BT-Drucksache 15/1330

Freiheit wagen - Bürokratie abbauen

Vom 1. Juli 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1330
15. Wahlperiode 01. 07. 2003

Antrag
der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl,
Wolfgang Bosbach, Friedrich Merz, Norbert Barthle, Veronika Bellmann, Dr. Rolf
Bietmann, Antje Blumenthal, Clemens Binninger, Wolfgang Börnsen (Bönstrup),
Klaus Brähmig, Gitta Connemann, Alexander Dobrindt, Marie-Luise Dött, Ingrid
Fischbach, Dirk Fischer (Hamburg), Klaus-Peter Flosbach, Dr. Hans-Peter
Friedrich (Hof), Erich G. Fritz, Hans-Joachim Fuchtel, Eberhard Gienger, Georg
Girisch, Dr. Reinhard Göhner, Tanja Gönner, Peter Götz, Kurt-Dieter Grill, Markus
Grübel, Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Bernd Heynemann, Ernst
Hinsken, Robert Hochbaum, Volker Kauder, Gerlinde Kaupa, Manfred Kolbe,
Dr. Martina Krogmann, Dr. Hermann Kues, Peter Letzgus, Walter Link (Diepholz),
Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang Meckelburg, Laurenz Meyer (Hamm),
Hildegard Müller, Franz Obermeier, Eduard Oswald, Rita Pawelski, Dr. Joachim
Pfeiffer, Dr. Peter Ramsauer, Peter Rauen, Hans-Peter Repnik, Klaus Riegert,
Dr. Heinz Riesenhuber, Franz Romer, Anita Schäfer (Saalstadt), Hartmut
Schauerte, Andreas Scheuer, Dr. Ole Schröder, Wilhelm Josef Sebastian, Heinz
Seiffert, Johannes Singhammer, Max Straubinger, Thomas Strobl (Heilbronn),
Arnold Vaatz, Andrea Voßhoff, Klaus-Peter Willsch, Elke Wülfing und der Fraktion
der CDU/CSU

Freiheit wagen – Bürokratie abbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Deutschland erstickt an zu viel Staat
Bürokratie hat sich wie Mehltau über unser Land gelegt. Seit Jahrzehnten wird
der Abbau von Bürokratie gefordert. Dazu hat sich die Politik auf allen Ebenen
bekannt. Trotz zahlreicher Bemühungen, Initiativen, vieler Kommissionen und
Sachverständigengremien ist der Durchbruch beim Bürokratieabbau bisher aus-
geblieben. Deutlich sichtbar ist dies an der stetig steigenden Zahl an Gesetzen
und Rechtsverordnungen.
– Im Laufe der 14. Legislaturperiode (1998 bis 2002) sind auf Bundesebene

382 Gesetze und 1 361 Rechtverordnungen neu in Kraft getreten. Dagegen
wurden nur 95 Gesetze und 406 Rechtsverordnungen außer Kraft gesetzt.

– Insgesamt waren auf Bundesebene Mitte des vergangenen Jahres 2 197 Ge-
setze mit 46 799 Einzelvorschriften in Kraft, dazu 3 131 Rechtsverordnun-
gen mit 39 197 Einzelvorschriften.

– Die Kosten der damit verbundenen Bürokratie sind immens: 29 Mrd. Euro
insgesamt, davon trägt 28 Mrd. Euro der Mittelstand.

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– Die deutsche Bürokratie belastet jedes Unternehmen durchschnittlich mit
ca. 31 000 Euro pro Jahr.

Der Hauptgrund für immer mehr Vorschriften ist, dass es bisher keine systema-
tischen, auf die Dauer angelegten und damit durchgreifenden Maßnahmen und
Instrumente zum Rückbau von Bürokratie gibt.
2. Eigenverantwortung stärken – Staat auf Kernaufgaben beschränken
Jede Initiative zum Bürokratieabbau kann nur dann erfolgreich sein, wenn das
Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft neu austariert wird. Die Men-
schen müssen wieder ermutigt werden, ihr Leben stärker eigenverantwortlich
zu gestalten. Mehr Freiheit und Selbstverantwortung für den Einzelnen bedeu-
ten automatisch weniger Staat. Weniger Staatsaufgaben stärken gleichzeitig
dessen Handlungsfähigkeit.
Der Schlüssel zu mehr Freiheit und Selbstverantwortung für die Menschen liegt
in dem viel beschworenen aber bisher wenig realisierten Prinzip der Subsidiari-
tät, sowohl im persönlichen Lebenskreis als auch auf der staatlichen Ebene.
Subsidiarität bedeutet, dass die größere Einheit eine Aufgabe nur dann über-
nehmen darf, wenn erwiesen ist, dass die kleinere Einheit oder der Bürger
selbst die Probleme nicht lösen können.
Für das notwendige Austarieren eines neuen Verhältnisses zwischen Staat,
Wirtschaft und Gesellschaft ist eine Aufgabenkritik nach folgenden Maßstäben
notwendig:
– Der Staat beschränkt sich auf hoheitliche Tätigkeiten (öffentliche Sicherheit

und Ordnung, Verteidigung, Steuern, soziale Grundsicherung, Umwelt-
schutz) und auf gemeinwohlrelevante Aufgaben (Zukunftssicherung, Bil-
dung und Wissenschaftsförderung), die allen zum Nutzen gereichen.

– Staatliche Aufgaben werden, wo immer möglich, auf nachgeordnete Ebenen
delegiert, denen dafür gleichzeitig ein größerer Gestaltungsspielraum ein-
zuräumen ist.

– Bisher vom Staat wahrgenommene Aufgaben werden Privaten überlassen,
wenn sie dort besser bzw. ebenso gut und für den Bürger erschwinglich aus-
geführt werden können.

– Staatliche Aufsicht und Lenkung wird, wo immer sinnvoll, durch stärkere
private Selbstverantwortung ersetzt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf:
1. Prüfautomatik bei neuen Gesetzen und Rechtsverordnungen
Die federführenden Ministerien werden verpflichtet, jede geplante neue Rechts-
verordnung mit der Prüfung zu verbinden, ob nicht in ihrem Verantwortungsbe-
reich zwei bestehende Rechtsverordnungen außer Kraft gesetzt werden können
(1:2 Regel).
Die federführenden Ministerien werden auch zur Prüfung verpflichtet, ob für
jedes neue oder zu ändernde Gesetz sämtliche Vorschriften des zu ändernden
Rechts bzw. der dazu ergangenen Rechtsverordnungen entbehrlich geworden
sind oder vereinfacht werden können. Bei der parlamentarischen Beratung
muss über das Ergebnis dieser Prüfung berichtet werden.
2. Neue Gesetze zeitlich befristen
Die Geltungsdauer neuer Gesetze ist in geeigneten Fällen verstärkt zu befristen.
Die Befristung und eventuelle Änderungen bemessen sich nach dem Bedürfnis
an Rechts- und Planungssicherheit der Adressaten des jeweiligen Gesetzes.
Verordnungsermächtigungen sind in Gesetzen einer strengen Einzelfallprüfung
zu unterziehen. Die Bundesregierung verpflichtet sich, in jedem Einzelfall des
Erlasses einer Rechtsverordnung deren Notwendigkeit zu begründen.

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3. Beweislastumkehr für die Fortgeltung von Gesetzen und Rechtsverordnungen
Die Bundesregierung wird verpflichtet, jährlich 200 Gesetze bzw. 250 Rechts-
verordnungen auf deren Entbehrlichkeit bzw. auf überflüssige bürokratische
Hemmnisse zu überprüfen. Das sind etwa 10 % des Bestandes. Es muss künftig
die Notwendigkeit für das Weitergelten der Regelung aktiv nachgewiesen
werden.
4. Verfallsautomatismus bei Verwaltungsvorschriften
Die Bundesregierung verpflichtet sich, alle Verwaltungsvorschriften auf ihre
Notwendigkeit zu überprüfen. Dazu wird ein Verfallsautomatismus eingeführt,
wie er in mehreren Bundesländern bereits erfolgreich praktiziert wird.
Sollen Verwaltungsvorschriften über einen festzusetzenden Verfallsstichtag
hinaus in Kraft bleiben, so ist die Notwendigkeit dafür gegenüber einem neu
einzurichtenden besonderen Kabinettsausschuss schriftlich zu begründen. Alle
Verwaltungsvorschriften sind künftig fünf Jahre nach ihrem Inkrafttreten da-
raufhin zu überprüfen, ob sie weiterhin Bestand haben sollen.
5. Genehmigungsverfahren verkürzen
Zur Verkürzung von Genehmigungsverfahren wird den Antragstellern für ge-
eignete Bereiche ein Wahlrecht auf Genehmigung oder Anzeige ihres Vor-
habens eingeräumt.
Bei der Anzeige verzichtet der Antragsteller zugunsten eines Zeitgewinns auf
die amtliche Bestätigung, dass sein Vorhaben allen rechtlichen Voraussetzungen
entspricht. Der Antragsteller hat dies der Behörde gegenüber zu versichern, ge-
gebenenfalls entsprechende Bestätigungen von Sachverständigen beizubringen
und eine Haftpflichtversicherung nachzuweisen sowie alle Kosten zu tragen.
Für alle Anträge zur Genehmigung wird ein zweistufiges Verfahren der auto-
matischen Genehmigung eingeführt:
– Innerhalb einer Frist von vier Wochen hat die Behörde die Vollständigkeit

der Antragsunterlagen zu prüfen. Rügt sie die Unterlagen innerhalb der Frist
gegenüber dem Antragsteller nicht, gilt der Antrag als vollständig.

– Nach Ablauf einer weiteren Frist von sechs Wochen gilt der Antrag als ge-
nehmigt, sofern die Genehmigung nicht zuvor bereits erteilt worden ist oder
deren konkreten Hinderungsgründe durch die Behörde mitgeteilt wurden
oder der Antragsteller mit der Behörde eine längere Genehmigungsfrist ver-
einbart hat.

6. Weniger Richterrecht
Die behördlichen Handlungsspielräume bei der Gesetzesanwendung werden
derzeit bei technisch und naturwissenschaftlich geprägten Genehmigungsverfah-
ren zu weitgehend durch gerichtlichen Einfluss dominiert. Dies ist ganz beson-
ders der Fall, wenn in Gesetzen technische oder naturwissenschaftliche Begriffe
verwendet werden, die einer richterlichen Interpretation nicht offen stehen soll-
ten. Hier herrscht eine Tendenz, im Rahmen der Ermessenskontrolle neues
Recht zu setzen. Verwaltungsrechtliche Ermessensentscheidungen müssen im
Sinne einer ausgewogenen Gewaltenteilung wieder mehr gegen verwaltungsge-
richtliche Eingriffe abgegrenzt werden. Behördlicher Beurteilungsspielraum ist
daher durch eine generelle Regelung in der Verwaltungsgerichtsordnung zu er-
weitern. Im Ergebnis soll bei diesen verwaltungsrechtlichen Abwägungs-, Prog-
nose- oder Beurteilungsentscheidungen der Maßstab der Justitiabilität auf prin-
zipielle Evidenz- und Willkürkontrollen beschränkt werden; dazu ist eine neue
Vorschrift (§ 114a VwGO) einzuführen.
7. Regionale Experimentier- und Öffnungsklauseln
Die Bundesregierung soll, wo immer möglich, den Ländern das Recht ein-
räumen, bestimmte Gesetze oder Rechtsverordnungen des Bundes zeitlich oder

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regional beschränkt nicht anzuwenden, sofern dies dem Ziel, die Gleichwertig-
keit der Lebensverhältnisse herzustellen, nicht zuwiderläuft. Auf diese Weise
kann herausgefunden werden, ob Vorschriften wirklich notwendig sind. Dazu
soll der Bund die in Betracht kommenden Gesetze mit entsprechenden Experi-
mentier- und Öffnungsklauseln ausstatten.
8. Weniger EU-Bürokratie
Ein großer Teil der Gesetzgebung des Bundes resultiert aus Vorgaben der EU
her. Deshalb sollte die Bundesregierung darauf verpflichtet werden, konsequent
für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips in der Europäischen Union einzu-
treten. Die Bundesregierung hat alles zu unternehmen, damit ähnliche wie die
hier vorgeschlagenen Vorgehensweisen zum Abbau der Bürokratie auf der
europäischen Ebene verfolgt werden.
9. Selbstkontrolle der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat einen Kabinettsausschuss „Bekämpfung der Bürokra-
tie“ einzurichten. Ihm gehören unter dem Vorsitz des Bundesministers für Wirt-
schaft und Arbeit, die Bundesminister des Inneren, der Finanzen und der Justiz
an.
Der Ausschuss hat jedes Gesetz, das die Bundesregierung in den Deutschen
Bundestag einbringen will, einer umfassenden Gesetzesfolgenabschätzung zu
unterziehen, die sich insbesondere auf Notwendigkeit, Sachgerechtigkeit, Aus-
wirkungen auf bürgerschaftliches Engagement, Verwaltungsaufwand und die
Kosten bezieht, die für Bürger und Unternehmen sowie nachgelagerte öffent-
liche Verwaltungen entstehen. Entsprechende Unterlagen sind dem Gesetz be-
reits vom federführenden Ressort beizufügen. Gegen das Veto des Ausschusses
kann Kabinettsreife nicht hergestellt werden.
Die Bundesregierung muss dem Bundestagspräsidenten jährlich einen öffent-
lichen Bericht vorlegen, in dem sie nachweist, inwieweit sie ihrem Auftrag
nachgekommen ist, den Bürokratieabbau voranzutreiben.
10. Selbstkontrolle des Deutschen Bundestages
Der Deutsche Bundestag richtet aus seiner Mitte einen Ausschuss für den Ab-
bau von Bürokratie ein. Der Ausschuss steht nicht in Konkurrenz zu den Fach-
ausschüssen, sondern hat eine Querschnittsfunktion. Er überprüft jedes Gesetz,
das vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden soll, allein und umfassend
auf die gesamtgesellschaftlichen Folgen. Er berücksichtigt dabei insbesondere
Notwendigkeit, Sachgerechtigkeit, Auswirkungen auf bürgerschaftliches Enga-
gement, Verwaltungsaufwand und die Kosten, die für Bürger und Unternehmen
sowie nachgelagerte öffentliche Verwaltung entstehen. Der Wissenschaftliche
Dienst des Deutschen Bundestages sollte zur Überprüfung der Vorschriften
regelmäßig hinzugezogen werden.
Der Ausschuss empfiehlt dem Deutschen Bundestag die Annahme oder die
Ablehnung von Gesetzen aus diesem Grunde. Der Ausschuss soll zudem mit
Petitionswirkung arbeiten können. Bürger und Unternehmen können sich an
diesen Ausschuss wenden und auf nicht hinnehmbare bürokratische Gesetzes-
folgen hinweisen.
Der Ausschuss hat darüber hinaus ein Vorschlagsrecht für die Überprüfung der
vorhandenen Gesetze und Rechtsverordnungen auf ihre Entbehrlichkeit bzw.
bürokratische Hemmnisse.

Berlin, den 1. Juli 2003
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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