BT-Drucksache 15/1319

Den Flüssen mehr Raum geben - Ökologische Hochwasservorsorge durch integriertes Flussgebietsmanagement

Vom 1. Juli 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1319
15. Wahlperiode 01. 07. 2003

Antrag
der Abgeordneten Renate Jäger, Ulrike Mehl, Michael Müller (Düsseldorf),
Petra Bierwirth, Gerd Friedrich Bollmann, Marco Bülow, Anke Hartnagel, Ulrich
Kelber, Astrid Klug, Horst Kubatschka, Gabriele Lösekrug-Möller, Lothar Mark,
René Röspel, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Heinz Schmitt, Dr. Angelica Schwall-
Düren, Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Franz Müntefering und Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Volker Beck (Köln), Cornelia Behm,
Franziska Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann, Peter Hettlich, Undine Kurth
(Quedlinburg), Albert Schmidt (Ingolstadt), Dr. Antje Vogel-Sperl, Katrin Göring-
Eckardt, Krista Sager und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Den Flüssen mehr Raum geben – Ökologische Hochwasservorsorge durch
integriertes Flussgebietsmanagement

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Hochwasserereignisse der letzten Jahre und ihre Folgen haben deutlich
gemacht, dass sich unser Umgang mit den Fließgewässern verändern muss.
Allein das große Sommerhochwasser 2002 an Elbe, Mulde und Donau und
ihren Nebenflüssen hat wirtschaftliche Schäden von ca. 9 Mrd. Euro verursacht.
Es ist nicht möglich, das Naturereignis Hochwasser mit Sicherheit zu verhin-
dern, wohl aber können die Ausmaße und die Schäden durch ökologische
Hochwasservorsorge, nachhaltige Flusspolitik und die Beeinflussung der in den
Hochwassergebieten ausgeübten Nutzungen erheblich verringert werden.
Fließgewässer sind lebendige Ökosysteme mit einer eigenen Dynamik. Hoch-
und Niedrigwasser sind ein natürlicher Teil dieser Dynamik, die direkt vom
Wasserkreislauf und von vielen natürlichen Faktoren, wie den klimatischen Ge-
gebenheiten, abhängen. Solche ursprünglichen Systeme sind in unserer Le-
bensumwelt selten geworden. Kaum noch jemand hat die Chance, die Einzigar-
tigkeit eines natürlichen Flusslaufes wahrzunehmen, seine Schutzbedürftigkeit
zu erkennen und entsprechende Schutzbemühungen zu verstehen.
In den letzten Jahrzehnten wurden Flüsse mehr und mehr unter wirtschaftlichen
Aspekten gesehen. Zahlreiche Flüsse haben eine wichtige Bedeutung für ener-
giesparenden und umweltverträglichen Gütertransport durch die Binnenschiff-
fahrt. Diese Funktion als Wasserstraßen müssen diese Flüsse auch grundsätz-
lich weiterhin erfüllen, wenn das verkehrspolitische Ziel der Verlagerung von
Gütern auf Schiene und Wasserstraße erreicht werden soll. Die Funktionsfähig-
keit der Wasserstraßen muss ökologisch behutsam sichergestellt werden.
Mit der baulichen Anpassung der Flusssysteme an diese Ansprüche wurden sie
Änderungen unterworfen. Ihrer Dynamik und Komplexität wurde eine schein-
bar hohe Regelbarkeit und Beherrschbarkeit entgegengesetzt. Ein nachhaltiger

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Umgang mit den Fließgewässern muss auf eine stärkere Anpassung der Nut-
zungen an die natürlichen Prozesse setzen.
Die europäische Wasserrahmenrichtlinie schreibt einen guten ökologischen Zu-
stand mit weitgehender Wiederherstellung natürlicher Prozesse für das gesamte
Einzugsgebiet von Flüssen vor. Im Fokus des Regelwerks, das in Deutschland
bis Ende 2003 in nationales Recht umgesetzt werden muss, stehen die inte-
grierte Betrachtung der Fließgewässer mitsamt ihrer Auen und angrenzenden
Feuchtgebiete sowie ihren verbundenen Grundwasserleitern. Verstärkt wird
dieser Entwicklungsanspruch durch das NATURA 2000-System der EU, viele
Flüsse sind Bestandteile von Schutzgebieten nach der Fauna-Flora-Habi-
tatrichtlinie und der Vogelschutzrichtlinie.
Der durch die Wasserrahmenrichtlinie vorgegebene Ansatz der integrierten Be-
trachtung von Fließgewässern und ihrer Einzugsgebiete bietet die Chance, zu
einer wasserwirtschaftlichen Praxis zu kommen, die Gewässerschutz, Gewäs-
sernutzung, Wasserrückhalt in der Fläche und damit wichtige Teilaspekte des
Hochwasserschutzes miteinander verbindet und auftretende Zielkonflikte mini-
miert. Dabei kommt auch der Einbindung der Öffentlichkeit eine besondere
Rolle zu, denn sowohl die Identifikation der Menschen mit dem Fließgewässer,
an dem sie leben und die Akzeptanz der natürlichen Prozesse einerseits sowie
der Schutzmaßnahmen andererseits spielen eine zentrale Rolle für den Erfolg
einer integrierten Flusspolitik.
Gerade im Bereich des vorsorgenden Hochwasserschutzes können auch Maß-
nahmen zum Einsatz kommen, die Änderungen der Nutzungen in Über-
schwemmungsgebieten mit sich bringen können etwa bei Maßnahmen zur
Reduzierung der Flächenversiegelung, bei Rückverlegung von Deichen, oder
Maßnahmen, die zu Beschränkungen landwirtschaftlicher Tätigkeiten und in
der Siedlungsentwicklung führen können. Dem gegenüber stehen große Vor-
teile für die Menschen wie der Schutz materieller Werte und damit verbunden
der dauerhafte Schutz von Arbeitsplätzen und Wohngebieten, die Vermin-
derung finanzieller Schäden durch Hochwasser, die größere Rechtssicherheit
beim Erwerb von Grundstücken und beim Versicherungsabschluss sowie der
Zugewinn an Lebensqualität durch die Erhaltung und Schaffung naturnaher
Gebiete für Erholung und Naturerlebnis für heutige und für kommende Genera-
tionen.
Die Festlegungen im Koalitionsvertrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sind Resultat der Erkenntnis, dass eine nachhaltige Flusspolitik der
Schutzbedürftigkeit von Flüssen und ihrer Auen einen hohen Stellenwert bei-
misst.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt:
l die schnelle und unbürokratische Hilfe durch die Bundesregierung für die

Flutopfer der letzten großen Hochwasserkatastrophen, zuletzt des großen
Elbehochwassers vom Sommer 2002;

l das Vorhaben der Bundesregierung zur Verbesserung des vorbeugenden
Hochwasserschutzes das „5-Punkte-Programm“ zur Flusskonferenz vom
15. September 2002 gemeinsam mit den Ländern zügig umzusetzen;

l die verschiedenen Initiativen zur Erarbeitung von Handlungsanleitungen
zum vorbeugenden Hochwasserschutz im Rahmen der Bauministerkon-
ferenz, der Ministerkonferenz für Raumordnung und der Umweltminister-
konferenz der Länder;

l die Aktivitäten und bisher erzielten Ergebnisse von Bund und Ländern zum
Aufbau der Geodateninfrastruktur Deutschland (GDI-DE), durch die not-

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wendige und wichtige raumbezogene Informationen für ein integriertes
Flussgebietsmanagement besser verfügbar gemacht werden;

l die zügige Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie auf Bundesebene
durch die Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes und die produktive
Zusammenarbeit mit der LAWA (Länderarbeitsgemeinschaft Wasser) und
den Landesregierungen für eine rasche Umsetzung in das Wasserrecht der
Länder;

l die Regelungen in der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes vom April
2002, in der der Schutz von Überschwemmungsgebieten gestärkt und das
Verbot von Grünlandumbrüchen in Überschwemmungsgebieten formuliert
wurde. Gesamtstaatlich repräsentative Naturschutzgroßprojekte zum Hoch-
wasserschutz wie das im August 2002 gestartete Vorhaben „Lenzener Elb-
talaue“ oder das seit 2001 laufende Vorhaben „Mittlere Elbe“ sind wichtige
Beiträge;

l die Formulierung des Ziels in der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, den
Flächenverbrauch von derzeit 129 Hektar pro Tag auf 30 Hektar pro Tag bis
2020 zu reduzieren und die laufenden Vorarbeiten zur Erreichung dieses
Ziels. Die Bundesregierung wird eine Strategie zur Reduzierung der Flä-
cheninanspruchnahme gemäß den Zielen der Nationalen Nachhaltigkeits-
strategie entwickeln;

l die Maßnahmen der Bundesregierung auf nationaler Ebene und ihre Vor-
schläge auf EU-Ebene zur Ökologisierung der Land- und Forstwirtschaft
und zur Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen für eine umweltge-
rechte Land- und Forstwirtschaft;

l die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung, die sich mit zahlreichen Maß-
nahmen wie dem Ausbau regenerativer Energien, dem Einstieg in eine öko-
logische Steuerreform, der Förderung von Energieeinsparung und des bau-
lichen Klimaschutzes, der Infrastrukturfinanzierung für umweltfreundliche
Verkehrsträger sowie der begonnenen Agrarwende an die Spitze der interna-
tionalen Bemühungen zur Abwendung einer Klimakatastrophe gestellt hat.
Besonders hervorzuheben ist auch, dass der Klimaschutz mittlerweile einen
erheblichen Wirtschafts- und Arbeitsplatzfaktor darstellt;

l den Beschluss des Deutschen Bundestages, dass auf der Donau zwischen
Straubing und Vilshofen die Schiffbarkeit ohne den Bau weiterer Staustufen
verbessert und dafür die Ausbauvariante A umgesetzt wird;

l die Entscheidung der Koalitionsfraktionen, dass an der Saale keine Stau-
stufen mehr gebaut und die Ausbaumaßnahmen und in ihren Auswirkungen
vergleichbare Unterhaltungsmaßnahmen an der Elbe nicht umgesetzt wer-
den;

l die geplante Herausnahme der Unteren Havel aus dem Netz der Bundeswas-
serstraßen vor 2006 und die damit verbundene beschleunigte Durchführung
der Renaturierung im Rahmen eines Naturschutzgroßvorhabens;

l die Überprüfung aller Unterhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen an
Bundeswasserstraßen auf ihre Wirkung in Bezug auf den vorsorgenden
Hochwasserschutz;

l dass das Bundesministerium des Innern das gemeinsame Lagezentrum von
Bund und Ländern (GMLZ) in der Zentralstelle für Zivilschutz aufgebaut
hat. In ihm erfolgt die Vernetzung der Informationssysteme von Bund und
Ländern im Bereich des Zivil- und Katastrophenschutzes über das Deutsche
Notfallvorsorge-Informationssystem (deNIS), um im Fall von Großscha-
denslagen das Informations- und Krisenmanagement von Bund und Ländern
besser koordinieren zu können.

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III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. die Diskussion über einen vorsorgenden, länderübergreifenden Hochwasser-

schutz mit allen Betroffenen, insbesondere auch den Ländern und Kommu-
nen, umfassend und transparent zu führen und die Länder darin zu unterstüt-
zen, rasch konkrete Handlungs- und Umsetzungsschritte nach dem Primat
des Vorsorgeprinzips zu entwickeln; dabei ist auch möglicher Änderungs-
bedarf in bundes- und landesrechtlichen Regelungen zu berücksichtigen, in
Orientierung am 5-Punkte-Programm der Bundesregierung zur Verbesse-
rung des vorbeugenden Hochwasserschutzes;

2. die Länder und ihre Wasserwirtschaftsverwaltungen weiterhin bei der Um-
setzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie und der Weiterentwicklung ihrer
Hochwasserschutzprogramme zu unterstützen und dabei alle Möglichkeiten,
die das integrierte Flussgebietsmanagement für den vorsorgenden Hochwas-
serschutz bietet, zu ergreifen;

3. die internationale Zusammenarbeit zum vorsorgenden, naturverträglichen
Hochwasserschutz und zur Katastrophenabwehr insbesondere vor dem Hin-
tergrund der bevorstehenden EU-Osterweiterung zu stärken;

4. die Organisationen, die integriertes Flussgebietsmanagement betreiben, ins-
besondere alle Katastrophenschutzeinrichtungen und -stäbe in einem ersten
Schritt dazu anzuhalten, amtliche topographische Geoinformationen der
Geodateninfrastruktur Deutschland (GDI-DE) als Planungs- und Einsatz-
grundlage zu verwenden sowie Geoinformationskompetenz frühzeitig ein-
zubinden;

5. Länder und Kommunen so zu unterstützen, dass insbesondere in Über-
schwemmungsgebieten durch die gezielte Nutzung bestehender Fördermög-
lichkeiten künftig Schäden nach Hochwasserereignissen wie z. B. Ölver-
schmutzungen vermieden bzw. minimiert werden. Dies kann z. B. durch den
Einbau von umweltfreundlichen Heizungsanlagen und die Nutzung regene-
rativer Energien im Gebäudebereich erreicht werden

6. die touristische Bedeutung der Flussgebiete und die Möglichkeiten und
Grenzen einer natur- und landschaftsverträglichen touristischen Nutzung
stärker in die integrierte Betrachtung der Flussgebiete mit einzubeziehen
und die Entwicklung nachhaltiger regionaler Leitbilder durch möglichst alle
Länder anzuregen;

7. die vielfältigen Ansätze einer umweltgerechten Landwirtschaft weiter zu un-
terstützen. Die Möglichkeiten des vorsorgenden Hochwasserschutzes sollen
im Rahmen von Agrar-Umwelt-Programmen sowie des Vertragsnaturschut-
zes unter Beachtung finanzverfassungsrechtlicher Zuständigkeiten weiter
ausgebaut werden; die Anstrengungen zur Ökologisierung der Land- und
Forstwirtschaft national, auf EU-Ebene und international intensiviert und
dabei ein Schwerpunkt auf die Verbesserung der Wasserrückhaltefähigkeit
von Böden und Landschaften und die Vermeidung von Bodenerosion gelegt
werden;

8. Naturschutzgroßprojekte des Bundes und Hochwasserschutzmaßnahmen der
Länder noch besser zu verknüpfen, die natürlichen Synergien zu nutzen und
gemeinsam mit den Ländern eine stärkere und frühzeitigere Integration des
Gewässer- und Naturschutzes bei den Ausbau- und Unterhaltungsmaßnah-
men an Wasserstraßen zu gewährleisten;

9. bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie – auch unter dem Aspekt der
Flächenschutzstrategie – die Belange des Hochwasser- und Grundwasser-
schutzes zu berücksichtigen;

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/1319

10. auf der Grundlage des Koalitionsvertrages gemeinsam mit den Ländern die
flusspolitischen Ziele des Bundes für alle Flüsse, die als Bundeswasser-
straßen ausgewiesen sind, zu definieren und in ein integriertes Gesamt-
konzept einzustellen. Damit könnten naturnahe und gefährdete Fluss-
systeme gezielt geschützt werden, indem die infrastrukturellen Angebote
des Gütertransportes ökonomisch effizient, aber auch umweltverträglich
zur Verfügung gestellt werden. So erhielten die Unternehmen vor Ort
Planungssicherheit, da sie ihre Transportinvestitionen langfristig anlegen
könnten. Dieses Gesamtkonzept soll am Einzugsgebiet der Elbe und ihrer
Nebenflüsse als Modellregion für Deutschland erprobt werden.

11. Unterhaltungsmaßnahmen an der Elbe, die in ihren Auswirkungen Ausbau-
maßnahmen vergleichbar sind, zu definieren. Zugleich ist das bisherige
verkehrswasserbauliche Konzept für Unterhaltungsmaßnahmen an der
Elbe an die durch den Koalitionsvertrag veränderten Anforderungen unter
Berücksichtigung der Belange des Naturschutzes und der Landschafts-
ökologie anzupassen;

12. unter Berücksichtigung der Auswertungen des Hochwassergeschehens
vom Sommer 2002 und weiterer Erfahrungen zu prüfen, in welcher Weise
der Bund bei großflächigen Gefahrenlagen Informations- und Koordinie-
rungsfunktionen zur Unterstützung des Krisenmanagements der Länder
verstärkt vorhalten bzw. wahrnehmen könnte.

Berlin, den 1. Juli 2003
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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