BT-Drucksache 15/2697

Faire Chancen für jedes Kind - Für eine bessere Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an

Vom 11. März 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2697
15. Wahlperiode 11. 03. 2004

Antrag
der Abgeordneten Klaus Haupt, Ina Lenke, Cornelia Pieper, Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen, Ulrike Flach,
Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann,
JoachimGünther (Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Christel Happach-Kasan,
Christoph Hartmann (Homburg), Ulrich Heinrich, Dr. Werner Hoyer, Dr. Heinrich L.
Kolb, Gudrun Kopp, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Dirk Niebel, Günther
Friedrich Nolting, Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Dr. Günter Rexrodt,
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Faire Chancen für jedes Kind – Für eine bessere Bildung, Erziehung und
Betreuung von Anfang an

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege: Das Wohl des Kindes

steht im Mittelpunkt!
Die Vorgaben des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII/Kinder- und
Jugendhilfegesetz – KJHG) sind eindeutig: Alle so genannten Kindertagesein-
richtungen, also Kinderkrippen, Kindergärten, Kinderhorte, haben die Aufgabe,
durch Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes seine Entwicklung zur
eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern.
Die Förderung des Kindes steht im Mittelpunkt des staatlichen Auftrags – auch,
wenn im Gesetz gleichzeitig festgelegt ist, dass das Leistungsangebot der Ein-
richtungen sich pädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen der Kin-
der und ihrer Familien orientieren soll. Nach dem KJHG dient auch die
Betreuung des Kindes durch eine Tagesmutter oder einen Tagesvater, die so
genannte Tagespflege, zuallererst der Förderung der Entwicklung des Kindes.
Dies sind anspruchsvolle Grundsätze – zu Recht! Tageseinrichtungen und
Tagespflege dürfen keineswegs – wie manchmal kritisiert – der „Verwahrung“
von Kindern dienen. Aus den jüngsten internationalen Bildungsstudien wie
PISA und IGLU ist zu schließen, dass im Gegenteil der Bildungs- und Erzie-
hungsauftrag des Kindergartens in Deutschland deutlich fokussiert und besser
umgesetzt werden muss. Die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung belegen
zusätzlich die Bedeutung der ersten Lebensjahre und machen offensichtlich,
wie viel durch eine gute Förderung von Kleinkindern erreicht werden kann. Mit
der Forderung nach hohen pädagogischen Standards für Kindergärten geht es
nicht allein darum, kleinen Kindern mehr Wissen zu lehren. Gerade Kindern in
den ersten Lebensjahren kann man altersgerecht und spielerisch viel mehr ver-
mitteln als Wissen: Sprachfertigkeiten, Bewegungsfähigkeiten, Neugier, Lern-

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motivation, Leistungsbereitschaft, Selbstbewusstsein und -kontrolle, Interessen,
soziale Fähigkeiten und Werte.
Kindererziehung ist und bleibt dabei eine zentrale elterliche Aufgabe. Die Be-
deutung der Familie für das Kind und die erzieherischen Leistungen der aller-
meisten Familien sind ausgesprochen groß: Wissenschaftliche Untersuchungen
identifizieren die Familie als zentralen Lernort für Kinder, an dem Kompeten-
zen und Einstellungen vermittelt werden, die für das ganze weitere Leben wich-
tig und prägend sind. Erziehung muss sich an den Entwicklungsbedürfnissen
von Kindern und Jugendlichen orientieren und ihnen eine entwicklungsför-
dernde Unterstützung geben. Eckpfeiler einer solchen Erziehung sind emotio-
nale Wärme, Achtung, Respekt, kooperatives Verhalten, Struktur und Verbind-
lichkeit und eine allseitige Förderung des Kindes. Es gilt, Eltern in ihrer Erzie-
hungskompetenz zu stärken durch Angebote zur Schulung, Beratung und Be-
gleitung.
2. Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege: Vielfältiger Nutzen

entsteht für die Gesellschaft!
Die bildungspolitische Bedeutung vor allem des Kindergartens ist nicht zu leug-
nen. Das gesellschaftliche Bewusstsein dafür wächst, dass der Wirtschaftsstand-
ort Deutschland in hohem Maße auf die Bildung, Kreativität und Leistungs-
fähigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist. Bildung ist Bürger-
recht. Erziehung, Bildung und Ausbildung junger Menschen zählen zu den
vorrangigen Aufgaben der Gesellschaft; sie bestimmen entscheidend die Lebens-
chancen von jungen Menschen in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland.
Wir brauchen mehr Mittel für Bildung. Deutschland steht mit lediglich 5,3 Pro-
zent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung deutlich unter dem OECD-Durch-
schnitt von 5,5 Prozent. Wir müssen der Bildung und Ausbildung Prioritäten
einräumen. Der internationale Vergleich hat uns gezeigt, dass auch Kindertages-
stätten einen Beitrag zur besseren Qualifizierung unserer Kinder leisten müssen.
In unserer Gesellschaft müssen die Leistungen von Müttern und Vätern, die sich
ganz der Betreuung ihrer Kinder oder auch anderer Angehöriger widmen, stär-
ker anerkannt und gewürdigt werden. Sie erbringen Leistungen, die der gesam-
ten Gemeinschaft zugute kommen. Der volkswirtschaftliche Nutzen von Kin-
dertageseinrichtungen und Tagespflege wird ebenfalls unterschätzt. Erhebliche
Einnahme- und Einspareffekte für die öffentlichen Haushalte sind zu erwarten,
wenn erstens erwerbswilligeMütter dank einer besseren Kinderbetreuungsinfra-
struktur einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Zweitens werden im Bereich
der Kindertageseinrichtungen Arbeitsplätze geschaffen oder in der Tagespflege
selbständige Existenzen gegründet. Drittens können bisher auf Sozialhilfe ange-
wiesene Alleinerziehende ebenfalls bei besserer Kinderbetreuung erwerbstätig
sein. In Westdeutschland wünschen sich fast 70 Prozent der nichterwerbstätigen
Mütter mit Kindern bis zu 12 Jahren die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Sie
scheitern am mangelhaften Kinderbetreuungsangebot. Wenn wir Vereinbarkeit
von Familie und Erwerbsarbeit verbessern, können wir die Erwerbsquote von
Frauen erhöhen und durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Fami-
lien tendenziell positiv auf die Geburtenentwicklung einwirken. Die Erhöhung
der Frauenerwerbsquote wie eine positive Geburtenentwicklung haben unmit-
telbare Wirkung für die sozialen Sicherungssysteme. Schon allein eine Steige-
rung der Frauenerwerbsquote auf das Niveau unserer skandinavischen Nachbarn
würde die mit der demographischen Entwicklung verbundenen Finanzprobleme
in der umlagefinanzierten Rentenversicherung spürbar abschwächen.
Ganz konkret errechnet wurden jüngst in einer Studie der Prognos AG die be-
triebswirtschaftlichen Effekte familienfreundlicher Maßnahmen: Für Unterneh-
men rechnen sich familienfreundliche Maßnahmen. Kapital, das in die Einfüh-
rung familienfreundlicher Maßnahmen gesteckt wird, erbringt eine Rendite von

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durchschnittlich 25 Prozent. Das Verhältnis von realisierten Einsparungen und
Maßnahmenkosten zeigt somit, dass die familienfreundlichen Maßnahmen be-
triebswirtschaftlich sinnvoll – und keineswegs nur eine humanitäre Geste sind.
Gesellschaftspolitische Ziele werden ebenfalls mit einem Ausbau der Kinder-
tagesbetreuung befördert. Eltern müssen die Wahlfreiheit haben, über ihr Fami-
lienleben und ihre Kindererziehung selbst zu entscheiden. Traditionelle Leben-
sentwürfe von Familien verdienen die gleiche Anerkennung wie Familien, in
denen sich beide Partner oder ein allein erziehendes Elternteil für Karriere und
Kinder entscheiden. Das Kindeswohl kann auf verschiedene Weise in der Fami-
lie gefördert werden – wichtig ist, dass es gefördert wird. Eines der drama-
tischsten Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien ist in diesem Zusam-
menhang, dass es in Deutschland kaum gelingt, Benachteiligungen aufgrund
der sozialen Herkunft auszugleichen. Frühkindliche Bildung ist der entschei-
dende Faktor für die Chancengerechtigkeit am Start. Besonders die Kinder-
tagesbetreuung kann und muss daher die Chancengerechtigkeit und die soziale
Integration verbessern. Die Kinder haben ein Recht auf Förderung – und die
Gesellschaft kann es sich nicht leisten, die Potentiale der jungen Generationen
zu verschwenden.
Nicht zuletzt aus gleichstellungspolitischen Gründen wird eine deutlich verbes-
serte Infrastruktur zur Kinderbetreuung gefordert. Nach wie vor sind es vor
allem Frauen, die den Großteil der Familienarbeit leisten und als Mütter ihre Be-
rufstätigkeit einschränken oder unterbrechen. Zwar ist die Erwerbstätigenquote
der Frauen in Deutschland seit 1997 von 55,2 Prozent auf 57,7 Prozent im Jahr
2000 gestiegen. Allerdings arbeiten immer mehr Frauen Teilzeit, immer weni-
ger gehen einer Vollbeschäftigung nach. Nach internationalen Vergleichsstudien
gibt es in Deutschland die größte Diskrepanz zwischen gewünschtem und reali-
siertem Erwerbsumfang. Die Paare in Deutschland sind also mit ihrer häufig
traditionellen Arbeitsteilung, er im Beruf, sie bei Kind und Haushalt oder zu-
sätzlich teilzeitbeschäftigt, höchst unzufrieden. Auch für Männer müssen die
Chancen verbessert werden, sich trotz Karriere intensiver ihrer Familie widmen
zu können. Vor allem für Frauen sind die Folgen der Unvereinbarkeit derzeit
gravierend. Verschiedene Studien belegen: Die frauenspezifischen Erwerbs-
unterbrechungen und -reduzierungen verschlechtern deutlich die beruflichen
Entwicklungschancen. Teilzeitarbeit und familienbedingte Erwerbsunterbre-
chungen sind eine wichtige Ursache der großen Lohn- und Gehaltsdifferenzen
zwischen Männern und Frauen, der schlechteren Karriereentwicklungen von
Frauen und der daraus folgenden Nachteile von Frauen in der späteren Alters-
versorgung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
in Abstimmung und Kooperation mit den Ländern, den Spitzenverbänden von
Kommunen und der freien Wohlfahrtspflege sowie Expertinnen und Experten
aus der Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen auf einen quali-
tativen und quantitativen Ausbau der Systeme zu Bildung, Erziehung und
Betreuung von Kindern nach folgenden Maßgaben hinzuwirken:
1. Bessere Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder unter 3 Jahren!
l Im Hinblick auf die großen Defizite besonders in den alten Bundesländern

muss der quantitative Ausbau des Betreuungsangebotes für Kinder unter
3 Jahren dringend vorangetrieben werden.

l Auch für Kinder unter 3 Jahren müssen hohe Anforderungen an die pädago-
gische Qualität der Betreuung gestellt und die Förderung des Kindes in den
Mittelpunkt gestellt werden. Ganz besonders wichtig ist die Förderung von
Betreuungsplätzen für Kinder von 2 bis 3 Jahren. Denn in dieser Zeit, wenn

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kein Erziehungsgeld mehr gezahlt wird und noch kein gesetzlicher Kinder-
gartenanspruch besteht, gibt es für Eltern eine Lücke in der Förderung.

l Die Tagespflege, also die Betreuung von Kindern durch Tagesmütter und
-väter, wird bundesweit als qualitativ hochwertiges, zertifiziertes Kinder-
betreuungsangebot gleichrangig neben der so genannten institutionellen
Betreuung in Krippen in die staatliche Förderung einbezogen. Im Falle der
von der Bundesregierung angekündigten bundesgesetzlichen Regelung zur
Sicherstellung einer bedarfsgerechten Betreuungsquote für Kinder unter
3 Jahren von mindestens 20 Prozent ist die Tagespflege systematisch und
gleichrangig zu verankern.

l Es sind klare, einfache und unbürokratische steuer- und sozialversicherungs-
rechtliche Regelungen für Tagesmütter und -väter sowie für Eltern zu schaf-
fen. Es muss gewährleistet werden, dass diese bundeseinheitlich angewandt
werden.

l Notwendig sind eine gemeinsame Qualitätsentwicklung in der Tagespflege
und bundeseinheitliche Mindestvorgaben für die Qualität in der öffentlich
geförderten bzw. vermittelten Tagespflege. Eine Professionalisierung der Ta-
gespflege über Ausbildungs- und Supervisionsangebote muss in eine Zertifi-
zierung der Angebote münden.

l Es muss gesetzlich sichergestellt werden, dass bei einer eventuellen bundes-
rechtlichen Verankerung der Betreuungsquote für Kleinkinder die für deren
Umsetzung erforderlichen Finanzierungsmittel den Kommunen in voller
Höhe und dauerhaft zur Verfügung gestellt werden. In dem Fall wäre diese
Aufgabe bei der Neuregelung der Finanzen im Zuge der Förderalismusreform
zu berücksichtigen.

2. Von der Kindergartenmisere zu einem effektiven und effizienten System der
Elementarpädagogik!

l Für Kinder im Kindergartenalter ist das Angebot an Betreuungsplätzen vor
allem im Hinblick auf regionale Unterversorgungen auszubauen und ver-
stärkt zu Ganztagsangeboten mit Mittagsverpflegung auszuweiten. Die ver-
bleibenden Halbtagsbetreuungsangebote sollten bedarfsgerecht zu „vollen
Halbtagsplätzen“ erweitert werden, die auch Mittagessen beinhalten, damit
eine Halbtagsbeschäftigung für den erziehenden Elternteil möglich wird.

l Eine Flexibilisierung von Öffnungszeiten und das Öffnen der Kinderbe-
treuungseinrichtungen auch in Schulferienzeiten müssen bundesweit be-
darfsgerecht sichergestellt sein. Eltern, die in Schicht- oder Nachtdienst ar-
beiten, haben häufig Probleme, ihre Kinder entsprechend betreuen zu lassen.
Deshalb muss der Kindergarten – wie auch die „Startklasse“ (siehe unten) –
an den Bedürfnissen von Kindern und Eltern orientierte Öffnungszeiten ein-
richten.

l Im Sinne der Chancengleichheit und pädagogischer Erkenntnisse muss auch
und gerade frühkindliche Bildung (wie u. g.) kostenfrei sein und nicht erst
die schulische Bildung. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass endloses Studie-
ren kostenlos bleiben soll, aber die Gebühren für die Kindergärten explodie-
ren. Im Rahmen des bundesrechtlichen Rechtsanspruchs auf einen Kinder-
gartenplatz, halbtags zwischen dem 3. Lebensjahr und der Einschulung (bzw.
der Startklasse), soll Kinderbetreuung für Kinder und Eltern kostenlos sein.
Kostenlose Kindergärten werden gerade Kindern mit höherem Förderbedarf
und aus problematischen Familien zu Gute kommen. Derzeit besuchen Kin-
der aus sozial schwächeren Verhältnissen und Kinder mit einem Migrations-
hintergrund in geringer Zahl Kindertageseinrichtungen. Der Wegfall der Ein-
nahmen für den Halbtags-Kindergartenplatz und die damit verbundene zu-
sätzliche kommunale Aufgabe müssen bei der Neuregelung der Finanzen im

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Rahmen der Föderalismusreform angemessen berücksichtigt werden. Es
liegt in der Entscheidung von Ländern und Kommunen, die Kindergarten-
beiträge für die von Eltern über den Rechtsanspruch hinaus vereinbarten
Betreuungszeiten festzulegen. Damit können weiterhin Einnahmen für die
Kommunen erzeilt werden. Durch den (s. unten) geforderten Übergang zur
Subjektförderung mittels eines Gutscheinsystems oder durch Pro-Kopf-
Zuweisungen und durch die Privatisierung kommunaler Kinderbetreuungs-
einrichtungen sind zusätzlich mittelfristig mehr Wettbewerb, Qualität und
auch Kostenreduzierungen bei den Kindertageseinrichtungen zu erwarten.

l Bei der Kinderbetreuung muss der Übergang von einer Objekt- zu einer Sub-
jektförderung, d. h. von der Förderung der Einrichtungen hin zur Förderung
der Kinder erfolgen. Wichtig ist die gleichzeitige Förderung eines ausrei-
chenden Angebotes, weil ein solches System nicht bei einemMangel an Kin-
dergartenplätzen funktionieren kann. Dieser Systemwechsel wird durch Ein-
führung eines Bildungsgutscheins oder durch Pro-Kopf-Zuweisungen für
den Kindergartenplatz erreicht. Damit wird der Anspruch der Eltern auf eine
Kinderbetreuung bestätigt, ohne dass damit die Zuweisung eines konkreten
Platzes verbunden ist. Eltern suchen sich unter den Anbietern die gewünschte
Leistung aus. Dadurch werden alle Anbieter akkreditierter Betreuungs-
angebote in die staatliche Finanzierung einbezogen. Unter der Vorausset-
zung, dass ein angemessenes Angebot vorhanden ist, kann mit solch einem
System der Wettbewerb und die Qualität gesteigert werden. Mit diesem Ge-
danken verbunden ist die Förderung der Wahlfreiheit für Eltern und der insti-
tutionellen Vielfalt von kommunalen, privaten und betrieblichen Kindergär-
ten, Kindergärten in freier Trägerschaft, bis hin zu Tagesmüttern. Durch die
Stärkung der Nachfragemacht der Eltern werden die Interessen von Familien
besser durchzusetzen sein, beispielsweise flexiblere Betreuungszeiten und
Betreuung auch in Ferienzeiten.

l Die Privatisierung kommunaler Kindertageseinrichtungen sollte Ziel sein.
Neue Träger sollen dabei vor allem die Qualitätsstandards erfüllen, aber
auch Spielräume für neue Vielfalt, Kreativität und Kosteneinsparungen er-
halten und ausnutzen. Wichtig ist die Beseitigung bürokratischer Hemm-
nisse, die Entrümpelung kostentreibender Bauvorschriften für Kindertages-
einrichtungen und der Verzicht auf überholte und überzogene Regulierun-
gen, z. B. bei der räumlichen Ausstattung. Ziel ist die Schaffung eines neuen
Freiraums für Kommunen und die einzelnen Einrichtungen, um nach kon-
kreten Erfordernissen vor Ort zu entscheiden. Kommunen und andere Träger
von Betreuungseinrichtungen sind durchaus in der Lage, gemeinsam mit den
Eltern zu definieren, welche Standards in ihrer Gemeinde erforderlich sind
und wo Prioritäten gesetzt werden müssen.

l Bundesweit müssen nach Vorstellungen der FDP pädagogische Ziele und
Bildungsstandards für Tageseinrichtungen entwickelt und eingeführt wer-
den. Derzeit sind die Qualitätsunterschiede zwischen einzelnen Kindertages-
stätten sehr groß. Es geht nicht darum, die Vielfalt pädagogischer Ansätze
einzuschränken, sondern sicherzustellen, dass alle Kinder angemessen ge-
fördert werden, um sich positiv entfalten zu können. Das Bildungsver-
ständnis, das bei der Formulierung von Standards bzw. Programmen zu-
grunde gelegt wird, muss umfassend sein. Es gehören dazu Sprache, Kom-
munikation, soziale und kulturelle Fähigkeiten, mathematische und natur-
wissenschaftliche Grunderfahrungen, bildnerisches und musikalisches
Gestalten, Förderung von Bewegung und Gesundheit, Ethik und Werte. Be-
sonderes Augenmerk ist auf eine gender-sensible Pädagogik zu legen, die
auf die unterschiedlichen Lernweisen und Interessen von Mädchen und Jun-
gen adäquat eingeht. So sollen Jungen beispielsweise besser in ihren sprach-
lichen und sozialen Fähigkeiten und Mädchen in ihren naturwissenschaft-
lichen Fähigkeiten gefördert werden. Der frühkindlichen Bildung kommt

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darüber hinaus wie anderen Bildungsinstanzen die Aufgabe zu, gleichbe-
rechtigte Lebensmuster für Mädchen und Jungen zu vermitteln. Dazu ge-
hört, dass mehr Männer für dieses Arbeitsfeld gewonnen werden, damit Jun-
gen in Kindergärten männliche Identifikationsfiguren erleben.

l Die Qualitätssicherung soll durch ein System der Akkreditierung/Zertifizie-
rung von Tageseinrichtungen gewährleistet werden. Eine verstärkte Evalua-
tion der pädagogischen Arbeit und der Leistungsfähigkeit von Tageseinrich-
tungen ist nötig zur konsequenten Qualitätsentwicklung und -kontrolle.

l Die Ausbildung von Erzieherinnen muss auf hohem Niveau bundeseinheit-
lich konzeptionell und strukturell reformiert werden. Die Ausbildung muss
neben der bisherigen sozialpädagogischen Ausrichtung ein verstärktes bil-
dungspolitisches Paradigma enthalten. Mindestens die Leiterin einer Tages-
einrichtung sollte eine Ausbildung auf Fachhochschulniveau haben. Insge-
samt sollten gerade die pädagogischen Berufsbilder modularisiert und bun-
desweit anerkannt werden, um für unterschiedliche Tätigkeiten und auch
Personen mit unterschiedlichen Fähigkeiten oder sich verändernden beruf-
lichen Zielen langfristige Beschäftigungsperspektiven zu eröffnen. Zur Re-
form der Professionalisierung der heutigen Fachkräfte sind berufsbeglei-
tende Weiterbildungsprogramme zu entwickeln und anzubieten.

l Die besonderen Bedürfnisse von behinderten oder von Behinderung bedroh-
ten Kindern müssen gerade in Kindertageseinrichtungen angemessen berück-
sichtigt werden. Integration und das Vermeiden von Aussonderung und Aus-
grenzung sind die Ziele. Integrative Kindertageseinrichtungen müssen stär-
ker gefördert werden. Es gilt, in der frühkindlichen Bildung und Erziehung
die Stärken dieser Kinder zu identifizieren und an der Schwächung ihrer
Schwächen zu arbeiten.

l Die Integration von Migrantenkindern muss aktiv und systematisch geför-
dert werden. Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrations-
hintergrund ist dabei zugleich Herausforderung und Chance. Diese jungen
Menschen können Brücken und Vermittler zwischen den Kulturen bilden.
Die Vielfalt und Differenz, die sie in die Bildungsprozesse einbringen, kön-
nen bereichernd für alle sein. Voraussetzung ist aber, dass sie über umfas-
sende deutsche Sprachkompetenzen und Vertrautheit mit der deutschen Kul-
tur verfügen. Gerade die Kindertageseinrichtungen müssen in besonderem
Maße zur Integration von Migrantinnen und Migranten und zur Vermittlung
sprachlicher Kompetenz beitragen. Dabei ist genauso wichtig, dass Kinder
und Jugendliche ohne Migrationshintergrund lernen, mit Unterschiedlichkeit
tolerant und gewaltfrei umzugehen und interkulturelle Kompetenz erwer-
ben. Sinnvoll sind spezielle Angebote für Eltern von Migrantenkindern, die
deren Partizipation und Integration fördern.

l Wir müssen Erziehungs- und Bildungspartnerschaften zwischen Eltern und
Erzieherinnen und Erziehern etablieren. Um zum Wohle der Kinder eine
möglichst gute Erziehung und Bildung zu erreichen, ist die Zusammenarbeit
zwischen Familien und Betreuungseinrichtungen beziehungsweise Tages-
pflegepersonen zu stärken. Die Partner in der Kindererziehung und -bildung
sollten sich in einem dynamischen Kommunikationsprozess füreinander öff-
nen und ihre Ziele, Methoden und Bemühungen aufeinander abstimmen.
Anregung bieten z. B. Modelle aus den USA, wo Eltern sich aktiv in Kin-
dertageseinrichtungen einbringen und als Freiwillige beispielsweise Kinder
am Computer anleiten oder mit ihnen in einer Fremdsprache sprechen und
spielen. Die Kinder selbst dürfen in dieser Erziehungs- und Bildungspartner-
schaft nicht einfach nur Objekte der Vereinbarungen sein. Auch im Bereich
der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege soll
Ziel sein, besonders älteren Kindern angemessene Formen der Partizipation
– beispielsweise im Bereich Ganztagsschule/Hort – zu eröffnen.

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3. Für eine bessere Vorbereitung auf die Schule und bessere
Betreuungsangebote für Schulkinder!

l Es werden verbindliche Diagnosen mit Sprachstandserhebungen im Alter
von 4 oder 5 Jahren eingeführt. Diese Sprachtests ermöglichen es, sofortige
Maßnahmen einzuleiten, die dem Entwicklungsstand jedes Kindes gerecht
werden. Die Kinder, bei denen bei der Sprachstandserhebung erhebliche
Mängel festgestellt werden, erhalten parallel zur „Startklasse“ (s. u.) ge-
sonderten Sprachunterricht. Dadurch ist gesichert, dass auch diese Kinder
mit 6 Jahren in die Schule eintreten und dem Unterricht folgen können.

l Es wird der verbindliche Besuch einer Startklasse ab 5 Jahren für Kinder mit
entsprechender Reife festgelegt. Dieses Jahr vor der ersten Klasse, Start-
klasse genannt, mit klarem pädagogischem Auftrag soll für jedes Kind ver-
bindlich sein. Dabei geht es nicht darum, die Schule einfach nach vorne zu
verlagern oder den Kindergarten zu verschulen. Vielmehr sollen mit spieleri-
schen, aber zielorientierten, den Kindern angemessene Methoden das
Sprach- und das Zahlenverständnis gefördert, die soziale Kompetenz und
die Musikalität und Kreativität der Kinder entwickelt werden. Auch das
Wecken der Freude an der Bewegung und an sportlichem Spiel ist gerade in
unserer Zeit sehr wichtig.

l Begabte und reife Kinder sollen bei Einverständnis der Eltern unter „Über-
springen“ der Startklasse schon mit 5 Jahren in die Grundschule eingeschult
werden können.

l Der Ausbau der außerunterrichtlichen Betreuung von Schulkindern ist vor
allem im Westen Deutschlands erforderlich. Das geringe Angebot an Tages-
einrichtungen für Kinder im Schulalter wird nur selten durch eine ganz-
tägige Betreuung an Schulen aufgefangen. Wir brauchen daher zum einen
den Ausbau von Ganztagsschulen mit schlüssigen, anspruchsvollen pädago-
gischen Konzepten. Zum anderen gilt es, die Betreuung für Kinder in Halb-
tagsschulen auszubauen. Kindern müssen Angebote gemacht werden, die
ihre Interessen aufnehmen, ihre aktive Beteiligung ermöglichen, ihre Verant-
wortung fördern und fordern. Eine verstärkte Zusammenarbeit von Fami-
lien, Schulen sowie der Kinder- und Jugendhilfe ist generell zur Förderung
der Entwicklungschancen von Kindern dringend erforderlich. Wir brauchen
koordinierte, vielfältige Konzepte: gute Angebote an Hausaufgabenbe-
treuung, an Förderkursen auch für besonders Begabte, Arbeitsgemeinschaf-
ten in Musik, in Kunst, im Theaterspiel und in Sport. Schulen sollen sich
verstärkt in ihre Gemeinde hinein öffnen und sich mit Vereinen und anderen
Trägern der Kinder- und Jugendhilfe vernetzen. Gerade die Jugendarbeit ist
gut geeignet, politische und soziale Bildung zu vermitteln weil sie Gelegen-
heit gibt, bürgerschaftliches und soziales Engagement praktisch zu beweisen
und demokratische Beteiligung konkret wahrzunehmen.

Berlin, den 11. März 2004
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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