BT-Drucksache 14/8664

Bündnisfall aufheben

Vom 21. März 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8664
14. Wahlperiode 21. 03. 2002

Antrag
der Abgeordneten Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, Carsten Hübner,
Heidi Lippmann, Dr. Winfried Wolf, Roland Claus und der Fraktion der PDS

Bündnisfall aufheben

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
im Nordatlantikrat darauf hinzuwirken, den dort am 4. Oktober 2001 beschlos-
senen Bündnisfall nach Artikel 5 NATO-Vertrag für beendet zu erklären.

Berlin, den 19. März 2002
Petra Bläss
Wolfgang Gehrcke
Carsten Hübner
Heidi Lippmann
Dr. Winfried Wolf
Roland Claus und Fraktion

Begründung
Am 4. Oktober 2001 beschloss der Nordatlantikrat in der Folge des Terror-
anschlages vom 11. September 2001 auf Antrag der USA, den Bündnisfall nach
Artikel 5 NATO-Vertrag zu erklären. Diesem Beschluss gingen mehrfache ge-
heime Beratungen voraus. Über sie ist bislang nicht mehr bekannt geworden,
als dass die USA den Rat über Umstände und Hintergründe des Anschlags, ins-
besondere die Rolle der von Osama bin Laden geführten Al-Qaida, unterrichtet
haben, und der Rat den Anschlag als einen „bewaffneten Angriff“ von außen
auf die USA (Artikel 6 NATO-Vertrag) qualifiziert hat, der gemäß Artikel 5
NATO-Vertrag als Angriff gegen alle Mitgliedstaaten anzusehen sei.
Aus der einzig über den Beschluss informierenden Presseerklärung vom 4. Ok-
tober 2001 ergibt sich, dass der NATO-Rat acht Maßnahmen beschlossen hat,
die sich auf gemeinsamen Nachrichtenaustausch über die Bedrohung durch
Terrorismus, wechselseitige Hilfeleistung auch für Nichtmitgliedstaaten, die
durch den Terrorismus bedroht werden, verstärkte Sicherheitsmaßnahmen in
den Mitgliedstaaten selbst, Überflugrechte sowie Zugang zu Häfen und Flug-
häfen der Mitgliedstaaten für militärische Operationen gegen den Terrorismus
beziehen. Außerdem wurde die Bereitschaft zur Verlegung von Seestreitkräften
in das östliche Mittelmeer und der luftgestützten Frühwarnsysteme zur Unter-

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stützung der Anti-Terrorismus-Operationen erklärt. Kein Beschluss wurde über
die zeitliche Dauer dieser Maßnahmen bzw. des Bündnisfalles gefällt.
Die Tatsache, dass der Wortlaut des Artikels 5 NATO-Vertrag ausdrücklich auf
Artikel 51 UNO-Charta Bezug nimmt, bedeutet u. a., dass der Bündnisfall nur
dann erklärt werden kann, wenn ein Verteidigungsfall nach Artikel 51 UNO-
Charta vorliegt. Artikel 5 NATO-Vertrag ist insoweit akzessorisch und kann
nicht angewandt werden, wenn ein den Verteidigungsfall auslösender bewaff-
neter Angriff nicht vorliegt oder aufgehört hat zu bestehen. Individuelle oder
kollektive Selbstverteidigung ist jedoch nur dann möglich und legitimiert,
wenn sie sich gegen einen gegenwärtigen, noch andauernden bewaffneten
Angriff wendet. Ist die unmittelbare Gefahr abgewendet oder hat sich der
UNO-Sicherheitsrat mit den erforderlichen Gegenmaßnahmen eingeschaltet
(Artikel 51 Satz 2 UNO-Charta), besteht kein Recht mehr, die militärischen
Maßnahmen fortzuführen. Auch eine Präventivverteidigung gegen mutmaßli-
che neue Angriffe ist völkerrechtlich nicht zulässig.
Nach Abwägung aller Umstände ist eine reale Verteidigungssituation gegen
einen gegenwärtigen Angriff auf die USA oder ihre Verbündeten nicht mehr
gegeben. Zwar ist der mutmaßliche Drahtzieher Osama bin Laden noch nicht
gefunden und es gibt immer noch Al-Qaida-Kämpfer in Afghanistan, ein von
dort aus initiierter, organisierter und geleiteter Terrorangriff auf die USA ist
aber alles andere als wahrscheinlich. Wenn auch die Wurzeln des Terrorismus
noch nicht beseitigt sind, und deshalb allgemein die Gefahr neuer Terroran-
schläge nach wie vor bestehen mag, so spricht nichts mehr dafür, dass sie aus
Afghanistan kommen könnte.
Die Legitimation zur Selbstverteidigung gegenüber den in Afghanistan ver-
sprengten Taliban und Al-Qaida-Kämpfern ist noch aus einem anderen Grund
nicht mehr gegeben. Am 20. Dezember 2001 hat der UNO-Sicherheitsrat mit
seiner Resolution 1386 die International Security Assistance Forces (Isaf) ein-
gerichtet. Dieses geschah auf der Basis von Artikel 42 des VII. Kapitels UNO-
Charta, um der afghanischen Interimsregierung bei der Herstellung und Auf-
rechterhaltung der Sicherheit in und um Kabul beizustehen, damit diese ebenso
wie das Personal der Vereinten Nationen in einer sicheren Umgebung arbeiten
können. Die regionale Ausdehnung des Isaf-Mandats wird seit Beginn der
Stationierung diskutiert und von Generalsekretär Kofi Annan sehr unterstützt.
Damit hat der Sicherheitsrat diejenigen nach Artikel 51 UNO-Charta erforder-
lichen Maßnahmen ergriffen, die das Selbstverteidigungsrecht des zuvor ange-
griffenen Staates und seiner Verbündeten verdrängen. Die Aufgaben zur Siche-
rung vor weiteren Terroranschlägen sind auf die neue Regierung in Kabul und
die Isaf des Sicherheitsrats übergegangen. Die Alliierten der Enduring-Free-
dom-Forces können sich allenfalls darauf berufen, dass die Interimsregierung
sie ausdrücklich aufgefordert hat, sie weiterhin mit militärischen Mitteln zu
unterstützen. Das ist jedoch eine neue völkerrechtliche Grundlage, die die alte
der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung abgelöst hat.
Ist das Selbstverteidigungsrecht aber aus materiellen (kein gegenwärtiger An-
griff) wie auch aus formellen Gründen (Maßnahmen des Sicherheitsrats gemäß
Artikel 51 Satz 2 UNO-Charta) spätestens seit Aufnahme der Tätigkeiten der
Isaf nicht mehr gegeben, fehlt es auch an einer Fortdauer des Bündnisfalles.
Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, hat mit ihrer
rhetorischen Frage „Bündnisfall auf immer?“ zutreffend darauf hingewiesen,
dass ein unbegrenzter Bündnisfall nicht möglich ist. Sie hat gleichzeitig gerügt,
dass der NATO-Rat es versäumt hat, ein klares Ziel, einen Ausgang und eine so
genannte Exitstrategie zu definieren. Es ist deshalb nur folgerichtig und gebo-
ten, dass der NATO-Rat dieses Versäumnis jetzt nachholt und den Bündnisfall
mangels Voraussetzungen der Selbstverteidigung für beendet erklärt.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/8664

Dies wie auch der Wegfall der Einsatzgrundlage nach Artikel 51 der UNO-
Charta hat dann gleichzeitig zur Folge, dass das im Rahmen von Enduring
Freedom operierende deutsche Truppenkontingent nach Deutschland zurückge-
holt werden muss. Ein weiterer Einsatz in Afghanistan auf Grund ausdrück-
licher Anforderung durch die Übergangsregierung würde eines neuen Be-
schlusses des Deutschen Bundestags bedürfen.
Von der Beendigung des Bündnisfalles werden nicht die Verpflichtungen zur
gegenseitigen Information und Hilfe bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus sowie zur Verfolgung mutmaßlicher Terroristen betroffen. Sie be-
stehen unabhängig von einem NATO-Ratsbeschluss für alle Staaten auf Grund
zahlreicher Anti-Terrorismus-Konventionen sowie Resolutionen der UNO-Ge-
neralversammlung und des UNO-Sicherheitsrats gegen den Terrorismus und zu
der Situation in Afghanistan (so z. B. UNGV-Res. 54/169 v. 9. Dezember 1999,
UNSR-Res. 1076 v. 22. Oktober 1996, UNSR-Res. 1214 v. 8. Dezember 1998,
UNSR-Res. 1267 v. 15. Oktober 1999, UNSR-Res. 1333 v. 19. Dezember
2000, UNSR-Res. 1368 v. 12. September 2001, UNSR-Res. 1373 v. 28. Sep-
tember 2001). Die Beendigung des Bündnisfalles trägt nur dem Umstand Rech-
nung, dass eine gegenwärtige Bedrohung der Mitgliedstaaten durch einen
Terroranschlag, der eine militärische Verteidigung erfordert, nicht mehr gege-
ben ist.
Im Übrigen kann die Aufhebung des Bündnisfalls auch erfolgen, da er faktisch
nicht zu einem Einsatz der NATO geführt hat und somit keine wirkliche Rele-
vanz für die NATO als Verteidigungsbündnis hatte. Eher fungierte die Entschei-
dung zum Bündnisfall als politische Generalabstimmung zum gesamten Vor-
gehen der USA. Eine solche generelle politische Legitimationsbasis kann bei
eigenständiger politischer Verantwortungswahrnahme durch die Bundesregie-
rung wie auch weitere Bündnispartner nicht uneingeschränkt in der Sache wie
in der Zeit weiter gelten.

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