BT-Drucksache 15/224

GATS-Verhandlungen - Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern

Vom 18. Dezember 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 15/224
15. Wahlperiode 18. 12. 2002

Antrag
der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Jörg Tauss,
Monika Griefahn, Eckhardt Barthel (Berlin), Klaus Barthel (Starnberg), Ute Berg,
Willi Brase, Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, Ulrich Kasparick, Nicolette
Kressl, Angelika Krüger-Leißner, Horst Kubatschka, Ernst Küchler, Lothar Mark,
Gesine Multhaupt, Dr. Carola Reimann, René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dagmar Schmidt (Meschede), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Heinz Schmitt (Berg),
Ottmar Schreiner, Gisela Schröter, Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Ulrich
von Weizsäcker, Andrea Wicklein, Franz Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Hans-Josef Fell,
Irmingard Schewe-Gerigk, Ursula Sowa, Dr. Antje Vollmer, Katrin Dagmar
Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

GATS-Verhandlungen – Bildung als öffentliches Gut und kulturelle Vielfalt sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Mit Inkrafttreten des Allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit
Dienstleistungen (GATS, General Agreement on Trades in Services) am
1. Januar 1995 hat die EU weitreichende Verpflichtungen zur Liberalisierung
des Dienstleistungssektors übernommen. Seit Anfang 2000 wird im Rahmen
der WTO über eine Weiterentwicklung des GATS verhandelt. Erklärtes Ziel der
Beratungen ist es, ein höheres und ausgewogeneres Liberalisierungsniveau aller
WTO-Mitglieder beim Welthandel mit Dienstleistungen zu erreichen.
Die Verhandlungen erstrecken sich auf alle von GATS erfassten Dienstleistungs-
sektoren, darunter auch Bildungsdienstleistungen sowie kulturelle und audio-
visuelle Dienstleistungen. Im Mittelpunkt der Verhandlungen über Bildungs-
dienstleistungen stehen weitere Liberalisierungsanforderungen, die unter ande-
rem die staatliche Entscheidungshoheit bei der Bezuschussung öffentlicher und
privater Bildungsträger betreffen.
Der vereinbarte Fahrplan für die Verhandlungen sieht vor, dass die WTO-Mit-
gliedstaaten, nachdem sie bis Sommer 2002 Forderungen zu Liberalisierungs-
verpflichtungen (requests) an die WTO-Partnerstaaten gerichtet haben, bis zum
Frühjahr 2003 ihrerseits Angebote (offers) zur Übernahme weiterer Verpflich-
tungen im Rahmen des GATS unterbreiten. Bis 2005 sollen die Verhandlungen
zum Abschluss gebracht werden. Für Deutschland und die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union nimmt die EU-Kommission das Verhandlungsmandat
wahr, im Benehmen mit dem vom Europäischen Rat bestellten und von den
Mitgliedstaaten beschickten besonderen Ausschuss nach Artikel 133 EG-Ver-
trag („133er-Ausschuss“).

Drucksache 15/224 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Angesichts der Tatsache, dass der Dienstleistungssektor mit einem Anteil von
ca. zwei Dritteln zum Bruttoinlandsprodukt der EU beiträgt und die Gemein-
schaft mehr als ein Viertel des gesamten Welthandels mit Dienstleistungen ab-
deckt, ist sich der Deutsche Bundestag der besonderen Bedeutung der Verhand-
lungen für Wirtschaft und Beschäftigung in Deutschland und Europa bewusst.
Er teilt jedoch im Hinblick auf den Bereich der Bildungsdienstleistungen die
Sorge vieler Experten und Praktiker des Bildungswesens im In- und Ausland,
die Verhandlungen könnten im Ergebnis zu einer Kommerzialisierung des Bil-
dungssektors und zu einer Aushöhlung des öffentlichen Bildungswesens und
der staatlichen Aufsicht über das Bildungssystem führen.
Die Gewährleistung von Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung und Wis-
sen und die Sicherstellung eines hohen Qualitätsstandards im Bildungswesen
gehören zum Kernbereich staatlicher Daseinsvorsorge auch in der globalisier-
ten Wissensgesellschaft. Qualitätssicherung darf sich dabei nicht allein auf die
staatlichen Angebote beschränken, sondern muss alle in- und ausländischen
privaten Angebote mit einbeziehen.
Vor dem Hintergrund, dass die bisherigen Verpflichtungen der EU bzw. ihrer
Mitglieder erheblich weiter reichen als die anderer Mitgliedstaaten der WTO,
ist es geboten, dass Deutschland und die EU im Zuge der laufenden GATS-Ver-
handlungen keine weiteren Liberalisierungsverpflichtungen für den Bereich der
Bildungsdienstleistungen übernehmen, die über die bereits bei Aushandlung
des GATS-Abkommens 1994 eingegangenen Verpflichtungen hinausreichen.
Die sektoralen Verpflichtungen Deutschlands im Rahmen des GATS müssen
weiterhin auf privat finanzierte Bildungsdienstleistungen beschränkt bleiben.
Auch im Hinblick auf die audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen, die
ebenfalls Gegenstand der Verhandlungen sind, teilt der Deutsche Bundestag die
Sorge vielerKulturschaffenden, dass dieVerhandlungen imErgebnis zu einerwei-
teren Kommerzialisierung des Kulturbereichs führen könnten, wenn die EU den
an sie gerichteten Forderungen von Drittstaaten-Seite nachgeben würde. Eine Li-
beralisierung der kulturellen und audiovisuellenDienstleistungen sollte ausGrün-
den der Wahrung der kulturellen Vielfalt nicht in Aussicht genommen werden.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt
– die von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungs-

förderung im Oktober 2002 beschlossene gemeinsame Grundsatzposition
von Bund und Ländern zur Behandlung von Bildungsdienstleistungen in den
laufenden GATS-Verhandlungen, die sich in allen wesentlichen Punkten mit
dem Standpunkt des Deutschen Bundestages deckt;

– dass in das heute noch gültige Verhandlungsmandat der EU-Kommission für
den audiovisuellen Bereich aus dem Jahr 1999 zum Schutz der kulturellen
Vielfalt eine Klausel aufgenommen wurde, nach der „die Gemeinschaft und
ihre Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zur Fortsetzung und Unterstützung ihrer
Politiken im kulturellen und audiovisuellen Bereich im Hinblick auf die
Wahrung ihrer kulturellen Vielfalt erhalten und entwickeln können“;

– die Bemühungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf
nationaler und europäischer Ebene, die darauf zielen, bildungspolitischen
Interessen und Standpunkten in den GATS-Verhandlungen den notwendigen
Stellenwert zu geben;

– dass der EU-Bildungsministerrat am 12. November 2002 die Bedeutung des
globalen Handels mit Bildungsdienstleistungen gewürdigt und die Not-
wendigkeit betont hat, dass diesbezügliche internationale Absprachen nur
mit ausreichender Abstimmung mit den Verantwortlichen im Bildungswesen
getroffen werden.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/224

Die Bundesregierung ist kein direkter Verhandlungspartner, sondern kann ihren
Einfluss nur mittelbar geltend machen. Verhandlungspartner ist die EU. Desto
wichtiger ist es, die deutschen Interessen zu bündeln und zielorientiert zunächst
auf europäischer Ebene zu verhandeln.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. ihren Einfluss auf die Festlegung der europäischen Verhandlungsposition,

insbesondere auf die jetzt anstehende Formulierung von Angeboten zur
Übernahme weiterer Liberalisierungsverpflichtungen mit Nachdruck geltend
zu machen, um im Rahmen der GATS-Verhandlungen einer Aushöhlung des
öffentlichen Bildungswesens und einer Einschränkung der kulturellen Viel-
falt in Deutschland vorzubeugen. Dabei gilt es vor allem Folgendes sicher-
zustellen:
– Die in geteilter Verantwortung von Bund und Ländern in Deutschland

wahrgenommene öffentliche Aufsicht über das Bildungswesen inklusive
aller Fragen, die die Qualitätssicherung betreffen, muss vom GATS-Ab-
kommen unberührt bleiben; dazu gehört die Festlegung von Qualitäts-
kriterien ebenso wie die Entscheidung über geeignete Verfahren des
Monitorings;

– die GATS-Verhandlungen sollten zu einer Klarstellung des Begriffs der
„in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbrachten Dienstleistungen“ genutzt
werden, die von den Bestimmungen des GATS ausgenommen sind. So ist
festzustellen, dass der Begriff des „Wettbewerbs“ in Artikel I Abs. 3c des
Abkommens sich allein auf den Wettbewerb zwischen überwiegend
privat finanzierten Anbietern bezieht. Es ist unmissverständlich klar-
zustellen, dass die Ergänzung des öffentlichen Regelschul- und Hoch-
schulwesens in Deutschland durch ein Angebot von privaten Einrichtun-
gen keine hinreichende Begründung für die Anwendung von Regeln des
privaten Marktes auf den öffentlichen Bildungsbereich darstellt. Das in
der Präambel des GATS niedergelegte Recht der WTO-Mitglieder, die
Erbringung von Dienstleistungen in ihrem Hoheitsbereich zu regeln, darf
nicht durch einschränkende Bestimmungen aus dem Abkommen be-
schränkt werden;

– die staatliche Finanzierung von öffentlichen Bildungseinrichtungen darf
im Kontext des GATS nicht als wettbewerbsverzerrende Subvention be-
wertet werden oder Rechtsansprüche für ausländische private Betreiber
begründen;

– im Bereich der audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen muss den
Mitgliedstaaten, entsprechend dem Verhandlungsmandat der EU-Kom-
mission, die Möglichkeit zur Fortsetzung und Entwicklung ihrer Politiken
in vollem Umfang erhalten bleiben. Dazu gehört auch, dass die EU-Kom-
mission für die Mitgliedstaaten in diesem Bereich keine Liberalisierungs-
forderungen an Drittstaaten in die Verhandlungen einbringt, um so zu
vermeiden, dass Drittstaaten sich ermutigt fühlen könnten, ihrerseits For-
derungen an die EU zu stellen;

2. alle betroffenen Fachausschüsse des Deutschen Bundestages – darunter auch
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung –
regelmäßig, umfassend und detailliert über den Fortgang der GATS-Ver-
handlungen zu informieren. Der Deutsche Bundestag ist rechtzeitig vor Ab-
gabe einer Stellungnahme zu dem von der EU-Kommission zu Beginn des
Jahres 2003 vorzulegenden Entwurf für erste Liberalisierungsangebote an
die WTO-Mitgliedstaaten einzubeziehen.

Drucksache 15/224 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
Darüber hinaus gilt es, geeignete Formen für eine breitenwirksame
Partizipations- und Diskussionsmöglichkeit zu finden sowie insbesondere
die entsprechenden Marktöffnungsangebote oder -verlangen der interessier-
ten Öffentlichkeit bekannt zu machen und ihr Gelegenheit zur Stellung-
nahme zu geben.

Berlin, den 18. Dezember 2002
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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