willen der großen Bevölkerungs-
mehrheit ist nicht durchführbar. Serbien selbst würde dadurch vor unlösbare
politische und wirtschaftliche Probleme gestellt werden. Eine Spaltung des Ko-
sovo, bei der der vorwiegend serbisch besiedelte Norden Serbien zugesprochen
wird und der übrige Teil die Unabhängigkeit erhält, liegt weder im Interesse der
serbischen noch der albanischen Bevölkerung. Ohne eine Lösung für das Ge-
samtgebiet des Kosovo ist eine multiethnische Gesellschaft unmöglich. Denn
diese kann nur geschaffen werden, wenn die serbische Minderheit im Kosovo
eine Größe behält, die sie politisch handlungsfähig macht. Deshalb liegt es
auch im Interesse Serbiens, dass sich die serbische Bevölkerung im Kosovo in
die politischen und rechtlichen Strukturen des Kosovo integriert.
Eine sofortige Unabhängigkeit des gesamten Kosovo würde allerdings die Sta-
bilität der Region angesichts der unbefriedigenden Entwicklung im Kosovo
wesentlich beeinträchtigen. Schon allein die Auswirkungen auf Serbien, Alba-
nien und Mazedonien wären unübersehbar.
Deshalb plädiert der Deutsche Bundestag für einen Status des Kosovo als EU-
Treuhandgebiet. Dabei übernimmt die Europäische Union die Kompetenzen für
Außenvertretung und Verteidigung, während die Kosovaren mittelfristig
schrittweise die Verantwortung für die gesamte innere Verwaltung übernehmen.
Die Souveränität des Kosovo geht damit auf die EU über. Die sukzessive Über-
tragung von Kompetenzen an die politischen Organe des Kosovo erfolgt nach
Maßgabe der von der UNMIK entwickelten Standards. Die Bewertungsmaß-
stäbe der Standards sollten sich an den politischen Beitrittskriterien für die Eu-
ropäische Union orientieren.
Mit der Übernahme der UNMIK übernimmt die EU ebenfalls die Pfeiler 1 und
2. Die Verantwortung für Pfeiler 3 verbleibt bei der OSZE. Der Deutsche Bun-
destag fordert die Bundesregierung auf, sich in Kooperation mit den europäi-
schen und transatlantischen Partnern für eine Änderung der Sicherheitsratsreso-
lution 1244 einzusetzen, durch die die UN die Souveränität des Kosovo auf die
EU überträgt.
Solange eine militärische Präsenz zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Ko-
sovo notwendig ist, soll diese in der Verantwortung der NATO verbleiben. Die
KFOR muss in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben aus der UN-Resolution
1244, Schaffung eines sicheren Umfeldes für Flüchtlinge und Vertriebene, Ab-
schreckung von der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten und die Gewährleis-
tung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zu erfüllen. Die Verantwortli-
chen für Unruhen und Ausschreitungen müssen strafrechtlich verfolgt werden.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/2860

Noch im Kosovo vorhandene außergesetzliche bewaffnete Strukturen sind auf-
zulösen.
Der Deutsche Bundestag hält uneingeschränkt an dem Ziel eines ethnisch viel-
fältigen Kosovo fest. Deshalb bleibt die Schaffung gleicher Lebensbedingun-
gen für alle Ethnien im Kosovo vordringliche Aufgabe. Dazu kann in einem
ersten Schritt in einzelnen Schwerpunktregionen die Rückkehr von Vertriebe-
nen durch die Herstellung der notwendigen wirtschaftlichen, sozialen und si-
cherheitsrelevanten Mindestbedingungen einschließlich gesicherter Eigentums-
rechte gefördert werden. Die Standards dieser Regionen müssen dann auf den
gesamten Kosovo übertragen werden. Für auch dann nicht rückkehrwillige
Flüchtlinge ist die Notwendigkeit einer Integrationshilfe an ihrem Aufenthalts-
ort zu prüfen.
Das CARDS-Programm der EU muss von der Wiederaufbauhilfe umgeschich-
tet werden hin zu Wirtschaftsförderung und Institutionenaufbau. Dabei muss
dem Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe deutlich mehr Rechnung getragen werden.
Bei der noch ausstehenden Regelung der Zuordnung von Auslandsschulden
sowie der Aufteilung privatisierten gesellschaftlichen Eigentums sind die legi-
timen Interessen beider Seiten zu berücksichtigen und etwaige verbliebene
Ansprüche finanziell zu entschädigen.
Der Schutz historischer Kulturdenkmäler im Kosovo muss gesichert sein. Sie
sind nicht nur legitimer Ausdruck serbischer und kosovarischer Identität im
Kosovo, sondern auch europäisches Kulturerbe.
Durch diese Perspektive kann auch das Vertrauen der serbischen Minderheit im
Kosovo auf eine friedliche Entwicklung gestärkt werden. Zudem wird durch
die Regelung der Statusfrage auch der Dialog zwischen Serben und Kosovo-
Albanern erleichtert. Bisher leidet die Dialogfähigkeit beider Seiten daran, dass
Regelungen in einzelnen Sachfragen nur als Vorentscheidung für die Status-
frage betrachtet werden.
Gleichzeitig ist eine EU-Verwaltung besser in der Lage, im Rahmen des Sta-
bilitäts- und Assoziierungsprozesses eine Vernetzung von Hilfsprogrammen
im Kosovo mit der intraregionalen Kooperation zu erreichen.
Schon heute sind EU-Staaten und die EU im Kosovo entscheidende Akteure.
Mit der Übernahme der UNMIK durch die EU kann die EU direkt vor ihrer
Haustür zeigen, dass sie politisch handlungsfähig ist. Die Annäherung an die
EU ist das langfristige Ziel aller Länder dieser Region. Deshalb ist eine EU-
Verwaltung für den Kosovo die komplementäre Strategie für den Kosovo, wenn
sich die gesamten Nachbarstaaten im Rahmen des Thessaloniki-Prozesses der
EU annähern. Es hängt von den Anstrengungen der betroffenen Länder selbst
ab, in welcher Form und in welchem Tempo dieser Annäherungsprozess ver-
laufen kann. Dabei muss unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass
rückwärtsgewandte nationalistische Politik, die dem Europäischen Wertever-
ständnis nicht entspricht, den Weg nach Europa versperrt.

Berlin, den 30. März 2004
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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