BT-Drucksache 15/216

Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen der Europäischen Union

Vom 18. Dezember 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 15/216
15. Wahlperiode 18. 12. 2002

Antrag
der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr (Münster),
Ernst Burgbacher, Helga Daub, Dr. Christian Eberl, Jörg van Essen, Ulrike Flach,
Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Klaus Haupt, Ulrich
Heinrich, Dr. Werner Hoyer, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Harald Leibrecht,
Ina Lenke, Markus Löning, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim
Otto (Frankfurt), Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz,
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele,
Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der FDP

Historischer Erweiterungsgipfel verstärkt Druck auf innere Reformen
der Europäischen Union

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Europäische Rat Kopenhagen hat den Weg zur Erweiterung der Europäi-
schen Union um 10 neue Staaten bis zum Jahr 2004 endgültig freigemacht. Da-
mit ist die historisch größte und bedeutendste Erweiterung der Europäischen
Union zum 1. Mai 2004 seit der 1958 erfolgten Gründung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft politische Realität geworden. Nach der Norderweite-
rung 1973 mit Dänemark, Großbritannien und Irland, der ersten Süderweite-
rung um Griechenland, der zweiten Süderweiterung 1986 um Spanien und
Portugal sowie dem Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens 1995 bedeu-
tet die Osterweiterung der Europäischen Union und die Aufnahme Maltas und
Zyperns einen epochalen Umbruch. Auf dieses historisch einmalige Ereignis
haben besonders liberale Außenminister jahrzehntelang unermüdlich und unbe-
irrt hingearbeitet. Die erst durch den Mut der osteuropäischen Nachbarstaaten
ermöglichte deutsche Einheit ebnete den Weg zur Europäischen Union der 25
im Jahr 2004, dem Europa der Freiheit, des Friedens, der Rechtsstaatlichkeit
und der wirtschaftlichen Entwicklungschancen. Mit 451 Millionen Bürgerinnen
und Bürgern wird die Europäische Union mit ihrer ökonomischen Kraft ihr
politisches Gewicht in der Welt stärken können und müssen. Die großen inter-
nationalen Herausforderungen verlangen besonders angesichts der mit dem
11. September 2001 sichtbar gewordenen terroristischen Gefahren eine auch
außenpolitisch handlungsfähige Europäische Union, die mit einer Stimme die
Interessen Europas im 21. Jahrhundert formuliert und wirkungsvoll vertritt.
Diese Osterweiterung ist eine gute Zukunftsinvestition für die Europäische
Union und für Deutschland. Nun kommt es darauf an, den Bürgerinnen und
Bürgern in den bisherigen Mitgliedstaaten der Union besser als bisher die
Chancen und Vorteile der Osterweiterung zu verdeutlichen sowie den weit ver-
breiteten Ängsten und Befürchtungen in der Bevölkerung konstruktiv zu be-

Drucksache 15/216 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

gegnen. Dies gilt insbesondere auch für die Grenzregionen zu Polen und der
Tschechischen Republik, deren Vorbereitungen auf die Überwindung ihrer
Grenzlage, vor allem die grenzüberschreitenden Kooperationsprojekte, aktiv
unterstützt werden müssen.
Der Deutsche Bundestag hält eine breit angelegte Serie von Großveranstaltun-
gen, mit denen die Bürger auf die Erweiterung und eine Europäische Verfas-
sung vorbereitet werden, für notwendig, um Vorurteilen, Populisten und Ängs-
ten entgegenzuwirken. Die enormen Anstrengungen der Beitrittskandidaten-
länder zur Vorbereitung auf den Beitritt müssen ihre Entsprechung in der
Reformbereitschaft und Reformfähigkeit der Europäischen Union finden. Wenn
es nicht gelingt, die innere Struktur der Union noch vor ihrer Erweiterung so zu
reformieren, dass Effizienz und Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten bleiben
und gleichzeitig die demokratische Legitimität der Europäischen Union ge-
stärkt wird, läuft sie Gefahr, auseinanderzufallen und gleichzeitig zunehmend
an Zustimmung ihrer Bürgerinnen und Bürger zu verlieren. Die Bundesregie-
rung ist gefordert, Tendenzen zum Intergouvernementalismus entgegenzuarbei-
ten und sich für eine gewaltenteilige föderal strukturierte Europäische Union
einzusetzen. Die Hoffnungen und Erwartungen der europäischen Regierungen
und ihrer Bürgerinnen und Bürger ruhen auf dem Europäischen Verfassungs-
konvent. Wenn es ihm nicht gelingt, einen umfassenden, kohärenten Entwurf
einer Europäischen Verfassung zu erarbeiten, dann wird auch die anschließende
Regierungskonferenz an dieser Aufgabe scheitern.
Um diese Aufgabe erfolgreich zu meistern, muss die deutsche Europapolitik
besser koordiniert werden. Es ist ein erschreckendes Ergebnis, wenn der Bun-
desrechnungshof vor kurzem in einer Studie der deutschen Europapolitik einen
Mangel an strategischer Führung, eine fehlende Prioritätensetzung und eine un-
zureichende Abstimmung mit den Ressorts vorwirft.
In den Beitrittsländern bestehen allerdings noch erhebliche Risiken für die Er-
weiterung, insbesondere in den Ländern, in denen eine Volksabstimmung für
den Beitritt erforderlich ist. Um den Beitritt nicht noch auf der Zielgeraden
scheitern zu lassen, ist eine massive Unterstützung der jeweiligen Regierungen
bei der innenpolitischen Überzeugungsarbeit durch die Kommission, durch die
Bundesregierung, durch die nationalen und europäischen Parteien sowie die
politischen Stiftungen dringend erforderlich.
Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass die Bundesregierung nun endlich den
Wert der deutsch-französischen Zusammenarbeit für die künftige Gestalt der
Union offenbar wieder erkannt hat. Für die Weiterentwicklung der Union sind
deutsch-französische Initiativen von entscheidender Bedeutung.
Der Deutsche Bundestag tritt für einen offenen und ehrlichen Dialog mit der
Türkei ein. Der Beschluss des Europäischen Rates in Kopenhagen, der Türkei
den Beginn von Beitrittsverhandlungen in Aussicht zu stellen, ist eine Fortset-
zung der bisherigen Politik seit dem Abschluss des Assoziierungsabkommens
1963, der der Türkei prinzipiell eine Möglichkeit zur Mitgliedschaft in der
Europäischen Union eröffnet. Die Türkei muss wie alle anderen Beitrittskandi-
daten die politischen Kopenhagener Kriterien erfüllen, bevor Beitrittsverhand-
lungen beginnen können. Einen Automatismus bei der Aufnahme neuer Mit-
glieder in die Europäische Union darf es nicht geben.
Die EU ist sich beim Europäischen Rat Kopenhagen treu darin geblieben,
einerseits den Druck auf die Türkei zur Durchsetzung von Reformen aufrecht
zu erhalten, andererseits ihr die Tür zur Beitrittsperspektive nicht zuzuschla-
gen. Der Deutsche Bundestag begrüßt es, dass der Druck durch eine geschickte
Verhandlungsführung der dänischen Präsidentschaft aufrecht erhalten werden
konnte, obwohl ihn die Bundesregierung wegen der erforderlich gewordenen
Reparatur des deutsch-amerikanischen Verhältnisses aufgegeben hatte.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/216

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. sich für eine zügige Unterzeichnung der Beitrittsverträge und für deren

schnelle Ratifizierung einzusetzen;
2. verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, die Öffentlichkeit in Deutsch-

land vom Nutzen der Osterweiterung zu überzeugen, und dazu dem
Deutschen Bundestag ein umfassendes Konzept vorzulegen;

3. die Bemühungen der Grenzregionen, sich auf die Erweiterung vorzuberei-
ten, zu fördern und hierbei insbesondere grenzübergreifende Kooperations-
projekte zu unterstützen;

4. sich nachdrücklich dafür einzusetzen, dass es zu einer grundlegenden
Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik ab 2007 kommt;

5. die innenpolitischen Bemühungen der Beitrittsländer, ihre Bevölkerung auf
den Beitritt vorzubereiten, aktiv zu unterstützen;

6. darauf hinzuwirken, dass die Regierungskonferenz 2004 möglichst rasch
nach Abschluss der Konventsarbeiten zusammentritt und die Europäische
Verfassung verabschiedet;

7. die Koordinierung der EU-Politik besser abzustimmen, die Verantwortlich-
keiten klar festzulegen und dem Deutschen Bundestag eine Stellungnahme
zur Studie des Bundesrechnungshofes zur EU-Koordinierung vorzulegen;

8. darauf hinzuwirken, dass die Europäische Verfassung den Bürgerinnen und
Bürgern in Europa gleichzeitig mit den Europawahlen 2004 zur Bestätigung
vorgelegt wird;

9. sich um einen ehrlichen, offenen Dialog mit der Türkei zu bemühen, der mit
dem Ziel der Durchsetzung notwendiger Reformen zur Achtung der Men-
schenrechte, zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit, zur Stärkung der
Wirtschaft und zur Stabilisierung der Demokratie geführt wird.

Berlin, den 17. Dezember 2002
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Daniel Bahr (Münster)
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Dr. Christian Eberl
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Harald Leibrecht

Ina Lenke
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein

Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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