BT-Drucksache 14/9261

Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken

Vom 5. Juni 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/9261
14. Wahlperiode 05. 06. 2002

Antrag
der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Max Stadler, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, Jörg van Essen, Rainer Funke, Gerhard Schüßler, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Ina Albowitz, Joachim Günther (Plauen), Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der FDP

Antisemitismus ächten – Zusammenhalt in Deutschland stärken

Der Bundestag wolle beschließen:
1. Der Deutsche Bundestag fordert alle Bürgerinnen und Bürger auf, die Erin-

nerung an die nationalsozialistische Diktatur und den Holocaust nicht ver-
blassen zu lassen. Notwendig ist es, mehr Wissen über Rassismus und Dik-
tatur sowie über den außerordentlichen Beitrag zu vermitteln, den jüdische
Bürgerinnen und Bürger in Geschichte und Gegenwart für Deutschland
geleistet haben und leisten. Familien, Schulen, Jugend- und Weiterbil-
dungseinrichtungen sind aufgefordert, in diesem Sinne tätig zu werden
bzw. zu bleiben.

2. Die von Deutschland ausgegangene mörderische Judenverfolgung war
auch ein Akt der Selbstzerstörung deutscher Zivilisation. Jüdische Deut-
sche waren selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft. In der Ver-
gangenheit wurde die Entwicklung von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik
und Geistesleben in Deutschland und Europa auch von jüdischen Bürgern
gestaltet, getragen und geprägt. Wir alle sind aufgefordert, dafür Sorge zu
tragen, dass dieser Teil unserer Kultur seinen Reichtum nach der Auslö-
schung durch den Holocaust in Deutschland und großen Teilen Europas
neu entfalten kann.

3. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass in den vergangenen Jahrzehnten
eine Vielzahl neuer jüdischer Gemeinden in Deutschland entstanden ist.
Dies ist Ausdruck des Vertrauens in unsere Demokratie und in die jungen
Generationen. Das Entstehen und Wachsen jüdischer Gemeinden ist eine
Bereicherung für unser Land. Deutsche Juden sind integraler Bestandteil
unserer Gesellschaft.
Der Deutsche Bundestag unterstützt alle Bemühungen, die dazu beitragen,
dass jene Frauen und Männer jüdischen Glaubens, die in den vergangenen
Jahren nach Deutschland gekommen sind und hier ihre Heimat gefunden
haben, sich in ihrer Entscheidung bestätigt fühlen können. Hierzu gehört,
die jüdischen Gemeinden in Deutschland bei der Aufgabe, jüdische Zu-
wanderer zu integrieren, nicht alleine zu lassen, sondern ihnen hierbei zur
Seite zu stehen.

4. Der Deutsche Bundestag verurteilt Antisemitismus gleich welcher Ausprä-
gung. Er ist insbesondere besorgt über die in den vergangenen Jahren ge-
stiegene Zahl von antisemitischen Straftaten und Anschlägen gegen jüdi-
sche Einrichtungen in Deutschland. So wurden im Jahr 2001 1 629 antise-

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mitisch motivierte Straftaten registriert. Über 70 Straftaten richteten sich
im Jahr 2001 gegen jüdische Einrichtungen. Es muss alles getan werden,
solche schändlichen Taten rasch aufzuklären, die Täter zu bestrafen sowie
weiteren Taten wirksam vorzubeugen. Wir werden dafür sorgen, dass Ju-
den in Deutschland sicher leben können. Sie haben, wie alle Bürgerinnen
und Bürger, Anspruch auf ein Leben ohne Angst. Dass jüdische Einrichtun-
gen in Deutschland einer besonderen Sicherheitsgefährdung unterliegen, ist
eine Tatsache, die wir überwinden wollen.

5. Der Deutsche Bundestag verurteilt alle Versuche, das antisemitische Argu-
ment, die Juden seien schuld am Antisemitismus, wieder aufleben zu las-
sen. Wer so argumentiert, beleidigt zum einen jüdische Bürgerinnen und
Bürger und verharmlost zum anderen Vorurteile und Ressentiments. Anti-
semitismus kann man nicht begründen, sondern nur verachten. Das Ziel
deutscher Politik ist die Bekämpfung und Ächtung von Antisemitismus.
Demokratischen Parteien und Politikern kommt hier eine besondere Verant-
wortung zu, den Anfängen zu wehren. Der Deutsche Bundestag fordert die
demokratischen Parteien in Deutschland auf, Wahlkämpfe nicht auf dem
Rücken von Menschen jüdischen Glaubens zu führen.

6. Antisemitismus in Deutschland ist eine Realität, die wir niemals als Nor-
malität betrachten werden, sondern überwinden wollen. Mehr Zivilcourage
im Alltag trägt zu einem Klima der Ächtung menschenfeindlicher Äuße-
rungen und Taten bei. Noch mehr als bisher muss Akten des Hasses gegen-
über jüdischen Menschen, jüdischen Gemeindezentren und jüdischen
Friedhöfen mit Zivilcourage entschieden entgegengetreten werden. Frem-
denfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz gegenüber Minderheiten gilt es
durch deutlichen Protest und entschiedenes Eintreten für einen zivilisier-
ten, der Demokratie gemäßen Umgang miteinander zu überwinden. Frei-
heitsfeindlicher Extremismus und Antisemitismus in Wort und Tat darf in
Deutschland ebenso wenig geduldet werden wie jede Form von Gewalt.

7. Rund 95 000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens leben in
Deutschland. Sie sind Teil unseres Gemeinwesens. Das Gespräch zwi-
schen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften leistet einen wertvollen
Beitrag dazu, dass aus Ablehnung und Vorurteilen Toleranz, Achtung und
Wertschätzung werden können.
Der Deutsche Bundestag wird alle Maßnahmen und Aktivitäten unterstüt-
zen, die dazu beitragen, Respekt und gegenseitiges Verständnis zu fördern.
Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unter-
schiedlicher Herkunft muss in unserer Gesellschaft als selbstverständlich
gelten. Es ist Ausdruck einer freiheitlichen und pluralistischen Gesell-
schaft.
Als wichtiger Beitrag dafür soll die Arbeit von Gedenkstätten für die Op-
fer des Nationalsozialismus und von jüdischen Museen, die die Tradition
jüdischen Lebens in Deutschland darstellen, weiter gefördert werden. Es ist
zu begrüßen, dass an zwölf deutschen Hochschulen Judaistik, jüdische Ge-
schichte und Kultur bzw. jiddische Kultur, Sprache und Literatur studiert
werden können.

8. Die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land will ein
friedliches Zusammenleben und ist solidarisch mit den jüdischen Gemein-
den. Angriffe gegen Juden und auf ihre Gemeinden sind ein Angriff gegen
uns alle und müssen mit Nachdruck zurückgewiesen sowie mit allen Mit-
teln des demokratischen Rechtsstaates bekämpft werden. Das gebietet die
Achtung vor der Würde aller Menschen, wie sie als Ziel von den Müttern
und Vätern des Grundgesetzes in unserer Verfassung verankert wurde. Ob
jüdische Bürger und Bürgerinnen sich in Deutschland respektiert, sicher

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/9261

und frei fühlen können, ist zentraler Maßstab der Verwirklichung dieses
Verfassungsauftrages und des Gelingens unserer Demokratie.

Berlin, den 5. Juni 2002
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Max Stadler
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Jörg van Essen
Rainer Funke
Gerhard Schüßler
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Ina Albowitz
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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