BT-Drucksache 15/1615

Zukunftorientierte Entwicklung der Westbalkan-Region

Vom 23. September 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1615
15. Wahlperiode 23. 09. 2003

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Siegfried Helias, Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger,
Arnold Vaatz, Peter Weiß (Emmendingen), Hartwig Fischer (Göttingen), Dr. Ralf
Brauksiepe, Rudolf Kraus, Conny Mayer (Baiersbronn), Sibylle Pfeiffer, Christa
Reichard (Dresden), Rainer Eppelmann, Norbert Geis, Dr. Egon Jüttner, Volker
Kauder, Jürgen Klimke, Dr. Wolfgang Bötsch, Anke Eymer (Lübeck), Erich G. Fritz,
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Klaus-Jürgen Hedrich, Joachim
Hörster, Claudia Nolte, Ruprecht Polenz, Dr. Klaus Rose, Bernd Schmidbauer,
Dr. Andreas Schockenhoff, Dr. Hans-Peter Uhl, Willy Wimmer (Neuss) und der
Fraktion der CDU/CSU

Zukunftsorientierte Entwicklung der Westbalkan-Region

Das Gipfeltreffen zwischen der EU und westlichen Balkanstaaten vom 21. Juni
2003 in Thessaloniki hat die Weichen gestellt für den weiteren Stabilisierungs-
und Assoziierungsprozess gegenüber der Region. Hauptelement ist die Bekun-
dung, die Beziehungen zu den Ländern der Region um Elemente des bisherigen
Erweiterungsprozesses zu ergänzen, da diese Länder jetzt von der Stabilisie-
rung und dem Wiederaufbau in die Phase nachhaltiger Entwicklung, Assozi-
ierung und Integration in die europäischen Strukturen eintreten würden. Der
Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess bilde dafür weiterhin den Rahmen.
Wie schnell sich die einzelnen Länder der EU annähern werden, würde davon
abhängen, inwieweit es den westlichen Balkanstaaten gelänge, die Kopenhage-
ner Kriterien und die Bedingungen für den Stabilisierungs- und Assoziierungs-
prozess zu erfüllen.
In der Region sind in den letzten Jahren zahlreiche, zum Teil deutliche Fort-
schritte bei der Stabilisierung, Demokratisierung, wirtschaftlichen Entwicklung
und regionalen Zusammenarbeit erzielt worden. Dennoch darf nicht übersehen
werden, dass dort noch zentrale politische Statusfragen offen und gravierende
ethnisch-politische Konfliktpotentiale zu entschärfen sind. Zudem sind die
internen Rahmenbedingungen in vielen der Länder gekennzeichnet durch
stockende Strukturreformen, schwache oder fehlende marktwirtschaftliche In-
stitutionen, Rechtsunsicherheit, organisierte Kriminalität, Menschenhandel,
Korruption und unterentwickelte Infrastrukturen. Ein Beitrittsfahrplan wäre da-
her verfrüht. Es ist notwendig, dass diese Länder sich auch selbst im Rahmen
ihrer inneren Reformanstrengungen zügig und konsequent weiter entwickeln
können. Die schrittweise An- und Einbindung der Staaten des westlichen Bal-
kans in die europäischen Strukturen kann nur unter Beachtung eindeutiger und
strikt einzuhaltender Kriterien erfolgen. Darin liegt der Schlüssel zu einer nach-
haltigen Stabilisierung der Region.
Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess behält damit seine zentrale
Bedeutung für die politische und wirtschaftliche Entwicklung der vor der EU-
Haustür gelegenen Westbalkan-Region. Er bezieht seine finanziellen Ressour-

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cen nicht nur von der EU-Kommission aus deren Budgetlinie CARDS (Com-
munity Assistance for Reconstruction, Development and Stabilisation), son-
dern auch von den unter dem Stabilitätspakt für Südosteuropa koordinierten
Gebern.
Der Stabilitätspakt soll den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess ergänzen
und zur Umsetzung der in seinem Rahmen vereinbarten Hauptziele beitragen.
Insofern wird er auch weiterhin eine wichtige Brückenfunktion im Sinne des
„post conflict peace building“ zu erfüllen haben. Dies setzt eine ausreichende
finanzielle Ausstattung voraus.
Das Ergebnis des Gipfeltreffens im Hinblick auf den angemeldeten Finanzbe-
darf für den weiteren Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess bezeichnen
Beobachter als dürftig. 200 Mio. Euro wurden zusätzlich zu den unter dem
CARDS-Dach bereits genehmigten 4,65 Mrd. Euro für den Zeitraum 2000 bis
2006 beschlossen. Die Bundesregierung will die Zuweisung von Sondermitteln
an den Stabilitätspakt Südosteuropa im Jahr 2003 auslaufen lassen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung zusammen mit den anderen

EU-Partnern den Wunsch der westlichen Balkanstaaten abgelehnt, in Thes-
saloniki einen gemeinsamen zeitlichen Fahrplan für ihren Weg in die EU
festzulegen, obwohl die EU in der „Agenda von Thessaloniki für die westli-
chen Balkanstaaten: Auf dem Weg zur europäischen Integration“ feststellt,
dass diese Staaten jetzt von „der Stabilisierung und dem Wiederaufbau in
die Phase der nachhaltigen Entwicklung, Assoziierung und Integration in die
europäischen Strukturen eintreten“ würden?

2. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass es deshalb zu erhebli-
chen Enttäuschungen auf Seiten der westlichen Balkanstaaten gekommen ist?

3. Hält es die Bundesregierung für realistisch, dass Kroatien zu dem von kroa-
tischen Regierungsmitgliedern genannten Zieldatum 2007 der EU beitreten
wird, und wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung im Einzelnen?

4. Hält es die Bundesregierung für realistisch, dass Serbien zu dem von serbi-
schen Regierungsmitgliedern genannten Zieldatum 2007 der EU beitreten
wird, und wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung im Einzelnen?

5. Bewertet es die Bundesregierung als Widerspruch, dass die Teilnehmerstaa-
ten des Thessaloniki-Gipfels erklärt haben, sie würden den Internationalen
Strafgerichtshof „vorbehaltlos befürworten“, andererseits aber Bosnien-Her-
zegowina, Mazedonien und Albanien wie zuvor schon Rumänien mit den
USA Sondervereinbarungen abgeschlossen haben, die den in der Abschluss-
erklärung erwähnten „einschlägigen EU-Beschlüssen“ zum Internationalen
Strafgerichtshof zuwiderlaufen, und wenn ja, wie erklärt sie diesen Wider-
spruch?

6. Welche Konsequenzen für die weitere politische, wirtschaftliche und finan-
zielle Unterstützung dieser vier Länder auf ihrem Weg der Annäherung an
die EU wird die Bundesregierung ziehen, wenn sich diese Länder auch wei-
terhin nicht an die „einschlägigen EU-Beschlüsse“ zum Internationalen
Strafgerichtshof halten?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die Einschätzung der Stiftung Wissen-
schaft und Politik, dass die Westbalkan-Region „auf lange Zeit ein Not-
standsgebiet bleiben“ werde, „das ohne kräftige finanzielle Unterstützung
seitens der EU nicht überlebensfähig ist“, und dass vier der fünf Staaten die-
ser Region derzeit ein Entwicklungsniveau aufwiesen, das, gemessen am
Bruttosozialprodukt pro Kopf, im Schnitt lediglich 7 % des EU-Durch-
schnittes betrage (SWP-Aktuell 26, Juli 2003)?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/1615

8. Wo sieht die Bundesregierung regional, sektoral und länderspezifisch den
drängendsten Reformbedarf in der Westbalkan-Region?
Inwieweit kann die Entwicklungszusammenarbeit der EU und Deutsch-
lands hier Unterstützung leisten?
Welche Finanzmittel werden von multilateralen Institutionen wie vor allem
der Weltbank für welche Sektoren zur Verfügung gestellt?

9. Sieht die Bundesregierung die unter dem CARDS-Programm laufenden
und unter dem Stabilitätspakt Südosteuropa koordinierten finanziellen Res-
sourcen für den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess in der Westbal-
kan-Region als ausreichend an?

10. Welchen Finanzumfang und sektoralen Schwerpunkt sieht die Bundesre-
gierung für ihre zukünftige bilaterale Kooperation mit den Staaten der
Westbalkan-Region vor?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die Abstimmung bzw. Komplementari-
tät zwischen dem Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess für den West-
balkan, den unter dem Dach des Stabilitätspaktes laufenden Aktivitäten,
dem CARDS-Programm sowie den bilateralen Fördermaßnahmen
Deutschlands und der EU-Partner?
Inwieweit gibt es eine Koordinierung mit Maßnahmen multilateraler Geber
wie der Weltbank und anderer bilateraler Geber wie der USA?

12. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag und die Chancen für die
Einführung einer Zollgemeinschaft von acht Staaten der Region?

13. Welche Position vertritt die Bundesregierung zur Forderung nach einer
handelspolitischen Integration der Westbalkan-Region in die EU mittels
ungehinderter Export- und Importmöglichkeiten?

14. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag der EU-Kommission zur
Einführung europäischer Integrationspartnerschaften für die Staaten der
Westbalkan-Region?

15. Wie schätzt die Bundesregierung die Bereitschaft der USA ein, sich auch
weiterhin in dem bisherigen Umfang mit Soldaten in der Westbalkan-
Region zu engagieren?
Wie sieht sie insbesondere die Perspektive für einen Verbleib von US-
Truppen in Bosnien-Herzegowina?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die Bedeutung der Anwesenheit ameri-
kanischer Streitkräfte für die Stabilisierungsbemühungen in dieser Region,
und teilt sie die Auffassung, dass ein Abzug der amerikanischen Streit-
kräfte die Stabilisierungsbemühungen erschweren würde?

17. Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit, amerikanische Streit-
kräfte im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
(ESVP) durch europäische Streitkräfte zu ersetzen?
Welche europäischen Länder könnten aus Sicht der Bundesregierung dafür
einen zusätzlichen Beitrag leisten?
Welchen zusätzlichen Beitrag müsste dann die Bundeswehr in der Region
erbringen?

18. Hält die Bundesregierung in ihrer Kosovo-Politik weiterhin an der Philoso-
phie „Standards vor Status“ fest?
Welche konkreten Standards müssen erreicht sein, ehe aus Sicht der Bun-
desregierung über die Statusfrage gesprochen werden könnte?
Was wird getan, damit diese Standards möglichst bald erreicht werden, und
welchen zeitlichen Rahmen sieht die Bundesregierung dafür?

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19. Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass in den Entwürfen zur
neuen serbischen Verfassung Kosovo erneut zum Teil serbischen Territori-
ums erklärt wird, und welche Auswirkungen sieht die Bundesregierung da-
rin für die als offen erklärte Statusfrage?

20. Welche Perspektiven sieht die Bundesregierung für die zwischen Serbien
und Kosovo vorgesehenen „technischen Gespräche“, und welche konkreten
Ziele sollen durch diese Gespräche – auch im Hinblick auf die Statusfrage –
angestrebt werden?

21. Welche konkreten Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, um der
schlechten Wirtschaftslage und vor allem der extrem hohen Arbeitslosig-
keit im Kosovo entgegenzuwirken, und welche konkreten Maßnahmen
unternimmt sie selbst diesbezüglich?

22. Wie schätzt die Bundesregierung die Sicherheitslage im Kosovo und insbe-
sondere in den an Südserbien angrenzenden Gebieten ein?
Wie schätzt sie die Organisation „Front für die Nationale Vereinigung der
Albaner“ (FBKSH) mit ihrem militärischen Arm, der „Albanischen Natio-
nalarmee“ ein, die seit Frühjahr 2003 durch immer brutalere terroristische
Anschläge die Stabilität im Kosovo zu unterminieren und eine Vereinigung
aller Albaner in einem Staat zu erzielen sucht?

23. Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag, durch eine erneute Akti-
vierung der internationalen Balkan-Kontaktgruppe die Aufmerksamkeit
der Weltgemeinschaft wieder stärker auf den Krisenherd Kosovo zu lenken
und damit zugleich dem neuen Chef der UN-Verwaltung, Harry Holkeri,
den dringend notwendigen politischen Rückhalt zu geben?

24. Welche Position vertritt die Bundesregierung im Hinblick auf den zukünfti-
gen Status des Zusammenschlusses von Serbien und Montenegro in der
Bundesrepublik Jugoslawien?

25. Wie beurteilt die Bundesregierung Äußerungen führender serbischer Politi-
ker, dass der Versuch, die beiden längst voneinander getrennten Wirt-
schaftssysteme Serbiens und Montenegros zu vereinheitlichen, beide Staa-
ten unnötig Zeit und Geld koste und sie bei ihren Bemühungen um eine
schnelle Annäherung an die EU behindere, zumal eine Harmonisierung der
Märkte vor allem auf montenegrinischer Seite nicht gewollt sei und des-
halb scheitern werde?

26. Wie bewertet die Bundesregierung die aktuelle innenpolitische Entwick-
lung in Mazedonien angesichts neuer Kämpfe zwischen der Albanischen
Nationalarmee und mazedonischen Sicherheitskräften?

27. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Albanische Natio-
nalarmee?

28. Welche Auswirkungen haben diese Kämpfe auf die weitere Tätigkeit der
EU-Mission „Concordia“ sowie hinsichtlich der Äußerung des Bundes-
ministers der Verteidigung, Dr. Peter Struck, bei einem Truppenbesuch in
Mühlheim am 20. August 2003, er rechne damit, dass die Mission „im
Frühjahr 2004“ beendet werden könne (ddp vom 20. August 2003)?

29. Welches sind aus Sicht der Bundesregierung noch die größten Probleme in
Bosnien-Herzegowina, die eine Anwesenheit internationaler Streitkräfte
und die Tätigkeit des Hohen Repräsentanten der Internationalen Staaten-
gemeinschaft und Sonderbeauftragten der EU für Bosnien-Herzegowina
zwingend erforderlich machen?

30. Wie bewertet die Bundesregierung die Auffassung des Hohen Beauftragten
Lord Paddy Ashdown, dass „der Internationalen Gemeinschaft zurecht vor-
geworfen wird, sie unterlasse es, entschieden zu handeln, um den Krieg

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/1615

hier zu einem echten Ende zu bringen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 10. Juli 2003)?

31. Wie beurteilt die Bundesregierung die zunehmende Kritik von Staatsrecht-
lern und Politikern Bosnien-Herzegowinas, dass die nahezu uneinge-
schränkten Eingriffsrechte des Hohen Repräsentanten und deren immer
häufigerer Gebrauch gegenüber den Verfassungsorganen des Landes ein
Hindernis auf dem Weg zu staatsrechtlichen Verhältnissen seien?

32. Wie begründet die Bundesregierung die Tatsache, dass die Hohen Reprä-
sentanten im Laufe der Jahre immer häufiger von ihren Befugnissen, De-
krete zu erlassen, Gebrauch gemacht haben und dass der derzeitige Hohe
Repräsentant in den vergangenen 15 Monaten mehr als 150 Entscheidun-
gen dekretierte, obwohl im Oktober 2002 Bosniens Institutionen für reif
genug befunden wurden, in den Europarat aufgenommen zu werden?

33. Welche konkreten Aufgaben müssen erfüllt sein, ehe das Amt des Hohen
Repräsentanten aufgegeben werden kann, und welchen zeitlichen Rahmen
sieht die Bundesregierung dafür?

34. Wie beurteilt die Bundesregierung die Arbeit der EU-Polizeimission in
Bosnien-Herzegowina angesichts einer nach wie vor andauernden hohen
Bedrohung durch Verbrechen und Korruption?

Berlin, den 22. September 2003
Siegfried Helias
Dr. Christian Ruck
Dr. Friedbert Pflüger
Arnold Vaatz
Peter Weiß (Emmendingen)
Hartwig Fischer (Göttingen)
Dr. Ralf Brauksiepe
Rudolf Kraus
Conny Mayer (Baiersbronn)
Sibylle Pfeiffer
Christa Reichard (Dresden)
Rainer Eppelmann
Norbert Geis
Dr. Egon Jüttner
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Dr. Wolfgang Bötsch
Anke Eymer (Lübeck)
Erich G. Fritz
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
Klaus-Jürgen Hedrich
Joachim Hörster
Claudia Nolte
Ruprecht Polenz
Dr. Klaus Rose
Bernd Schmidbauer
Dr. Andreas Schockenhoff
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Willy Wimmer (Neuss)
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