BT-Drucksache 14/8737

Sozialgesetzbuch IX Rehabilation und Teilhabe behinderter Menschen - Erste Erfahrungen bei der Umsetzung in die Praxis

Vom 5. April 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8737
14. Wahlperiode 05. 04. 2002

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn,
Pia Maier, Rosel Neuhäuser, Christina Schenk und der Fraktion der PDS

Sozialgesetzbuch IX Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen –
Erste Erfahrungen bei der Umsetzung in die Praxis

Am 1. Juli 2001 trat das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) „Rehabilita-
tion und Teilhabe behinderter Menschen“ in Kraft. Das umfangreiche Gesetz
soll Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Be-
hinderungen am Leben in der Gesellschaft fördern. Das Rehabilitations- und
Schwerbehindertenrecht wird in bestimmten Maße fortentwickelt und zusam-
mengefasst. Zugleich sollen die in der Rehabilitation und der Behindertenhilfe
gewährten Versicherungs-, Versorgungs- und Sozialhilfeleistungen vereinheit-
licht und Verfahrensabläufe durch Einführung von gemeinsamen Servicestellen
für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger vereinfacht werden.
Das SGB IX selbst ist kein Leistungsgesetz. Es fungiert aber als eine Art
„Klammer“, um die bestehenden Leistungsgesetze und das nach wie vor ge-
gliederte System der Rehabilitation abgestimmter zur Geltung zu bringen.
Gleichzeitig wird das gegliederte System der Rehabilitation durch die Einbezie-
hung der Jugendhilfe und die Träger der Sozialhilfe erweitert.
Der Gesetzestext selbst hebt die Idee der Teilhabe hervor. Teilhabe bedeutet
nach Auffassung des Gesetzgebers: behinderte Menschen sollen durch not-
wendige Sozialleistungen die Hilfen erhalten, die sie benötigen, um am Leben
der Gesellschaft und insbesondere am Arbeitsleben teilnehmen zu können. In
diesem Zusammenhang sind auch Leistungen zur Teilhabe von behinderten
Menschen am Leben der Gemeinschaft vorgesehen (§§ 55 bis 59), die nicht als
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, als Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben oder ergänzende Leistungen erbracht werden. Sie sollen die
Betroffenen, auch wenn sie hohen Pflege-, Assistenz-, Anleitungs- und/oder
Begleitungsbedarf haben, weitgehend unabhängig von Pflegekosten machen.
Das SGB IX beinhaltet eine Reihe von Neuerungen und Änderungen, die so-
wohl auf fachlicher Ebene als auch von den betroffenen Menschen selbst und
ihren Angehörigen diskutiert und eingefordert wurden. Dazu gehören insbeson-
dere die Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts, die Beteiligung behinderter
Menschen und ihrer Verbände an der Planung und Durchführung der Rehabili-
tation, die Einführung eines „persönlichen Budgets“ und die Erweiterung um
Leistungen der „notwendigen Arbeitsassistenz“.
Neu ist u. a., dass die Fristen von der Antragstellung in einer Angelegenheit bis
zu ihrer Entscheidung festgelegt sind (deutlich verkürzte Verfahrensdauer) und
dass die Rehabilitationsträger Zuständigkeitsfragen untereinander klären müs-
sen (§ 14 SGB IX). Sie sind zur Zusammenarbeit verpflichtet (§ 12 SGB IX).
Erstmals wird mit dem SGB IX versucht, die für entwicklungsverzögerte und
behinderte Kinder bedeutsame Frühförderung zu regeln.

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Änderungen betreffen – neben den materiell-rechtlichen Bestimmungen des
SGB IX – auch eine Vielzahl anderer Gesetze, wie z. B. wichtige Aspekte des
Bundessozialhilfegesetzes (BSHG).
Insgesamt werden in 60 Artikeln Sozialleistungsgesetze geändert. Geändert
wurde auch die begriffliche Diktion. So werden in diesem Gesetz z. B. nicht
mehr die Begriffe „Behinderter“ oder „Schwerbehinderter“ benutzt, sondern
der Begriff „Menschen mit Behinderung“. Die Hauptfürsorgestellen wurden
mit sich z. T. neu ergebenden Aufgabenstellungen zu Integrationsämtern. Der
Begriff „Maßnahme“ wurde durch den Begriff „Leistung“ ersetzt, „Kranken-
hilfe“ durch „Hilfe bei Krankheit“ und „Rehabilitation“ durch „Leistung zur
Teilhabe“. Eine Reihe von Fragen im SGB IX sollen durch „Verordnungs-
ermächtigungen“ geregelt werden.
Bei Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen, bei Verbänden,
Leistungserbringern, Leistungsträgern und Integrationsämtern machen sich
bei der Inanspruchnahme und Gewährung von Leistungen des SGB IX (prakti-
sche Umsetzung, Verabschiedung z. B. von Durchführungsbestimmungen und
Rechtsverordnungen) neben Hoffnungen auch Unsicherheiten und offensicht-
lich ungeklärte Fragen bemerkbar.
So wies z. B. die Bundesvereinigung „Lebenshilfe für Menschen mit geistiger
Behinderung e.V.“, die das SGB IX als einen wichtigen Schritt zur Verwirk-
lichung des Rechts auf Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen
Leben charakterisiert, beim „Parlamentarischen Abend“ am 27. Februar 2002
auf eine Reihe von schwierigen Umsetzungsfragen hin. Das reicht z. B. von
zögerlicher Einrichtung der Servicestellen über generelle Benachteiligungen im
ambulanten Bereich, Benachteiligungen beim ambulant betreuten Wohnen und
beim Einkommenseinsatz beim Übergang vom vollstationär betreuten in ambu-
lante Wohnformen bis hin zu höherem Elternunterhalt bei ambulanter Betreu-
ung.
Die Fraktion der PDS hat im Vorfeld und im Verlauf des parlamentarischen Ver-
fahrens hervorgehoben, dass die im SGB IX enthaltenen Neuerungen für be-
hinderte Menschen einerseits Chancen für ein mehr selbstbestimmtes Leben er-
öffnen. Andererseits können sie aber oft nur ungenügend ihre praktische Wirk-
samkeit entfalten. Damit blieben Menschen mit Behinderungen für tatsächlich
selbstbestimmte Teilhabe am Leben der Gemeinschaft vielfach enge Grenzen
gesetzt.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Über welche ersten wesentlichen Erfahrungen verfügt die Bundesregierung

bei der Umsetzung des grundlegenden Ziels des SGB IX, Selbstbestimmung
und gleichberechtigte Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter
Menschen zu fördern?

2. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, inwieweit und mit
welchen Ergebnissen die Rehabilitationsträger den Vorrang von Prävention
nach § 3 SGB IX sichern und so der Eintritt einer Behinderung und von
chronischen Krankheiten vermieden wird?

3. Über welche Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung und welche Pro-
bleme sieht sie bei der nahtlosen Einbeziehung der neuen Rehabilitations-
träger (Träger der Sozialhilfe und öffentlichen Jugendhilfe) zur Sicherung
des im Gesetz vorgegebenen Aufgaben- und Leistungskatalogs?

4. Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung über den Stand der Sicher-
stellung von barrierefreien Zugängen zu den Einrichtungen der Sozial-
leistungsträger, den Verwaltungs- bzw. Dienstgebäuden der Rehabilitations-
träger vor (bitte differenziert nach Rehabilitationsträgern und Bundesländern
ausweisen)?

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5. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über den Abschluss und
die Wirksamkeit von gemeinsamen Empfehlungen der Rehabilitations-
träger nach §§ 6 (Rehabilitationsträger) und 13 (Gemeinsame Empfehlun-
gen) SGB IX vor und wie bewertet sie den dabei bisher erreichten Stand?

6. Welche aktuellen Kenntnisse hat die Bundesregierung über den Aufbau,
die Anzahl und die Arbeitsweise gemeinsamer Servicestellen und die damit
gewollte ortsnahe Beratung und Unterstützung behinderter Menschen
(bitte differenziert nach Bundesländern)?

7. Welche Maßnahmen sind nach Ansicht der Bundesregierung erforderlich,
um ggf. vorhandene Defizite beim Aufbau und bei der Effektivität gemein-
samer Servicestellen abzubauen und ihre Wirksamkeit im Interesse von
Menschen mit Behinderungen zu erhöhen?

8. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur Wahrnehmung und
Gewährung des Wunsch- und Wahlrechts durch Menschen mit Behinderun-
gen bzw. Rehabilitationsträger vor?

9. Wie gestaltet sich nach Kenntnis der Bundesregierung die praktische Um-
setzung des Wunsch- und Wahlrechts nach § 9 (Wunsch- und Wahlrecht der
Leistungsberechtigten) SGB IX, insbesondere mit Blick auf das „persön-
liche Budget“ im § 17 (Ausführung von Leistungen), und wie wirken sich
hierbei der Vorbehalt nach § 7 (Vorbehalt abweichender Regelungen) hin-
sichtlich der spezifischen Gesetzlichkeiten der jeweiligen Rehabilitations-
träger sowie der § 17 (Ausführung von Leistungen) für die betroffenen
Antragsteller von Leistungen nach dem SGB IX aus?

10. Welche Erfahrungen und Probleme sind der Bundesregierung über den Ver-
lauf und die durchschnittliche Bearbeitungsdauer (vom Antrag bis zur Ent-
scheidung) im Zusammenhang mit der Zuständigkeitserklärung zwischen
Rehabilitationsträgern und Integrationsämtern nach §§ 14 (Zuständigkeits-
klärung) sowie 102 (Aufgaben des Integrationsamtes) Abs. 6 bekannt?

11. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Nutzung (bzw.
Gewährung) der Regelung zur Erstattung selbstbeschaffter Leistungen ent-
sprechend § 15 (Erstattung selbstbeschaffter Leistungen) durch Antragstel-
ler, bei denen Anträge auf Leistungen durch Rehabilitationsträger nicht
fristgemäß entsprechend § 14 (Zuständigkeitserklärung) entschieden wur-
den?

12. Wie können Arbeitsassistenzen finanziell und materiell so gestaltet und ab-
gesichert werden, dass die ausgereichten Mittel den betreffenden behinder-
ten Menschen tatsächlich und im vollen Umfang zur Verfügung stehen und
nicht, z. B. durch Erhebung der Arbeitgeberanteile von steigenden Kran-
kenversicherungs- und anderen Pflichtbeiträgen, zu ihren Ungunsten redu-
ziert werden?

13. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur Arbeit von interdiszipli-
nären Frühförderstellen und den im § 30 (Früherkennung und Frühförde-
rung) Abs. 3 SGB IX vorgesehenen Komplexleistungen von Frühförderung
und heilpädagogischen Leistungen, um Hilfen ganzheitlich und am indivi-
duellen Bedarf des jeweiligen Kindes orientiert auszurichten?

14. Wie gestaltet sich nach Erkenntnis der Bundesregierung in der Praxis die
Wahrnehmung der leistungsrechtlichen Verantwortung für die Frühförde-
rung, einschließlich der heilpädagogischen Anteile, zwischen den Kranken-
kassen und den Sozialhilfeträgern und wie sollen die bestehenden unter-
schiedlichen Rechtsauffassungen in Zukunft dauerhaft geklärt werden?

15. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Stand der in diesem
Zusammenhang abzuschließenden „gemeinsamen Empfehlungen“ entspre-
chend § 30 (Früherkennung und Frühförderung) Abs. 3?

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16. Welchen Regelungsbedarf sieht die Bundesregierung hinsichtlich der Ver-
sorgung behinderter Menschen mit Leistungen und weiteren Hilfsmitteln
bzw. Hilfen zur Teilhabe nach § 55 (Leistungen zur Teilhabe am Leben in
der Gemeinschaft) unter dem Aspekt, dass die Art der Hilfsmittel und Hil-
fen hier – anders als bei Leistungen nach §§ 31 und 33 SGB IX – im Gesetz
nicht näher definiert ist und so den Rehabilitationsträgern ein sehr dehn-
barer Ermessensspielraum bleibt?

17. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, mit Hilfe des SGB IX
die von der Bundesvereinigung „Lebenshilfe“ auf dem o. a. „Parlamentari-
schen Abend“ vorgetragenen Probleme im Interesse der betroffenen Men-
schen mit Behinderungen und ihrer Angehörigen zu lösen, indem
a) durch die Schaffung von entsprechenden Rechtsnormen (z. B. Strei-

chung des Kostenvorbehalts in § 3a BSHG) das Prinzip „ambulant vor
stationär“ und damit der Vorrang der offenen Hilfen tatsächlich durch-
gesetzt wird?

b) durch die Vereinheitlichung der Einkommensgrenze nach § 79 BSHG
der Übergang vom vollstationären in das ambulant betreute Wohnen
gerechter und selbstbestimmtes Leben unterstützender gestaltet wird?

18. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass sich durch die
Neufassung bzw. Ersetzung von Begriffen wie „Maßnahme“ durch „Leis-
tung“, „Krankenhilfe“ durch „Hilfe bei Krankheit“ oder „Rehabilitation“
durch „Leistung zur Teilhabe“ tatsächlich inhaltliche Verbesserungen zei-
gen?

19. Hat die Bundesregierung bisher Verordnungsermächtigungen erlassen,
die im SGB IX mehrfach ausgewiesen sind, um die Realisierung von Ziel-
stellungen des SGB IX zu gewährleisten?
a) Wenn ja, welche und mit welcher Zielstellung?
b) Wenn nein, warum nicht?
c) Hat sie die Absicht, bis Ende 2002 entsprechende Verordnungsermächti-

gungen zu erlassen und wenn ja, welche?
20. Nach welchen „einheitlichen Grundsätzen“, in welcher Höhe und von wem

werden Selbsthilfegruppen, -organisationen und Selbsthilfekontaktstellen
in ihrer Arbeit entsprechend § 29 (Förderung der Selbsthilfe) gefördert?

Berlin, den 2. April 2002
Dr. Ilja Seifert
Monika Balt
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Pia Maier
Rosel Neuhäuser
Christina Schenk
Roland Claus und Fraktion

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