BT-Drucksache 15/1130

Ausbildung belohnen statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finanzieren

Vom 4. Juni 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1130
15. Wahlperiode 04. 06. 2003

Antrag
der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike Flach,
Angelika Brunkhorst, Helga Daub, Jörg van Essen, Horst Friedrich (Bayreuth),
Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz
Guttmacher, Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Dr. Heinrich L. Kolb, Sibylle Laurischk,
Ina Lenke, Günther Friedrich Nolting, Eberhard Otto (Godern), Dr. Andreas
Pinkwart, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Dieter Thomae, Jürgen
Türk, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Ausbildung belohnen statt bestrafen – Ausbildungsplätze in Betrieben
schaffen statt Warteschleifen finanzieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt spitzt sich dramatisch zu. Im April stan-
den 413 618 gemeldete Ausbildungsstellen 565 588 gemeldeten Bewerbern
gegenüber. Dies ist eine Differenz von 151 970. Gegenüber dem April des
Vorjahres ist damit die Kluft zwischen gemeldeten Ausbildungssuchenden und
Ausbildungsstellen um 55 423, d. h. um 57 % angewachsen. 1998 gab es im
April mit 457 807 gemeldeten Ausbildungsstellen 44 189 mehr als jetzt.
Nach Abzug aller Korrekturen (nicht gemeldete Ausbildungsstellen, Mehrfach-
bewerbungen usw.) werden im Sommer, wenn nichts Wesentliches geschieht,
mindestens 70 000 bis 80 000 Ausbildungsstellen fehlen.
Dies ist vor allem das Ergebnis einer verfehlten Wirtschafts-, Konjunktur- und
Ausbildungspolitik der letzten Jahre. Statt Steuern und Sozialabgaben zu
senken, wurden Steuern und Sozialabgaben erhöht. Eine Vereinfachung des
Steuerrechts wurde versäumt.
Das Recht auf Bildung ist grundlegender Bestandteil der Menschenrechte, und
es ist eine große soziale Herausforderung unserer Zeit, jedem jungen Menschen
mit einem Ausbildungsplatz eine Perspektive für sein Leben zu geben. Ohne
Ausbildung gibt es keine Chance auf angemessene Teilhabe am Arbeitsmarkt.
Gleiche Chancen beim Start und eine moderne qualifizierte Ausbildung gehö-
ren zu den Legitimationsgrundlagen der Demokratie.
Der DIHK, die Tarifpartner und auch die Bundesregierung kennen die Situa-
tion. Mit großem Aufwand wurden Aktionen wie „Ausbildungsgipfel“, „Aus-
bildungsplatz-Offensive 2003“, das „Bündnis für Ausbildung“ usw. gestartet.
Das Programm „Kapital für Arbeit“, wurde um die Möglichkeit der Förderung
von Ausbildungsplätzen erweitert. Aber bis zum 11. April wurde dies lediglich
für 293 Ausbildungsplätze in Anspruch genommen. Insbesondere für mittel-
ständische Betriebe, die ihre zur Verfügung stehenden Sicherheiten für beste-
hende Kreditlinien eingesetzt haben, bietet das Programm mit seiner Erforder-

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nis, für 50 % der Kreditsumme mit weiteren banküblichen Sicherheiten auf-
zuwarten, keine Möglichkeit des Schaffens neuer Ausbildungs- oder Arbeits-
plätze, auch wenn sie es möchten.
Das JUMP-Programm, von der Bundesregierung als Kernpunkt ihrer aktiven
Arbeitsmarktpolitik bezeichnet, hat einen Umfang von ca. 1,1 Mrd. Euro.
Davon stammen ca. 20 % aus Mitteln des europäischen Sozialfonds, 880 Mio.
Euro aus Steuermitteln. Das JUMP-Programm ist jedoch in bedauerlichem
Umfang erfolglos. Für geförderte Jugendliche folgt auf eine JUMP-Maßnahme
oft nicht eine aussichtsreiche Beschäftigung, sondern lediglich eine erneute
arbeitsmarktpolitische Maßnahme. So konnte insbesondere in Ostdeutschland,
aber auch Teilen Westdeutschlands bei vielen Jugendlichen kein Ausweg aus
dem Kreislauf der Arbeitslosigkeit gefunden werden.
Jump fördert Warteschleifen, aber keine vernünftige betriebliche Ausbildung.
Die Erfolglosigkeit des Programms wird auch daran deutlich, dass im April
ca. 522 000 Jugendliche Arbeitslose gemeldet waren, ca. 54 000 mehr als 1998
und 48 880 mehr als zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres. Dies zeigt neben
der relativen Wirkungslosigkeit von JUMP vor allem:
Erfolglose Wirtschafts- und Konjunkturpolitik kann nicht durch staatliche
bürokratisierte Programme ersetzt werden.
In der Regierungskoalition werden derzeit Pläne zum Erheben einer Ausbil-
dungsplatzabgabe entwickelt. Die Wirtschaft soll für die schlechte Wirtschafts-
lage auch noch bestraft werden. Ein Unternehmen, das nicht oder nur wenig
ausbildet, hat in der Regel keinen bösen Willen, sondern es steht in einer wirt-
schaftlichen Situation, die ihm mehr Ausbildung nicht erlaubt. Eine Ausbil-
dungsplatzabgabe, sei sie nun eine Zwangsabgabe auf die Bruttolohnsumme
oder eine Zwangspauschale in einen Ausbildungsfond, wirkt wie eine Steuerer-
höhung und wäre Gift für die Konjunkturerholung. Ohne nennenswerte Effekte
auf zusätzliche Ausbildungsplätze würden Mittel mit großem Aufwand umver-
teilt. Zahlreiche Unternehmen stehen bereits jetzt mit dem Rücken zur Wand.
Weitere finanzielle Belastungen würden das Insolvenzrisiko weiter erhöhen.
Viele kleine und mittlere Unternehmen können sich Ausbildung und den zu-
sätzlichen Verwaltungsaufwand schlicht nicht mehr leisten. Schon die geführ-
ten Debatten innerhalb der Koalition haben das Wirtschaftsklima und das Ver-
trauen in die Regierungspolitik weiter verschlechtert. Mehr denn je gilt heute:
Ausbildung muss belohnt werden, es dürfen keine weiteren Belastungen für die
Wirtschaft entstehen.
Handeln aus Verantwortung für die junge Generation ist aber dringend geboten.
Statt die Jugendlichen in Warteschleifen zu schicken, die im Grunde Ver-
schwendung von finanziellen, aber auch menschlichen Ressourcen darstellen,
ist es besser, ihnen qualifizierte berufliche Ausbildung zu ermöglichen.
Um mehr Spielraum für betriebliche Schwerpunkte zu schaffen, ist eine Flexi-
bilisierung und Deregulierung unseres Berufsbildungssystems dringend erfor-
derlich. Ausbildungshemmnisse z. B. im Jugendarbeitsschutzgesetz sind soweit
wie möglich und vertretbar zu beseitigen.
Die Ausbildungszeiten müssen differenziert und vor allem verkürzt werden.
Schnellstmöglich sind Berufe mit theoriegeminderten Anforderungen und ver-
kürzter Ausbildungszeit einzuführen. Ausbildungsgänge sind so zu modernisie-
ren, dass viele bisher dreijährige Ausbildungen auch in zwei oder zweieinhalb
Jahren absolviert werden können. Es geht auch darum, bei Jugendlichen mit
schlechten Startchancen die Motivation zum Beginn einer Ausbildung erheb-
lich zu steigern und zugleich die Chancen auf eine Höherqualifizierung nicht zu
verbauen. Durch diese Maßnahmen ist jedoch eine Verbesserung der Situation
nicht kurzfristig zu erzielen.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/1130

Es geht vor dem Hintergrund der dramatischen Lage jetzt um sofort und schnell
wirkende Maßnahmen. Einem Jahrgang von Jugendlichen die Chancen für
Ausbildung zu nehmen heißt, Zehntausenden von Jugendlichen ihre Chance auf
Gestaltung ihrer Zukunft zu nehmen. Die Chancen einer Generation dürfen
nicht durch eine wirkungslose Konjunkturpolitik und eine ineffiziente Arbeits-
marktpolitik verspielt werden.
Der Deutsche Bundestag unterstreicht erneut die Bedeutung der dualen Berufs-
ausbildung.
Die betriebliche Ausbildung ist und bleibt eine Kernaufgabe der Wirtschaft.
Staatliche Hilfen dürfen nur dann greifen, wenn Notlagen zu überbrücken sind,
die anders nicht überwunden werden können. Der Deutsche Bundestag bedau-
ert, dass nicht zuletzt durch die verfehlte Konjunktur- und Wirtschaftspolitik
der derzeitigen Koalition eine solche Notlage eingetreten ist.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. allen Plänen auf Erheben einer Ausbildungsplatzabgabe eine klare Absage

zu erteilen;
2. mit schnellen mutigen Reformen zur Steuer- und Abgabensenkung die Rah-

menbedingungen für die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen
nachhaltig zu verbessern;

3. darauf zu drängen, dass in den allgemeinbildenden Schulen die Ausbil-
dungsreife von Schulabgängern erreicht wird und nicht zu Lasten der Aus-
bildungsbetriebe ausgeglichen werden muss;

4. Initiativen einzuleiten bzw. darauf hinzuwirken, dass bei den Rahmenbedin-
gungen für die berufliche Bildung mehr Flexibilität und Mittelstandsfreund-
lichkeit verwirklicht wird.
Dies gilt insbesondere im Hinblick auf:
– mehr Spielraum für betriebliche Schwerpunkte bei den Ausbildungsord-

nungen
– mehr betriebliche Spielräume bei den Ausbildungsvergütungen
– Flexibilisierung der möglichen Beschäftigungszeiten beim Jugendar-

beitsrecht
– Wiederherstellung der alten, bewährten Rechtslage (Benachteiligungs-

verbot nach § 78 S. 2 BetrVG alt) und Abschaffung des Übernahmege-
botes bei der Jugend- und Auszubildendenvertretung

– Entbürokratisierung und Erleichterung der Vorschriften über Sozialräume
– freiwillige und partielle Anrechnungsmöglichkeiten von Berufsgrundbil-

dungsjahr und Berufsfachschule durch die Betriebe
– Steigerung der Präsenz der Auszubildenden im Betrieb durch Blockunter-

richt und jahrgangsübergreifende Flexibilisierung der Berufsschultage
– Begrenzung des personellen und finanziellen Prüfungsaufwandes auf ein

Mindestmaß;
5. auf Grund der dramatischen Situation in diesem Jahr ein Sofortprogramm

„Neue Ausbildungsplätze in kleinen und mittleren Betrieben“ aufzulegen,
das folgenden Rahmen ausfüllt:
– Zusätzliche Ausbildungsplätze werden mit einer Ausbildungsprämie von

3 500 Euro pro neu geschaffenem Ausbildungsplatz gefördert. Dies gilt
insbesondere auch für Verbundausbildungsplätze.

– Das Programm gilt nur in diesem Jahr.
– Die Gegenfinanzierung erfolgt ausschließlich durch ein entsprechendes

Zurückfahren des JUMP-Programms.

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6. die Aktivitäten der Kammern und der Tarifpartner im Hinblick auf die För-
derung der Ausbildungsbereitschaft und Ausbildungsfähigkeit der Betriebe
zu unterstützen.

Berlin, den 4. Juni 2003
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

Begründung
Die verschiedenen Initiativen für Ausbildung der Kammern, der Tarifpartner,
der Bundesanstalt für Arbeit, regionaler Initiativen, die „Lehrstellenentwickler“
usw. benötigen einen realen Anreiz, um Betriebe in der derzeitigen schwierigen
wirtschaftlichen und konjunkturellen Situation zu zusätzlicher Ausbildung zu
veranlassen. Unter zusätzlichen Ausbildungsplätzen sind Ausbildungsplätze zu
verstehen, die zu Beginn des neuen Ausbildungsjahres über das Maß der Aus-
bildungsplätze des vergangenen Jahres hinaus eingerichtet werden. Die durch-
schnittlichen betrieblichen Ausbildungskosten betragen nach den Berechnungen
des DIHK 17 750 Euro pro Auszubildendem und Jahr. Nach Gegenrechnung der
Erträge in Höhe von durchschnittlich 8 218 Euro verbleiben Nettokosten von
9 532 Euro bei Vollkostenrechnung bzw. 3 598 Euro bei Teilkostenrechnung.
Die vorgeschlagene Summe deckt auch bei Teilkostenrechnung unter Abzug
aller Erträge den Aufwand des ersten Ausbildungsjahres nicht vollständig ab. Es
handelt sich bei der vorgeschlagenen Summe um einen echten Anreiz für das
laufende Betriebsjahr, da die einzukalkulierenden Ausbildungskosten bei Voll-
kostenrechnung (unter Abzug der Erträge) für die ersten 5 Monate gedeckt wer-
den. Der akuten Notlage im Sommer kann so wirkungsvoll entgegengetreten
werden.

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