BT-Drucksache 14/8558

Partnerschaftliche Beziehungen zu Lateinamerika festigen und ausbauen

Vom 15. März 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8558
14. Wahlperiode 15. 03. 2002

Antrag
der Abgeordneten Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch, Carsten Hübner,
Heidi Lippmann, Dr. Winfried Wolf, Roland Claus und der Fraktion der PDS

Partnerschaftliche Beziehungen zu Lateinamerika festigen und ausbauen
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Lateinamerika-Reise des Bundeskanzlers Gerhard Schröder hat noch ein-
mal die Bedeutung der europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen unterstri-
chen. Die Europäische Union ist wichtigster Wirtschaftspartner des Mercosur
sowie zweitgrößter Handelspartner und Investor für Lateinamerika. Die Errich-
tung einer Freihandelszone der EU mit dem Mercosur steht bevor. Für die kari-
bischen Staaten sind durch das Abkommen von Cotonou einige Vorzugsbedin-
gungen geschaffen worden. Mit einer Reihe von Ländern Lateinamerikas gibt
es bereits eine neue Generation von Kooperationsabkommen. Hinzu kommt,
dass die EU wichtigster Partner der Entwicklungszusammenarbeit in Latein-
amerika ist. Für Europa ist die Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen
Reformen in Lateinamerika zur Stärkung von Demokratie und wirtschaftlicher
Stabilität von großer Bedeutung. Die deutsche Lateinamerikapolitik bedarf
einer gründlichen neuen Konzeption.
Allerdings führt eine immer stärkere Einbeziehung der lateinamerikanischen
Länder in den Globalisierungsprozess zur Zuspitzung sozialer Konflikte in vie-
len Ländern. Die radikale Liberalisierung der vergangenen zehn Jahre vollzog
sich auf Kosten der sozialen Entwicklung. Weiterhin sind die indigenen Völker
bedroht und müssen um ihre nationale, ökonomische und physische Existenzsi-
cherung, die Gewährung gleicher Rechte sowie den Schutz ihres Lebensraumes
kämpfen. Es vollzieht sich ein schwieriger Prozess von subregionalen Integra-
tionsbemühungen, insbesondere die Entwicklung des Mercosur. Der Friedens-
prozess in mittelamerikanischen Ländern ist instabil und in Kolumbien herrscht
erneut offener Bürgerkrieg.
Nach den negativen Erfahrungen mit den sozialen Folgewirkungen einer unge-
bremsten Liberalisierung gibt es in vielen lateinamerikanischen Ländern Bemü-
hungen, eine soziale Abfederung der Wirtschaftsreformen zu erreichen und
Maßnahmen zur Armutsbekämpfung zu ergreifen. Aufgrund ihrer wirtschaft-
lich unsicheren Lage haben die lateinamerikanischen Länder großes Interesse,
in ihren Handelsbeziehungen Übergangsregelungen zum Schutz ihrer nationa-
len Industrien und Märkte zu vereinbaren, den Technologietransfer zu verstär-
ken sowie der landwirtschaftlichen Produktion Exportmärkte zu öffnen. Eine
wichtige Rolle kommt auch der Diversifizierung der Handelspartner zu.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
mit ihrer Lateinamerikapolitik dem durch das Gipfeltreffen EU – Latein-
amerika im Juni 1999 eingeleiteten Prozess der Ausgestaltung einer strategi-

Drucksache 14/8558 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

schen Partnerschaft durch eigene Initiativen eine neue Dynamik zu verleihen,
insbesondere:
1. sich in der Politik gegenüber Lateinamerika und der Karibik nicht überwie-

gend von wirtschaftlichen und unternehmerischen Interessen leiten zu las-
sen, sondern zur Stabilität und Entwicklung durch soziale Gerechtigkeit und
Zurückdrängung des Marktradikalismus neoliberaler Prägung beizutragen;

2. entsprechend den Bestrebungen und Interessen von Regierungen und Nicht-
regierungsorganisationen in Lateinamerika die Gestaltung der lateinamerika-
nischen Integration nicht auf die von den USA forcierte Amerikanische Frei-
handelszone (ALCA bzw. FTAA) zu reduzieren, sondern eigenständige
Integrationsprojekte Lateinamerikas wie Mercosur, Andenpakt, Zentralame-
rikanischer Markt und CARICOM zu unterstützen, die geeignet sind, nega-
tive Folgen der Globalisierung zu vermindern;

3. die strikte Beachtung von Umwelt- und Sozialstandards durch in Lateiname-
rika und der Karibik tätige deutsche Unternehmen und ihre Beteiligung an
Projekten für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und Armutsbe-
kämpfung einzufordern; die Kooperation von Klein- und Mittelunternehmen
zu fördern und die Reform der Hermesbürgschaften nach sozialen und öko-
logischen Kriterien umgehend voranzubringen. Deutschland wird sich nicht
weiterhin an der Aufrüstung von Armeen lateinamerikanischer Staaten be-
teiligen und dazu beitragen, den Handel mit Kleinwaffen und Munition zu
unterbinden;

4. zu einer europäischen Außenwirtschafts- und Agrarpolitik beizutragen, die
in das Ziel einer weltweit sozial gerechten und ökologisch tragfähigen Ent-
wicklungspolitik eingeordnet ist, um eine neue, faire Basis für die Wirt-
schaftsbeziehungen zwischen der EU und den lateinamerikanischen
AKP-Staaten zu schaffen. Notwendig hierfür ist
l eine Öffnung des EU-Marktes für landwirtschaftliche und industrielle

Produkte Lateinamerikas, um Ungleichgewichte im Handelsaustausch
abzubauen;

l eine vom jeweiligen Entwicklungsstand abhängig zu machende Öffnung
der lateinamerikanischen Märkte;

l die Schaffung eines Abkommens zur Regulierung ausländischer Direktin-
vestitionen entsprechend den Interessen der Empfängerländer und in
Übereinstimmung mit regionalen Entwicklungsprojekten;

l ein verstärkter Technologie- und Wissenstransfer;
l eine Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU;
l Subventionsabbau bei EU-Überschussproduktion;
weiterhin ist es sinnvoll,
– sich im Rahmen der EU für die aktive Förderung einer selbstbestimmten

politischen und ökonomischen Integration in den AKP-Regionen (Fi-
nanzmittel, capacity building, institutionelle Beratung etc.) einzusetzen,
ohne politischen Druck auf die Ausgestaltung und die Geschwindigkeit
der Integration auszuüben;

– das Kooperationsabkommens der EU mit Mexiko unter dem Aspekt des
Menschenrechtsschutzes zu überprüfen und dabei insbesondere auf die
Rechte der indigenen Bevölkerung aufmerksam zu machen;

– in Handelsabkommen auf bilateraler Ebene sowie in Abkommen im Rah-
men der EU die Aufnahme von verbindlichen Menschenrechtsklauseln
mit konkreten Überprüfungsmechanismen zu befördern;

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/8558

– sich für die Verabschiedung verbindlicher Normen für in Entwicklungs-
ländern tätige europäische Unternehmen durch die EU einzusetzen, wie
sie vom Europäischen Parlament im Januar 1999 gefordert wurden. Ein
entsprechender rechtsverbindlicher Verhaltenskodex unter Einbeziehung
von Kontrollmechanismen und Sanktionen für transnationale Unterneh-
men sollte auch in künftigen Kooperationsabkommen zwischen der EU
und lateinamerikanischen Staaten berücksichtigt werden. Um einen An-
passungswettlauf nach unten zu verhindern, sollte auch die Förderung
ausländischer Investitionen durch die EU an die Einhaltung einheitlicher
sozialer, menschenrechtlicher und ökologischer Mindeststandards ge-
knüpft werden;

5. dafür Sorge zu tragen, dass sich Deutschland in seinen bilateralen Beziehun-
gen zu Ländern Lateinamerikas und der Karibik angesichts des ungelösten
Schuldenproblems für eine weitere Entschuldung lateinamerikanischer Län-
der einsetzt und selbst bilateral Schulden erlässt, ohne dass es bei einem
Schuldenerlass zu Mittelkürzungen für Entwicklungszusammenarbeit
kommt;
– im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit eigenständige und im

gleichberechtigten Dialog mit den lateinamerikanischen Partnern unter
Einbeziehung der Zivilgesellschaft entwickelte Projekte zu fördern, die
auf die Schaffung nachhaltiger Strukturen ausgerichtet und dazu geeignet
sind, soziale Spannungen abzubauen. Besonders gefördert werden sollten
Projekte mit Schwerpunkt

l Armutsbekämpfung und Alphabetisierung,
l medizinische Grundversorgung,
l Wahrnehmung demokratischer Rechte und Mitbestimmung von Frauen

und Indigenas,
l Aufbau einer demokratischen Justiz,
l Durchsetzung von Landrechten und Aufbau eines Katasterwesens,
l Erhaltung der biologischen Artenvielfalt,
l Wiederaufforstung des Regenwalds,
l Schaffung alternativer Einkommensquellen für Bewohner und Nutzer der

Primärwälder,
l Unterstützung sozialer Initiativen,
l Förderung besonders verwundbarer Gruppen (Frauen, Jugendliche, Kin-

der, Indigenas und Afroamerikaner),
– im Dialog mit den lateinamerikanischen Partnern über Armutsbekämp-

fung, Umweltschutz, Demokratieförderung konsequent auf die Einbezie-
hung der sozialen Organisationen der Bevölkerung in die Erarbeitung der
nationalen Entwicklungspläne zu dringen und die Projektarbeit von deut-
schen Nichtregierungsorganisationen, die schwerpunktmäßig zu Latein-
amerika arbeiten, verstärkt zu fördern;

6. sich im besonderen Maße auch im Rahmen der internationalen Unterstützer-
gruppe, für eine zivile Konfliktlösung und einen tragfähigen Friedensprozess
in Kolumbien einzusetzen, den Plan Colombia unmissverständlich abzuleh-
nen, entschieden gegen militärische Lösungen und umweltzerstörende Maß-
nahmen der Antidrogenpolitik wie Besprühungsaktionen aufzutreten und
verstärkt Hilfe für die Realisierung von Alternativen zum Drogenanbau an-
zubieten;
– den Dialog mit lateinamerikanischen und karibischen Staaten und Regio-

nalorganisationen zu überregionalen und globalen Problemen zu inten-

Drucksache 14/8558 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

sivieren, insbesondere im Vorfeld internationaler Konferenzen zu Prob-
lemen wie regionale und globale Friedenssicherung und Konfliktpräven-
tion;

– auf die Fortführung des Friedens- und Demokratisierungsprozesses in El
Salvador, Guatemala, Peru und Nikaragua zu drängen; nachdrücklich auf
die Aufhebung der faktischen Straffreiheit von Menschenrechtsverletzun-
gen wie z. B. Vertreibung, Ermordung oder Todesdrohung zu drängen;

– den Prozess der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Aufarbei-
tung der Geschichte zu unterstützen, sowie durch Offenlegung relevanter
Dokumente die eigene Beteiligung und Mitwirkung an der Stützung dik-
tatorischer Regime zu thematisieren und z. B. im Fall deutschstämmiger
Argentinier aktiv zur Klärung des Schicksals Verschwundener sowie zur
Bestrafung der Täter beizutragen;

7. die Beziehungen zu Kuba auf gleichberechtigter Grundlage weiter zu ent-
wickeln, sich gemeinsam mit den EU-Staaten für die Gleichbehandlung
Kubas im lateinamerikanischen Rahmen und für eine Aufhebung des
US-amerikanischen Handelsembargos gegen Kuba einzusetzen;

8. gemeinsam mit den lateinamerikanischen Ländern der weiteren Umwelt-zerstörung entgegenzuwirken, alles für den Schutz der tropischen Regen-wälder, insbesondere des Amazonas-Gebietes, zu tun und den umwelt-zerstörenden Auswirkungen der Monokulturen mit geeigneten Unterstüt-zungsmaßnahmen in der Landwirtschaft zu begegnen;
9. den Abbau der Kulturbeziehungen zu stoppen und durch die Bereitstellung

von mehr Kapazitäten und Finanzen für die Auslandsschulen, die Goe-
the-Institute, das Institut für Auslandsbeziehungen, für die Inter Nationes
und die Auslandseinrichtungen der politischen Stiftungen den interkulturel-
len Dialog stärker zu fördern;

10. Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen zu Lateinamerika zu ver-
größern und insbesondere das in Europa einmalige IBERO-AMERIKANI-
SCHE INSTITUT der Stiftung Preußischer Kulturbesitz langfristig zu
sichern.

Berlin, den 14. März 2002
Petra Bläss
Wolfgang Gehrcke
Uwe Hiksch
Carsten Hübner
Heidi Lippmann
Dr. Winfried Wolf
Roland Claus und Fraktion

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/8558

Begründung
Mit der Entwicklung von drei regionalen Wirtschaftsblöcken im „transatlanti-
schen Dreieck“, der Europäischen Union, dem Mercosur und der NAFTA ist
der lateinamerikanische Subkontinent stärker in die Auseinandersetzung um die
politische, wirtschaftliche und soziale Gestaltung der Globalisierung geraten.
Die Unterstützung der lateinamerikanischen Länder bei der Aktivierung und
Nutzung ihrer Potentiale in der Entwicklung ihrer Integration, entsprechend
ihren Interessen und Bedürfnissen, und die Zusammenarbeit mit ihnen muss im
Mittelpunkt der strategischen Partnerschaft EU–Lateinamerika stehen.
Angesichts des aktuellen Handlungsbedarfs ist die deutsche Lateinamerikapoli-
tik bisher zu wenig aktiv und mangelt an Kohärenz. Im Gegensatz zu den Erfor-
dernissen ist sogar ein Kapazitätenabbau im wissenschaftlichen und Ausbil-
dungsbereich, in der Tätigkeit politischer und kultureller Einrichtungen im
Ausland sowie in der Mittelzuweisung für Entwicklungszusammenarbeit fest-
zustellen. Die deutsche Lateinamerikapolitik hat in den letzten Jahren immer
mehr an Profil verloren. Sie wird immer weniger den Erfordernissen der Gestal-
tung globaler Entwicklungsbedingungen gerecht und überlässt, auch auf wirt-
schaftlichem Gebiet, weite Entfaltungsbereiche den Konkurrenten, vor allem
den USA.
Die Passivität der deutschen Außenpolitik in Bezug auf Lateinamerika drückt
sich auch in der Hinnahme der Blockadepolitik der USA gegenüber Kuba, in
der Zurückhaltung gegenüber der kolumbianischen Regierung bei der Einforde-
rung einer friedlichen Lösung im Bürgerkriegskonflikt in Kolumbien und im
ungenügenden Engagement für die politische Lösung der Konflikte in Chiapas
und anderen Regionen Mexikos mit überwiegend indigener Bevölkerung aus.
In Lateinamerika droht eine umfassende Rezession. Dies wird die labile soziale
Lage der meisten lateinamerikanischen Staaten verschärfen. Aber unabhängig
vom konjunkturellen Auf und Ab der Wirtschaft bleibt festzustellen, dass ein
größeres Wirtschaftswachstum nicht per se zu einer Verbesserung der Sozial-
strukturen führt. Die Globalisierung trägt nicht zur Armutsbekämpfung und zur
Entwicklung fortgeschrittener Binnenmärkte bei. Im Gegenteil: Die neolibera-
len Strukturanpassungen haben mehr negative als positive Folgen für die gesell-
schaftliche Entwicklung der Mehrzahl der Länder Lateinamerikas. So bringen
die kapitalintensiven neuen Technologien keine Arbeitsplätze für die große
Masse der gering qualifizierten Arbeitskräfte, die die Mehrheit der arbeitsfähi-
gen Bevölkerung stellen.
Die Verschuldung Lateinamerikas ist seit 1985 von 300 Mrd. US-Dollar auf
etwa 800 Mrd. US-Dollar angestiegen. Mehr als 56 % der lateinamerikanischen
Exporterlöse fließen mittlerweile jährlich in die Schuldentilgung. Bereits jetzt
hat Lateinamerika mit der Summe der Zinszahlungen schon das Dreifache der
Ausgangsschulden zurückgezahlt. Aufgrund der Verschuldungssituation sind
Investitionen für den sozialen Fortschritt kaum noch vorhanden.
In dieser Lage ist europäische Unterstützung notwendig. Europa hat ein begrün-
detes Interesse daran, dass der notwendige Prozess der lateinamerikanischen In-
tegration nicht als Unterordnung unter die wirtschaftlichen Interessen der USA
und als Fortsetzung des sozialen Kahlschlags der letzten Jahrzehnte, sondern
auf einer Grundlage stattfindet, die wirtschaftliches Wachstum mit sozialer Ge-
rechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit vereint.

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