BT-Drucksache 15/1544

Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an

Vom 11. September 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1544
15. Wahlperiode 11. 09. 2003

Antrag
der Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer, Norbert Barthle, Veronika Bellmann,
Lothar Binding (Heidelberg), Renate Blank, Angelika Brunkhorst, Rainer
Eppelmann, Petra Ernstberger, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Hans-Michael
Goldmann, Josef Göppel, Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher,
Dr. Christel Happach-Kasan, Klaus Haupt, Martin Hohmann, Dr. Werner Hoyer,
Dr. Peter Jahr, Ulrich Kelber, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Sibylle Laurischk,
Harald Leibrecht, Ina Lenke, Werner Lensing, Markus Löning, Dr. Martin
Mayer (Siegertsbrunn), Petra-Evelyne Merkel, Dr. Gerd Müller, Dirk Niebel,
Dietmar Nietan, Cornelia Pieper, Dr. Andreas Pinkwart, Christa Reichard
(Dresden), Walter Schöler, Swen Schulz (Spandau), Werner Schulz (Berlin),
Uwe Schummer, Johannes Singhammer, Dr. Hermann Otto Solms, Rolf Stöckel,
Wolfgang Thierse, Dr. Dieter Thomae, Jürgen Türk, Hans-Jürgen Uhl, Dr. Antje
Vogel-Sperl, Dr. Antje Vollmer

Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die demografische Entwicklung in Deutschland gefährdet die Zukunft unserer
Gesellschaft. Die Probleme der deutschen Gesellschaft der Zukunft sind nur zu
bewältigen, wenn im Generationenvertrag auch die junge Generation berück-
sichtigt und Kindern und den sie großziehenden Eltern ein ihrer Bedeutung für
die Zukunft unserer Gesellschaft angemessener Stellenwert eingeräumt wird.
Die Gesellschaft insgesamt muss kinderfreundlicher werden, die Bereitschaft
junger Erwachsener, Eltern zu werden, muss gestärkt und die zahlreichen Pro-
bleme und Nachteile für Familien mit Kindern müssen abgebaut werden.
Der in Artikel 38 Abs. 2 des Grundgesetzes festgelegte Ausschluss der Kinder
und Jugendlichen vom Wahlrecht vereitelt jedoch eine angemessene Berück-
sichtigung der jungen Generation im politischen Willensbildungsprozess
unserer Gesellschaft und passt weder in die Gesamtsystematik unserer demo-
kratischen Ordnung, noch überzeugt er inhaltlich. Das Wahlrecht ist ein in einer
Demokratie unverzichtbares Grundrecht. Wer Kindern und Jugendlichen das
Wahlrecht grundsätzlich weiter vorenthält, stellt einerseits die prinzipielle
Gleichheit der Staatsbürger in Frage und leistet andererseits einer Politik Vor-
schub, die zu einer Verlagerung von Lasten auf die nächste Generation tendiert.
Nach Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volk aus
und wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Das Volk gemäß
Artikel 20 des Grundgesetzes ist das Staatsvolk und umfasst alle Deutschen.
Dieses Bekenntnis zur Demokratie in Artikel 20 des Grundgesetzes beschränkt

Drucksache 15/1544 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

das Volk als primären Träger aller Staatsgewalt dem Wortlaut nach also nicht
auf die volljährigen Deutschen. Durch die so genannte Ewigkeitsgarantie des
Artikels 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gehört dieser Artikel 20 zu den einer
Änderung nicht zugänglichen Vorschriften unserer Verfassung. In Artikel 38
Abs. 2 des Grundgesetzes wird allerdings das Wahlrecht zum Deutschen Bun-
destag an die Vollendung des 18. Lebensjahres gebunden. Kinder und Jugend-
liche unter 18 Jahren – und damit 20 Prozent des Volkes – ist so generell ein
Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt versagt. Dies zu ändern, ist eine
politische Entscheidung, deren Umsetzung eine Änderung von Artikel 38 des
Grundgesetzes und weiterer einfacher Gesetze bedarf. Dabei sind unterschied-
liche Realisierungsvarianten im Detail denkbar.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Wahlrechts ab Geburt durch Ände-
rung des Artikel 38 des Grundgesetzes und erforderlicher weiterer gesetzlicher
Änderungen vorzulegen. Dabei ist ein Wahlrecht ab Geburt dergestalt vorzuse-
hen, dass die Kinder zwar Inhaber des Wahlrechtes werden, dieses aber treu-
händerisch von den Eltern bzw. Sorgeberechtigten als den gesetzlichen Vertre-
tern ausgeübt wird. Für den Fall, dass sich die Eltern nicht in der Ausübung des
Kinderwahlrechts einigen können, sollte eine einfache und beide Elternteile
möglichst gleich berechtigende Regelung vorgesehen sein.

Berlin, den 11. September 2003
Ingrid Arndt-Brauer
Norbert Barthle
Veronika Bellmann
Lothar Binding (Heidelberg)
Renate Blank
Angelika Brunkhorst
Rainer Eppelmann
Petra Ernstberger
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
Hans-Michael Goldmann
Josef Göppel
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Klaus Haupt,
Martin Hohmann
Dr. Werner Hoyer
Dr. Peter Jahr
Ulrich Kelber
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke

Werner Lensing
Markus Löning
Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn)
Petra-Evelyne Merkel
Dr. Gerd Müller
Dirk Niebel
Dietmar Nietan
Cornelia Pieper
Dr. Andreas Pinkwart
Christa Reichard (Dresden)
Walter Schöler
Swen Schulz (Spandau)
Werner Schulz (Berlin)
Uwe Schummer
Johannes Singhammer
Dr. Hermann Otto Solms
Rolf Stöckel
Wolfgang Thierse
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Hans-Jürgen Uhl
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Antje Vollmer

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/1544

Begründung
Unsere Gesellschaft verschiebt finanzielle, soziale und viele andere Lasten in
die Zukunft und raubt so den künftigen Generationen ihre Zukunftschancen.
Wären die Familien mit ihren Kindern sowie die Kinder und Jugendlichen
selbst dank eines Wahlrechts ab Geburt eine bedeutendere politische Größe,
bestünde eher die Chance, ihren Interessen im politischen Prozess Geltung zu
verschaffen. Politische Entscheidungen in der Demokratie sind nicht nur an
ihrer sachlichen Notwendigkeit, sondern auch an der Wählerwirksamkeit orien-
tiert. Der gesellschaftliche Generationenvertrag ist nicht zuletzt deshalb auf die
Generation der Erwerbstätigen und die Generation der nicht mehr Erwerbs-
tätigen beschränkt, weil die Generation der noch nicht Erwerbstätigen von der
Relevanz als Wählergruppe weitgehend ausgeschlossen ist.
Höchstrichterliche Entscheidungen der letzten Jahre zeigten die unangemes-
sene Familienbesteuerung und die Benachteiligung von Alleinerziehenden und
Familien mit Kindern in der gesetzlichen Pflegeversicherung auf. Diese und
andere Formen der Benachteiligung von Familien sind keineswegs zwischen-
zeitlich rechtlich beseitigt. Die Realität zeigt: Immer noch sind Kinder, insbe-
sondere mehrere, eines der größten Armutsrisiken in Deutschland, vor allem
für Alleinerziehende. Doch nicht nur die Familien von heute leiden unter dieser
Verteilungsungerechtigkeit, auch die Kinder als die Erwachsenen von morgen
finden ihre Interessen in der politischen Wirklichkeit derzeit nicht angemessen
berücksichtigt. Eine Generationengerechtigkeit gibt es für Kinder schon lange
nicht mehr.
Dabei ist aufgrund der demografischen Entwicklung von einer weiteren erheb-
lichen Verschlechterung der politischen Interessenvertretung der jungen Gene-
ration auszugehen. Der Einfluß von Familien auf politische Entscheidungen
wird aufgrund ihres abnehmenden Bevölkerungsanteils noch weiter zurückge-
hen. Bevölkerungswissenschaftler erwarten, dass um das Jahr 2030 jeder dritte
Bundesbürger 60 Jahre und älter sein wird. Wir können die Zukunft der Fami-
lien und damit unserer ganzen Gesellschaft nur sichern, wenn wir den Familien
die Chance geben, auf politische Entscheidungen stärker Einfluß zu nehmen als
bisher.
Aufzuheben ist dieser Mangel im politischen System nur durch die Ausweitung
der politischen Repräsentation auf die junge Generation, der diese bislang vor-
enthalten bleibt. In politischen Entscheidungsprozessen stiegen mit dem Wahl-
recht ab Geburt die Chancen, familien- und kinderfreundliche Politik durchzu-
setzen. Die politischen Parteien würden ihr Handeln deutlicher als jetzt auf
diese Wählergruppen ausrichten.
Dabei ist – anders als bei anderen Überlegungen zur Ausweitung des Wahl-
rechts – nicht von einer grundsätzlichen Verschiebung innerhalb des parteipo-
litischen Spektrums auszugehen. Die Zahl der Wahlberechtigten würde nach
heutiger Bevölkerungsstruktur um ca. 13,8 Millionen steigen. Es geht bei der
Verwirklichung eines Wahlrechts ab Geburt mithin zum einen um zentrale Fra-
gen des Demokratieverständnisses – und zum anderen um die Zukunft unserer
Gesellschaft.
Das in Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes verankerte demokratische Prinzip
umfasst die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit von Wahlen. Wenn
die gesamte im Staat vorhandene Herrschaftsgewalt vom deutschen Volke aus-
geht, müssen alle zu diesem Staatsvolk gehörenden Menschen als prinzipiell
gleich angesehen und in das Wahlrecht einbezogen werden.
Dass dennoch Kinder und Jugendliche nach Artikel 38 Abs. 2 des Grundgeset-
zes ausgeschlossen sind, wird damit begründet, dass das Wahlrecht eine ge-
wisse Beurteilungs- und Verstandesreife des Wahlberechtigten voraussetze. Bei
Volljährigen wird jedoch diese Beurteilungsfähigkeit generell unterstellt, selbst

Drucksache 15/1544 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
wenn sie im Einzelfall nicht gegeben sein mag. Insofern wird das Kriterium der
Verstandesreife keineswegs konsequent angewendet. Im Übrigen wird die Be-
urteilungsfähigkeit in unserer Verfassung nicht grundsätzlich zur Vorausset-
zung für die Gewährung von Grundrechten gemacht, so beispielsweise bei den
Rechten nach den Artikeln 1 bis 3.
Die Rechtsfähigkeit nach § 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs beginnt mit der
Vollendung der Geburt, auch wenn die volle Geschäftsfähigkeit erst mit der
Volljährigkeit beginnt. Das Problem des Auseinanderfallens von Rechtsin-
haberschaft des Kindes bei gleichzeitiger Unfähigkeit, diese Rechte selbst aus-
zuüben, ist in §1626 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gelöst: Sofern es erforder-
lich ist, nehmen die Eltern als Personensorgeberechtigte die Rechte ihres Kin-
des in dessen Interesse wahr. Entsprechendes sollte beim Wahlrecht von Geburt
an gelten. Eltern sollten bei der Ausübung des Wahlrechtes in Stellvertretung
ihres Kindes dessen wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des
Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen.
Die Wahlentscheidung sollte von den Eltern, soweit es nach dem Entwick-
lungsstand des Kindes angezeigt ist, mit dem Kind besprochen werden.
Der allgemein anerkannte Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl kann
beim Wahlrecht ab Geburt nicht gewährleistet werden, ist aber auch nicht aus-
drücklich in der Verfassung verankert. Die Höchstpersönlichkeit wird auch in
der heutigen Praxis bereits durchbrochen. Die Möglichkeiten zur Briefwahl und
Beauftragung eines Wahlhelfers sind klare Abweichungen vom Grundsatz der
Höchstpersönlichkeit und werden doch nicht in Frage gestellt. Alte Demokra-
tien wie Frankreich oder England gestatten ihren Bürgern bei der Wahl die Ver-
tretung. So ist auch beim Wahlrecht ab Geburt eine Ausnahme von der Höchst-
persönlichkeit möglich. Keinesfalls ist der Rechtsgrundsatz der Höchst-
persönlichkeit der Wahl aber der prinzipiellen Beteiligung des gesamten Staats-
volkes an der Staatsgewalt in einer Demokratie vorzuziehen.

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