BT-Drucksache 14/8417

Umgang mit dem Zerfall staatlicher Autorität

Vom 26. Februar 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8417
14. Wahlperiode 26. 02. 2002

Große Anfrage
der Abgeordneten Hermann Gröhe, Karl Lamers, Hans-Dirk Bierling, Dr. Norbert
Blüm, Monika Brudlewsky, Rainer Eppelmann, Ingrid Fischbach, Dr. Heiner
Geißler, Hubert Hüppe, Hans-Peter Repnik, Heinz Schemken, Dr. Andreas
Schockenhoff, Reinhard Freiherr von Schorlemer, Dr. Erika Schuchardt,
Clemens Schwalbe, Dr. Christian Schwarz-Schilling, Dr. Rita Süssmuth, Dr. Hans-
Peter Uhl, Aribert Wolf und der Fraktion der CDU/CSU

Umgang mit dem Zerfall staatlicher Autorität

In den vergangenen Jahren war das internationale System durch eine deutliche
Zunahme von sicherheitspolitischen, ökonomischen und sozialen Problemen
gekennzeichnet, die aus dem Zerfall staatlicher Autorität resultierten. Verhält-
nismäßig selten basieren diese Veränderungen auf friedlichen, durch demokrati-
sche Willensbildung der Bevölkerung legitimierten, rechtsstaatlich einwand-
freien und ein hohes Maß an Menschen- und Minderheitenrechten achtenden
Prozessen, beispielsweise in Form einer Auflösung eines Staatenbundes oder
einer föderativen Ordnung oder der Einführung weitgehender Autonomie-
rechte.
Demgegenüber resultieren die meisten dieser staatlichen Strukturänderungen
aus einem nicht diesen Prinzipien entsprechenden Zerfall staatlicher Autorität,
wobei sich der Zerfallsprozess und der Verlust von Sicherheit und Ordnung, die
Eskalation von Konflikten zwischen nationalen, ethnischen, religiösen und so-
zialen Gruppen und Gemeinschaften, sowie das Übergreifen krisenhafter Situa-
tionen auf die angrenzenden Länder bzw. Regionen, ebenso wie die direkte oder
indirekte Involvierung von Nachbarstaaten gegenseitig beeinflussen. Ein der-
artiger Zerfall staatlicher Autorität und dessen Begleiterscheinungen haben weit
über die betroffenen Staaten und Regionen hinausreichende Konsequenzen.
Aufgrund der Infragestellung bzw. Außerkraftsetzung der Legitimität staat-
licher Institutionen, ihrer Normsetzungsfähigkeit und des Gewaltmonopols von
Staaten im Allgemeinen kommt es in den betroffenen Gesellschaften zuneh-
mend zu einem Zusammenbrechen der Nahrungs- und Gesundheitsversorgung,
zu einem Ausbrechen nationaler, ethnischer, konfessioneller oder sozialer Kon-
flikte, zu Menschenrechtsverletzungen und schließlich oft zu kriegerischen
Konflikten. Hierbei gewinnen häufig lokale Kriegsherren, so genannte War-
lords, an Einfluss, die sich in der Regel an einer gewaltsamen Durchsetzung
privater und partikularer Interessen orientieren.
Der Zerfall staatlicher Strukturen geht darüber hinaus oft mit einer Destabilisie-
rung der Nachbarländer einher und stellt dadurch ein Problem der regionalen
Ordnung dar. Ursache hierfür sind nicht nur eine mögliche Ausweitung von eth-
nischen Spannungen auf Nachbarstaaten, sondern auch Flucht und Vertreibung
sowie das Unterbrechen von Handelswegen und Rohstofflieferungen. Indem
der Staatsapparat die politische Stabilität und territoriale Integrität eines Landes

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nicht mehr garantieren kann, nehmen zugleich die Möglichkeiten einer direkten
oder indirekten Involvierung bzw. Einflussnahme angrenzender Staaten zu.
Dies führt oft zu einer weiteren Verschärfung bestehender Konflikte und zu
einer Ausweitung von Spannungen über territoriale Grenzen hinweg.
Diese Destabilisierungstendenzen betreffen schließlich auch insofern die inter-
nationale Ordnung, als die Erfahrung gezeigt hat, dass staatliche Zerfalls-
prozesse oft mit einer Zunahme staatenübergreifender Kriminalität, wie etwa
Waffenschmuggel und Drogenhandel, einhergehen. Gleichzeitig beschränkt
sich die Flüchtlingsproblematik längst nicht mehr nur auf das regionale Umfeld
des betreffenden Landes. Schließlich, und auch dies hat die aktuelle Problem-
lage deutlich gemacht, dienen Länder mit schwachen staatlichen Strukturen oft
als Rückzugsgebiet für radikale Oppositionsgruppen und als Zufluchtsorte für
international agierende Terrorgruppen.
Der Zerfall staatlicher Strukturen ist zwar kein neues Phänomen, hat seit dem
Ende des Ost-West-Konflikts aber sowohl an Häufigkeit als auch an Relevanz
deutlich zugenommen. Vor allem Afrika erlebte in den vergangenen Jahren eine
Destabilisierung bislang durch den Ost-West-Konflikt konsolidierter inner- und
zwischenstaatlicher Ordnungen. Gleichzeitig ließ das Ende des Systemantago-
nismus politisch relevant werden, was bis dahin vor allem als volkswirtschaft-
liches und entwicklungspolitisches Problem behandelt worden war: die Ver-
schwendung von Ressourcen durch ökonomisches Missmanagement, ent-
wicklungspolitische Fehlentscheidungen und Korruption, Einschränkung von
Grund- und Menschenrechten sowie Unterdrückung von Unabhängigkeits-
bestrebungen.
Die Ursachen für den Zerfall von Staatlichkeit reichen aber oft noch weiter zu-
rück. Historisch gewachsene „Nationalstaaten“, wie sie etwa in Europa anzu-
treffen sind, stellen in vielen Entwicklungsregionen die Ausnahme dar. Kolo-
niale Grenzziehungen stellen für die Konsolidierung der postkolonialen Staaten
in vielen Fällen eine schwere Hypothek dar. Vor allem ethnische und Minder-
heitenkonflikte, meist gekoppelt an ökonomische Verteilungskämpfe, v. a. in
rohstoffreichen Regionen (z. B. mit Erdöl-, Diamanten- und Coltan-Vorkom-
men), haben einem erfolgreichen „Nation Building“ nicht selten im Wege ge-
standen. Ethnische Spannungen stehen dementsprechend hinter fast zwei Drit-
teln aller gegenwärtigen Kriege.
Das Scheitern von Staaten bzw. der Zerfall staatlicher Strukturen beruht
schließlich aber auch auf innergesellschaftlichen Entwicklungstendenzen. So-
ziale Umschichtungen, die Lockerung familiärer Bindungen und allgemein ein
Wertewandel haben in vielen Entwicklungsgesellschaften die Bindungskraft
traditioneller Mechanismen sozialer Konflikte geschwächt. Viele Staaten waren
und sind nicht in der Lage, diesen Verlust an sozialer Kontrolle durch staatliche
Steuerung zu kompensieren. Fehlende administrative Erfahrung, eine schwache
zivilgesellschaftliche Fundierung, mangelnde rechtsstaatliche und demokrati-
sche Strukturen (z. B. Außerkraftsetzung von Verfassungen, Straflosigkeit bei
Menschenrechtsverletzungen) sowie die oft gravierenden wirtschaftlichen Pro-
bleme tragen dann weiter zu einer Erosion staatlicher Autorität bei.
Die westlichen Industriestaaten befinden sich angesichts dieser Entwicklungs-
tendenzen, die immer erheblichere Fähigkeiten in den Bereichen intensiver
wirtschaftlicher, politischer und auch militärischer Stabilisierungsmaßnahmen
und immer öfter auch zum langfristigen und kostenintensiven Wiederaufbau
binden, in einer schwierigen Lage. Einerseits lässt ihre Bereitschaft nach, finan-
zielle, materielle und politische Ressourcen zur Lösung dieser Probleme bereit-
zustellen. Andererseits resultieren aus dem Zerfall staatlicher Strukturen immer
häufiger sicherheitspolitische, ökonomische und gesellschaftliche Konsequen-
zen, welche die Interessen der westlichen Industriestaaten unmittelbar berüh-
ren. Zusätzlich stehen sie vor der Problematik, dass die herkömmlichen Mittel

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staatlicher Finanz- und Entwicklungshilfen in zerfallenden Staaten oft nicht
greifen. Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte, wirtschaftliche
und soziale Entwicklung und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ste-
hen in engem Zusammenhang. Die Erhaltung staatlicher Kernstrukturen hat so-
mit höchste Priorität. Politische und rechtliche Reformen werden aber nur dann
zu tiefgreifenden Ergebnissen führen, wenn sie auch mit Fortschritten in wirt-
schaftlichen und sozialen Fragen einhergehen. Derartige negative Folgen zer-
fallender staatlicher Autorität müssen in einem möglichst frühen Stadium er-
kannt werden und möglichst auf eine Basis rechtsstaatlicher Prinzipien gelenkt
werden. Die Stabilisierung zerfallender Staaten wird dadurch zu einer wichti-
gen Herausforderung globaler Ordnungspolitik des 21. Jahrhunderts.

Daher fragen wir die Bundesregierung:
1. Welche konkreten Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung im Hin-

blick auf politische und rechtsstaatliche Reformen in von Zerfall bedrohten
Staaten?

2. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, auf bilateraler oder multi-
lateraler Ebene auf Konfliktparteien in von Zerfall bedrohten Staaten einzu-
wirken und sie zu Friedensgesprächen zu bewegen?
Welche Erfahrungen hat sie bisher dabei in welchen Ländern gemacht?

3. Wie schätzt die Bundesregierung die wirtschaftliche Dimension von Kon-
flikten insbesondere in Gebieten ein, die über reiche Rohstoffvorkommen
verfügen?

4. Auf welche Weise kann nach Ansicht der Bundesregierung der Gedanke von
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bevölkerung in vom Zerfall be-
drohten Staaten verankert werden?
Wie ist die Wertschätzung rechtsstaatlicher Grundsätze als Mittel zur Lö-
sung von Konflikten durchsetzbar?
In welchen Ländern hat die Bundesregierung diesbezügliche Maßnahmen
unternommen?

5. Wie kann nach Ansicht der Bundesregierung die Bevölkerung auf allen ge-
sellschaftlichen Ebenen an politischen Entscheidungen beteiligt und die
Rolle der Kommunen und Gemeinden gestärkt werden und welche Auswir-
kungen hat eine verbesserte politische Partizipation der Bevölkerung auf die
Ziele der Konfliktprävention und Konfliktlösung?

6. Welche Möglichkeiten bestehen für die internationale Gemeinschaft diejeni-
gen Kräfte zu unterstützen, die sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
einsetzen?
Nach welchen Kriterien unterstützt die Bundesregierung bestimmte Kräfte
in innerstaatlichen Konflikten und welche sind dies?

7. Welche Möglichkeiten gibt es nach Ansicht der Bundesregierung, ethni-
schen und religiösen Minderheiten zu ihren Rechten zu verhelfen und ihre
Gleichberechtigung anzustreben?
In welchen Ländern ist die Bundesregierung in diesem Sinne aktiv gewor-
den?

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8. Nach welchen Maßstäben legitimieren sich nach Meinung der Bundes-
regierung nichtstaatliche Akteure als potentielle Gesprächs- und Verhand-
lungspartner?

9. Welche Einwirkungsmöglichkeiten sieht die Bundesregierung, nichtstaatli-
che Akteure, wie z. B. dieWarlords, in einen Friedensprozess einzubinden?
Welche Mittel hat sie, um unbeteiligte dritte Gruppen oder Organisationen
zu identifizieren, die in den Friedensprozess einbezogen werden können?
In welchen Ländern ist dies bereits geschehen?

10. Wie schätzt die Bundesregierung die Gefahr der indirekten Unterstützung
von Warlords durch internationale Hilfsorganisationen im Rahmen von
Stillhalte- oder Duldungsvereinbarungen ein?
Auf welche Weise kann derartigen negativen Nebeneffekten aus Sicht der
Bundesregierung entgegengetreten werden?
Welche diesbezüglichen Maßnahmen ergreift die Bundesregierung bereits
in welchen Ländern?

11. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die vom Zerfall bedroh-
ten Staaten bei der Wahrnehmung ihrer Kernaufgaben wie Sicherheit, Bil-
dung, Gesundheit und Verkehrsinfrastruktur auch von internationaler Seite
noch stärker zu unterstützen?

12. Welche Mittel gibt es nach Ansicht der Bundesregierung, eine Reform der
Sicherheitskräfte in dem vom Zerfall bedrohten Staat durchzusetzen?
Welche Einwirkungsmöglichkeiten gibt es, umMilitär- und Polizeiapparate
auf die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien fest-
zulegen?
In welchen Ländern ist die Bundesregierung in diesem Sinne aktiv gewor-
den?

13. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, dass
die Konfliktparteien die internationalen Vertragsverpflichtungen einhalten,
die ihr Staat unterzeichnet bzw. ratifiziert hat?

14. Auf welche Weise können nach Meinung der Bundesregierung Grenzregio-
nen stabilisiert werden, um ein Übergreifen des Konflikts in einem
Bürgerkriegsland auf die Nachbarstaaten zu verhindern?

15. Über welche Möglichkeiten verfügt die Bundesregierung bzw. die interna-
tionale Gemeinschaft, um den Schutz von Binnenflüchtlingen zu gewähr-
leisten und ihre Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen?

16. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung in die Wege geleitet, um eine
bessere Zusammenarbeit auf der Ebene der internationalen Organisationen
wie VN einschließlich UNHCR, OSZE, IWF und Weltbank sowie die
Nichtregierungsorganisationen im Umgang mit kriegerischen Konflikten in
aller Welt zu erreichen?
Welche weiteren Entwicklungspotentiale sieht sie darüber hinaus?

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17. In welcher Weise setzt sich die Bundesregierung auch auf europäischer
Ebene für eine bessere Zusammenarbeit im Umgang mit zerfallenden Staa-
ten im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ein?
Welche konkreten Maßnahmen werden auf dieser Ebene ergriffen und
welche Mittel stehen zur Verfügung?

18. Für die Stärkung oder Schaffung welcher internationalen Mechanismen hat
sich die Bundesregierung bisher eingesetzt, um Krisen im Hinblick auf zer-
fallende Staaten zu verhindern?

Berlin, den 22. Februar 2002
Hermann Gröhe
Karl Lamers
Hans-Dirk Bierling
Dr. Norbert Blüm
Monika Brudlewsky
Rainer Eppelmann
Ingrid Fischbach
Dr. Heiner Geißler
Hubert Hüppe
Hans-Peter Repnik
Heinz Schemken
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Dr. Rita Süssmuth
Dr. Hans-Peter Uhl
Aribert Wolf
Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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