BT-Drucksache 15/2424

Grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfsmaßnahmen für Südosteuropa

Vom 28. Januar 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2424
15. Wahlperiode 28. 01. 2004

Antrag
der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen, Otto Fricke,
Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Joachim
Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger,
Dr. Werner Hoyer, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Sibylle Laurischk, Harald
Leibrecht, Ina Lenke, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Dr. Günter Rexrodt, Dr. Max
Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Wolfgang
Gerhardt und Fraktion der FDP

Grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfsmaßnahmen für Südosteuropa

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die politische Stabilisierung der Balkanregion bleibt eine Schwerpunktaufgabe
deutscher und europäischer Politik. Deutschland und die Europäische Union
haben in der Region bereits viel bewirkt. 7,7 Mrd. Euro sind von 1991 bis 2002
als humanitäre und Wiederaufbauhilfe von der EU in den Balkan geflossen.
Den Ländern des westlichen Balkans hat man klar die Möglichkeit eines EU-
Beitritts eingeräumt. Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess läuft. Ma-
zedonien und Kroatien haben Stabilisierungs- und Assozierungsabkommen
(SAA) abgeschlossen. Für Albanien und Bosnien-Herzegovina sind Durchführ-
barkeitsstudien für ein SAA angefertigt worden. Es ist geplant, ab 2005 die
Länder des westlichen Balkans an den Gemeinschaftsprogrammen ISPA und
SAPARD sowie teilweise PHARE zu beteiligen.
1999 ist der Stabilitätspakt für Südosteuropa als neues Instrument der präventi-
ven Krisenregulierung geschaffen worden. Er sollte sowohl zur Koordination
der weltweiten Hilfe für die Region dienen als auch zur Förderung der intrare-
gionalen Zusammenarbeit. Der Stabilitätspakt und das Ergebnis der Geberkon-
ferenzen waren ein beeindruckendes Zeichen der weltweiten Solidarität für den
krisengeschüttelten Balkan. Die Zusammenarbeit der südosteuropäischen Län-
der wurde durch die Konsultationen im Rahmen des Regionaltisches ausgebaut.
Ein sehr wichtiges Ergebnis dieser Zusammenarbeit sind die heute bestehenden
Freihandelsabkommen.
Die drei thematischen Arbeitstische befassen sich mit den Komplexen Demo-
kratie und Menschenrechte, Wirtschaftsaufbau sowie Sicherheit, Justiz und In-
neres. Eine Vielzahl von Projekten ist in den Nehmerländern durchgeführt wor-
den.
In den vier Jahren seit Bestehen des Stabilitätspaktes hat sich die Lage in den
westlichen Balkanländern sehr unterschiedlich entwickelt.

Drucksache 15/2424 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Kroatien hat die Transformation zu einem demokratischen Land erfolgreich ge-
schafft, auch wenn viele Probleme, wie z. B. die Rückkehr der serbischen
Flüchtlinge oder die Zusammenarbeit mit dem internationalen Kriegsverbre-
chertribunal in Den Haag, noch weitere Anstrengungen erfordern. Wenn Kroa-
tien den Status eines Beitrittskandidaten erhält, sollte die Unterstützung aus-
schließlich im Rahmen der Vorbeitrittshilfen erfolgen.
In Mazedonien ist die Gefahr ethnischer Spannungen nicht grundlegend besei-
tigt.
Albanien hat große Probleme bei der Korruptionsbekämpfung und bei der Um-
setzung von rechtsstaatlichen Strukturen.
Die Föderation von Serbien und Montenegro ist politisch instabil. Dies kann zu
neuen Spannungen führen.
Im Kosovo ist KFOR für die regionale Stabilität nach wie vor unverzichtbar.
Die noch offene Statusfrage wird zunehmend zum Hindernis für die weitere po-
litische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.
In Bosnien und Herzegovina sind die beiden Entitäten kaum bereit zusammen-
zuarbeiten. Es gibt nach wie vor Anschläge, die Rückkehr der Flüchtlinge ver-
läuft nur stockend.
Die Republik Moldau ist kaum in die Arbeit des Stabilitätspaktes eingebunden.
Als einziges Land Südosteuropas hat es bislang keine EU-Beitrittsperspektive.
Bei der überwiegenden Zahl der Wahlen in den vergangenen Jahren in der Re-
gion haben nationalistische oder rückwärtsgewandte Kräfte Stimmengewinne
erzielen können. Das darf Europa nicht gleichgültig sein. Deshalb müssen nun
der Rhetorik des Europäischen Rates in Thessaloniki zur Bündelung aller An-
strengungen auch Taten folgen.
Hauptgrund der Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist heute die miserable
Wirtschaftslage. Die Menschen in den Ländern des westlichen Balkans sehen
für sich keine Perspektive. Viele qualifizierte junge Menschen drängen ins Aus-
land. Die Arbeitslosigkeit beträgt gebietsweise über 50 Prozent. Ohne eine
wirtschaftliche Entwicklung der Region wird sich die Bevölkerung dort nicht
dauerhaft für Demokratie und Rechtstaatlichkeit gewinnen lassen. Deshalb
muss die Hilfe zukünftig hauptsächlich auf die Wirtschaftsförderung ein-
schließlich rechtlicher, institutioneller und infrastruktureller Rahmenbedingun-
gen ausgerichtet werden.
Einige der im Kölner Gründungsdokument des Stabilitätspaktes übernomme-
nen Verpflichtungen sind nicht in die Realität umgesetzt worden. Die Bevölke-
rung vor Ort ist lediglich Empfänger der Hilfsmaßnahmen, aber nicht Akteur
im Stabilitätspakt. Die sehr bürokratischen und intransparenten Förderungsmo-
dalitäten machen es lokalen Gruppen faktisch unmöglich, Projektmittel erfolg-
reich zu beantragen. Dies führt dazu, dass hauptsächlich internationale Nichtre-
gierungsorganisationen und internationale Organisationen Projekte durchfüh-
ren. Der ursprünglich angestrebte Aufbau einer eigenverantwortlich agierenden
Zivilgesellschaft wird damit nicht erreicht. Die Umsetzung der Projekte ist oft-
mals nicht straff genug organisiert und dauert deshalb zu lange. Die Koordinie-
rung der Projekte erweist sich als sehr problematisch. Jedes einzelne Geberland
entscheidet letztendlich unabhängig von Absprachen mit den anderen Geber-
ländern und den jeweiligen Institutionen, welche Projekte von ihm gefördert
werden. Keine Institution und auch nicht der Koordinator des Stabilitätspaktes
hat die Befugnis, dem Pakt eine Ausrichtung zu geben. Der Koordinator des
Stabilitätspaktes kann zwar Prioritäten für ein Jahr vorschlagen, aber nicht
sicherstellen, dass diese Prioritäten von den Geberländern auch eingehalten
werden. Vor allem ist er nicht befugt, zu bestimmen, welche Projekte sinnvoll

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sind. Das Monitoring laufender Projekte und der Review erfolgter Projekte sind
unzulänglich.
Es existiert keine eindeutige Arbeitsteilung zwischen den in der Region tätigen
Internationalen Organisationen und den Strukturen des Stabilitätspaktes. Da
sich auch die Koordination mit den EU-Institutionen als vollkommen unzurei-
chend herausgestellt hat, wurde eigens dafür das Informal Consultative Com-
mittee (ICC) gegründet. Ein weiteres Gremium in der ohnehin schon sehr kom-
plexen und bürokratischen Stabilitätspaktorganisation.
Die zu komplexe und bürokratische Organisation des Stabilitätspaktes, ohne
eindeutige Kompetenzverteilung, verhindert eine klare Wahrnehmung seiner
Tätigkeit in der Bevölkerung Südosteuropas. Nach NGO-Berichten kennt nur
eine kleine Minderheit die Arbeit des Paktes. Die so genannte Baustellenpoli-
tik, wie es der erste Sonderkoordinator Bodo Hombach formuliert hat, hat ihre
Zielsetzung verfehlt. Die Menschen in Südosteuropa müssen aber spüren, dass
der Balkan trotz Afghanistan und dem Irak nicht aus dem Blickfeld der Weltge-
meinschaft gerückt ist.
Aufgrund dieser Entwicklungen müssen Strukturen und Ziele der Hilfsmaßnah-
men neu ausgerichtet werden. Eine effiziente Mittelverwendung wird nicht
möglich sein, wenn die Geberländer weiterhin daran festhalten, über die Mittel-
vergabe selbständig zu entscheiden. Die Geberländer der Europäischen Union
sollten diese Kompetenz an die Europäische Agentur für Wiederaufbau abge-
ben, so dass gerade die Europäische Union in Südosteuropa deutlicher sichtbar
wird. Die Europäische Agentur für Wiederaufbau verwaltet bislang die EU-
Hilfsmaßnahmen insbesondere das CARDS-Programm nur für Serbien-Monte-
negro (inklusive dem Kosovo) und Mazedonien. Die Arbeit der Agentur wird
länderübergreifend als sehr erfolgreich bewertet. Da die Arbeit der Agentur da-
mit über reinen Wiederaufbau hinausgeht, ist eine Namensänderung empfeh-
lenswert.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
sich dafür einzusetzen, dass
1. die Verwaltung und Umsetzung der Hilfsmaßnahmen der EU und der EU-

Mitgliedstaaten, die bisher im Rahmen des Stabilitätspaktes erfolgt sind,
ausschließlich einer reformierten und gestärkten Europäischen Agentur für
Wiederaufbau in Thessaloniki übertragen werden;

2. die Geberländer einheitliche Förderkriterien für die Vergabe der Mittel ent-
wickeln;

3. die Europäische Agentur fürWiederaufbau auch die CARDS-Programme der
EU für die Länder Kroatien, Bosnien-Herzegovina und Albanien verwaltet;

4. die europäische Agentur für Wiederaufbau zu diesem Zweck zusätzliche
Operationszentralen in Zagreb (Kroatien), Sarajevo (Bosnien-Herzegovina)
und Tirana (Albanien) einrichtet und entsprechend die Größe der EU-Dele-
gationen in diesen Ländern verringert wird;

5. der Regionaltisch des Stabilitätspaktes unter dem Vorsitz des Sonderkoordi-
nators erhalten bleibt und sich mit allen relevanten Fragen der regionalen
Zusammenarbeit der Länder Südosteuropas beschäftigt;

6. das Büro des Sonderkoordinators in Brüssel, die hochrangige Lenkungs-
gruppe und die drei Arbeitstische inklusive ihrer Arbeitskreise aufgelöst
werden;

7. der Schwerpunkt der Hilfsmaßnahmen in Zukunft auf die Wirtschaftsför-
derung und die Entwicklung einer selbsttragenden Wirtschaftsstruktur ein-
schließlich dem Aufbau der dafür notwendigen demokratischen und rechts-
staatlichen Institutionen gelegt wird;

Drucksache 15/2424 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
8. nationale Partnerschaftsprogramme zur Heranführung an die Europäische
Union nach dem Vorbild entsprechender Partnerschaften bei der EU-Oster-
weiterung mit den Ländern Südosteuropas erweitert werden;

9. bei allen Hilfsmaßnahmen die Eigenverantwortung des jeweiligen Empfän-
gerlandes verstärkt hervorgehoben wird;

10. die Nicht-EU-Staaten unter den Geberländern eingeladen werden, ihre Pro-
jekte ebenfalls über die Europäische Agentur für Wiederaufbau abwickeln
zu lassen und die internationalen Organisationen zu einer engen Koopera-
tion mit der Europäischen Agentur für Wiederaufbau eingeladen werden;

11. auch der Republik Moldau die grundsätzliche Möglichkeit eines EU-Bei-
trittes eingeräumt wird.

Berlin, den 22. Januar 2004
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

Begründung
Die bisherige Koordination der Geberländer des Stabilitätspaktes ist mangel-
haft. Es ist zwar bekannt, welche Länder welche Summen auf den Geberkonfe-
renzen zusagen, doch wissen die Geberländer untereinander nicht, welche
Summen letztendlich wirklich fließen und welche Projekte davon genau finan-
ziert werden, wie die Beantwortung der schriftlichen Fragen an die Bundesre-
gierung vom 14. November 2003 (Bundestagsdrucksache 15/2022) zeigt.
Die Mittelvergabe und Projektabwicklung sollte sich an der bewährten Praxis
orientieren, die auch einzelne Staaten gebrauchen. In allen großen Geberlän-
dern wird Entwicklungshilfe über Agenturen wie z. B. USAID in den USA
oder die deutsche GTZ abgewickelt, nicht jedoch direkt von der Ministerialbü-
rokratie. Dies sollte auch für die Europäische Union gelten. Nur die EU über-
trägt die konkrete Projektabwicklung an beamtete Mitglieder der Kommissi-
onsverwaltung. Dies schränkt die Flexibilität und Effizienz erheblich ein. Die-
ses Problem wird auch nicht durch die Einrichtung von EU-Delegationen ge-
löst, mit denen die EU versucht hat, Projekte schneller und ortsnäher zu
implementieren. Zudem werden überregionale Projekte nach wie vor von Brüs-
sel aus verwaltet.
Die Europäische Agentur für Wiederaufbau kann demgegenüber mit flexiblen
Strukturen und Projektmitarbeitern schnell auf Probleme und Anpassungsbe-
darf reagieren.

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