BT-Drucksache 14/8383

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung -14/8181- Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder und Jugendhilfe in Deutschland - Elfter Kinder- und Jugendbericht- mit der Stellungnahme der Bundesregierung

Vom 27. Februar 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8383
14. Wahlperiode 27. 02. 2002

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. Irmgard Schwaetzer, Ina Albowitz,
Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van
Essen, Ulrike Flach, Rainer Funke, Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz
Guttmacher, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Dr. Heinrich
L. Kolb, Jürgen Koppelin, Ina Lenke, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting,
Detlef Parr, Cornelia Pieper, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Marita Sehn, Dr. Hermann
Otto Solms, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Dieter Thomae, Jürgen Türk,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 14/8181 –

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
– Elfter Kinder- und Jugendbericht –
mit der
Stellungnahme der Bundesregierung

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Kinder und Jugendliche sind der wichtigste Reichtum unserer Gesellschaft und
deren Zukunft. Daher begrüßt der Deutsche Bundestag, dass der 11. Kinder-
und Jugendbericht wichtige Betrachtungen zur Situation junger Menschen in
Deutschland erarbeitet und das wissenschaftliche Erkenntnisfundament für das
weitere kinder- und jugendpolitische Handeln verbreitert hat.
Grundsätzlich ist den Feststellungen und Schlussfolgerungen der Kommission
zuzustimmen. Insbesondere die Empfehlung eines Paradigmenwechsels in der
Kinder- und Jugendpolitik ist zu befürworten: Im Blickpunkt der Kinder- und
Jugendpolitik sollte nicht länger vorwiegend der Staat stehen, der durch sozial-
politische Maßnahmen auf die Familien einzuwirken sucht. Vielmehr geht es
darum, in den Mittelpunkt der Politik für junge Menschen die Kinder und Ju-
gendlichen selbst zu stellen. Kinder- und Jugendpolitik ist nach diesem Ver-
ständnis nicht mehr vorrangig Sozialpolitik, sondern Querschnittspolitik, die
sich an den jungen Menschen selbst orientiert und sich in viele gesellschaftliche
Bereiche erstreckt.

Drucksache 14/8383 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

1. Gesellschaftliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und
Jugendlichen

Der Deutsche Bundestag schließt sich dem Urteil der Experten des 11. Kinder-
und Jugendberichts an:
„Die Bedingungen des Aufwachsens in dieser Welt verlangen ein Ineinander-
greifen von privater und öffentlicher Verantwortung. (…) Staat und Gesell-
schaft müssen die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen so gestal-
ten, dass die Eltern und die jungen Menschen für sich selbst und füreinander
Verantwortung tragen können.“
Gefordert sind deshalb nicht wie bisher unzureichende Reformversuche am So-
zialversicherungssystem, sondern eine grundlegende Modernisierung des So-
zialstaats. Nötig ist ein Perspektivenwechsel hin zur aktiven politischen Gestal-
tung und Sicherung der sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche.
Maßstab des Handelns muss sein: Kinder und Jugendliche sind die Zukunft un-
serer Gesellschaft. Mit der Verantwortung und den Belastungen, die das Heran-
wachsen der Kinder zu Bürgern von morgen mit sich bringt, darf die Gesell-
schaft die Eltern nicht alleine lassen. Vielmehr gibt es auch eine
gesellschaftliche Verantwortung für Kinder und Jugendliche. Die Familie in all
ihren heutigen Ausprägungen bleibt der zentrale Ort des Aufwachsens, aber an-
dere gesellschaftliche Instanzen und auch die Selbstsozialisation in informellen
Netzen sind von wachsender Bedeutung. Deshalb sollen die Eltern in der Erfül-
lung ihrer familiären Aufgaben gestärkt und unterstützt werden. Gleichzeitig
muss die ergänzende soziale Infrastruktur bedarfsgerecht regional angepasst
werden.

2. Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen
Ehe und Familie sind nicht nur Ausdruck persönlicher und sozialer Bindung.
Sie sind auch das kleinste und bedeutendste soziale Netz und stehen zu Recht
unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Pluralisierung, Individu-
alisierung und neue Lebensentwürfe von Frauen, besonders von Müttern, haben
aber in unserer Gesellschaft zu vielfältigen familialen Lebensformen und Le-
bensstilen geführt. Neben der klassischen Eltern-Kind-Familie gibt es heute
diverse andere Lebensgemeinschaften von Erwachsenen und Kindern.
Kinder dürfen keine Nachteile erfahren wegen der Familienform, in der sie
leben. Alle familienpolitischen Maßnahmen müssen die verschiedenen Lebens-
formen der Familien berücksichtigen. Familie ist zu definieren als das Zusam-
menleben mit Kindern. Leitbild in der modernen Gesellschaft ist jede Art von
Verantwortungsgemeinschaft, in der Menschen füreinander einstehen und Ver-
antwortung übernehmen. Politik für Familien und junge Menschen muss sich
an den Bedürfnissen der Kinder in der Familie orientieren. Die Kinder in den
Mittelpunkt der Kinder- und Jugendpolitik zu stellen, scheint banal, ist aber bis-
her keineswegs politische Praxis.

3. Kinderbetreuung
Deutschland schneidet im internationalen Vergleich der Kinderbetreuungsange-
bote schlecht ab: Beim Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren und
Grundschulkinder bestehen gravierende Defizite. In den neuen Bundesländern
liegt der Versorgungsgrad an Ganztagesangeboten für Kleinkinder und die über
Sechsjährigen zwar bei 30 bis 47 Prozent, in den westlichen Bundesländern für
Kleinkinder jedoch meist unter fünf Prozent und für Kinder im Hortalter zwi-
schen 3 und 18 Prozent. Im Bereich der Kinderbetreuungsangebote muss daher
künftig weitaus mehr und im Ergebnis Erfolgreicheres geleistet werden. Institu-
tionelle Kinderbetreuung ist nicht nur die Grundlage für die Vereinbarkeit von

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/8383

Familie und Erwerbsarbeit, vor allem für Frauen, sondern gleichzeitig ein
zentraler Faktor in der Erziehung, Förderung und Bildung von Kindern. Es be-
stehen daher nicht nur quantitative Anforderungen an den Ausbau der Kinder-
betreuungsangebote in Deutschland, sondern vor allem wegen des Bildungsauf-
trags qualitativ neue Herausforderungen. Die Qualität der Kinderbetreuung ist
selbstverständlich in hohem Maße abhängig von der hohen Professionalität und
den Kompetenzen des eingesetzten Personals. Der Qualifikation und Qualifizie-
rung der Betreuungskräfte gebührt besonderes Augenmerk.
Der 11. Kinder- und Jugendbericht Bericht bestätigt: Der Aufbau eines flächen-
deckenden kinder- und elterngerechten Angebotes an Kindertageseinrichtungen
imWesten und der Erhalt der Strukturen in den östlichen Bundesländern ist von
entscheidender Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Zu
beachten sind dabei auch regionale Trends, die zu unterschiedlichen Bedarfsla-
gen führen: Schon jetzt entwickelt sich der absehbare Bedarf im Westen und
Osten unterschiedlich: Während die Anzahl der Kinder im Westen sinkt, aber
die der Jugendlichen vorerst noch weiter steigt, steigt im Osten die Zahl der
Kinder und die der Jugendlichen sinkt.
Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz muss von den Bundesländern
umgesetzt werden, damit er von den Eltern als Vertreter ihrer anspruchsberech-
tigten Kinder wirklich durchgesetzt werden kann. Gemeinsam mit den Kommu-
nen ist zusätzlich für ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsbetreuung für
Kinder aller Altersstufen zu sorgen. Das Jahr zwischen dem 2. und 3. Lebens-
jahr eines Kindes ist derzeit ohne staatliche Förderung, da das einkommensab-
hängige Erziehungsgeld nur für die ersten beiden Jahre gezahlt wird und der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz erst ab der Vollendung des 3. Le-
bensjahres gilt. Um diese Förderlücke zu schließen, müssen vor allem in diesem
Bereich verstärkt Kinderbetreuungsplätze angeboten werden. Ein Sparpotenzial
besteht in der Beseitigung bürokratischer Hemmnisse, der Entrümpelung Kos-
ten treibender Bauvorschriften für Kindergärten und in dem Verzicht auf über-
holte und überzogene Regulierungen, z. B. bei der räumlichen Ausstattung. Ziel
ist die Schaffung eines neuen Freiraums für Kommunen und die einzelnen Ein-
richtungen um nach konkreten Erfordernissen vor Ort zu entscheiden. Denn
Kommunen und andere Träger von Betreuungseinrichtungen sind durchaus in
der Lage, gemeinsam mit den Eltern zu definieren, welche Standards in ihrer
Gemeinde erforderlich sind und wo Prioritäten gesetzt werden müssen.
Im Rahmen des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz (halbtags zwi-
schen dem 3. und 6. Lebensjahr) soll Kinderbetreuung kostenlos sein. Die Kos-
ten für die Kommunen sind im Bund-Länder-Finanzausgleich zu berücksichti-
gen. Es muss für mehr Markt und Wettbewerb gesorgt werden. Dies wird durch
Einführung eines Gutscheinsystems wie der so genannten KiTa-Card, erreicht.
Damit wird den Eltern ihr Anspruch auf Kinderbetreuung gestellt ohne Zuwei-
sung eines konkreten Kindergartenplatzes. Die Eltern suchen sich als Nachfra-
ger auf dem Markt der Anbieter die von ihnen gewünschte Leistung aus. So
kann ein breiteres und flexibleres Angebot an staatlichen und privaten Kinder-
betreuungsplätzen geschaffen werden. Erst dann können sich Frauen und Män-
ner auf eigenen Wunsch wirklich frei für Familie und Beruf entscheiden. Wenn
durch den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten Müttern und Vätern der
Einstieg bzw. der Verbleib in der Berufstätigkeit ermöglicht oder erleichert
wird, sinkt darüber hinaus das ökonomische Risiko für Familien deutlich.

4. Bildung
Der 11. Kinder- und Jugendbericht zeigt wie auch die Ergebnisse des Forums
Bildung und der PISA-Studie: Bildungsprozesse werden für das Aufwachsen
von Kindern und Jugendlichen immer wichtiger und sind derzeit in Deutsch-
land äußerst unbefriedigend gestaltet. Für die Bildung der jungen Generation

Drucksache 14/8383 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

muss wesentlich mehr und vor allem das Richtige getan werden. Dabei bedeutet
Bildung nicht nur das Aneignen von Wissen und berufsrelevanten Fertigkeiten,
sondern auch die Vermittlung von reflexiven und sozialen Kompetenzen, von
Toleranz und Solidarität mit Benachteiligten und der Bereitschaft und Fähigkeit
zur Übernahme von Verantwortung. Bildung ist nicht allein Aufgabe der
Schule, sondern auch von Kinderbetreuungseinrichtungen, der Jugendhilfe, von
Eltern, aber auch der Gesellschaft als Ganzes. Jugendpolitik ist deshalb auch
Bildungspolitik. Allerdings bedeutet die öffentliche Verantwortung gerade nicht
die Verstaatlichung von Erziehung und Bildung, sondern im Gegenteil die Stär-
kung der Erziehungskompetenzen der Eltern und der Bildungskompetenzen der
Kinder und Jugendlichen.
Die Bildung unserer Kinder muss so früh wie möglich beginnen, denn Bil-
dungsdefizite aus der frühen Kindesentwicklung können von der Schule nur
schwer kompensiert werden. Daher sind Kindergärten zu spielerischen Elemen-
tarschulen aufzuwerten, was eine frühkindliche Förderung mit einem klaren
Bildungskonzept beinhaltet.
In den Schulen muss der Schwerpunkt der Förderung auf die Elementar- und
Grundschule verlagert werden. Notwendig ist eine Vorschulerziehung, in der
bereits spielerisch mit Lesen, Schreiben und Rechnen begonnen wird. Wichtig
ist eine frühere Einschulung mit Eingangstests, Sprachförderung und Erkennen
von Lernschwächen und Hochbegabungen. Fremdsprachen sollen bereits in der
ersten Klasse erlernt werden. Deutschland verschwendet seine Talente, weil sie
nicht erkannt, nicht gefördert und nicht gefordert werden. Ganztagsschulen auf
der Grundlage eines pädagogischen Konzeptes sollen flächendeckend einge-
richtet werden. Dabei muss der Bund Unterstützung leisten, z. B. über einen
Staatsvertrag. Von zentraler Bedeutung sind auch neue Ansätze in der Lehrer-
aus- und weiterbildung.

5. Sozioökonomische Situation von Kindern und Jugendlichen
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und nun der 11. Kin-
der- und Jugendbericht weisen deutlich nach, dass die Entscheidung für die
Gründung einer Familie, besonders mit mehr als einem Kind, in Deutschland
mit ökonomischen Risiken verbunden ist. Damit einher geht die Gefahr der so-
zialen Ausgrenzung durch Nachteile in Bildung, Ausbildung, Gesundheit,
Wohnsituation, sozialen Beziehungen und kultureller Teilhabe. Deutlich ist al-
lerdings auch, dass individuelle finanzielle Transferleistungen allein die Situa-
tion von Familien nicht nachhaltig verbessern.
Zentrale Elemente zur finanziellen Förderung und Entlastung von Familien
sind:
l Durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die finanzielle

Benachteiligung der Familien vor allem im Steuerrecht aufgezeigt worden.
Die Umsetzung vor allem der Urteile von 1999 zur Einführung eines Erzie-
hungs- und eines Betreuungsbetrages bleibt aber hinter dem Notwendigen
und Gebotenen zurück. Deshalb muss die Familie mit Kindern weiter steuer-
lich entlastet werden. Das Existenzminimum der Familie bzw. der Einzel-
personen bleibt als indisponibles Einkommen steuerfrei; nur das darüber hi-
nausgehende Einkommen darf als disponibles Einkommen der progressiven
Besteuerung unterworfen werden. Zur Freistellung des Existenzminimums
gibt es für jeden Bürger, also auch für jedes Kind, einen einheitlichen Grund-
freibetrag von 7 500 Euro. Der besonderen Belastung von Familien wird
durch diese Verdoppelung des Freibetrags für Kinder Rechnung getragen.
Das Kindergeld wird entsprechend angepasst.

l Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte stärkere Berücksichtigung
der Kindererziehung in der Sozialversicherung soll nicht durch eine Bei-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/8383

tragsstaffelung nach Kinderzahl verwirklicht werden, sondern durch direkte
Zuschüsse zu den Beiträgen an die Familien. Familien zu fördern ist Auf-
gabe staatlicher Sozialpolitik. Familienpolitische Leistungen sind als Trans-
ferleistungen von Versicherungsleistungen zu trennen.

l Als Konsequenz aus dem Verfassungsgerichtsurteil zur Pflegeversicherung
vom April 2001 sind Familien mit Kindern während der Erziehungsphase
der Kinder (und nur während der Phase der Kindererziehung) in der Sozial-
versicherung dort zu entlasten, wo ihr Beitrag zur intergenerativen Kosten-
verteilung nicht ausreichend berücksichtigt wird.

Für die Förderung der sozialen Infrastruktur für Familien gilt:
l Die Ausgestaltung einer sozialen Infrastruktur ist besonders für Kinder

wichtig. Erziehung, Bildung, Betreuung, Beratung, Freizeit sind ebenso be-
deutend wie die direkte Familienförderung. Die Infrastruktur des sozialen
Kinderlebens ist in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfeplanung stärker
zu berücksichtigen. Kindern müssen Angebote gemacht werden, die ihre In-
teressen aufnehmen, ihre aktive Beteiligung ermöglichen, ihre Verantwor-
tung fördern und fordern. Eine verstärkte Zusammenarbeit von Familien,
Schulen, sowie der Kinder- und Jugendhilfe ist generell zur Förderung der
Entwicklungschancen von Kindern dringend erforderlich. Wohnung und
Wohnumfeld spielen für die kindliche Entwicklung eine zentrale Rolle. Eine
kinderfreundlichere Kommune ist eine menschenfreundlichere Kommune.
Durch eine Entwicklung hin zu kinderfreundlicheren Lebensbedingungen
verbessern sich die Lebensbedingungen für alle.

6. Ausbildung und Arbeit
Ausbildung und Qualifizierung der Jugend entscheiden über die Zukunft unse-
rer Gesellschaft. Ausbildung und Arbeit sind für die Jugendlichen selbst mehr
als nur die Grundlage für ein wirtschaftlich unabhängiges Leben. Sie beinhalten
auch eine zentrale Bedeutung für die Identitätsfindung, die Selbstverwirkli-
chung und -bestimmung. Die bisherige Politik hat jedoch nicht verhindern kön-
nen, dass vielen Jugendlichen die Chancen, in ein qualifiziertes und erfülltes Er-
werbsleben einzutreten, erschwert oder verwehrt sind. Das Bildungs- und
Ausbildungssystem kann einerseits den Bedarf an hoch qualifizierten Ar-
beitskräften nicht decken und andererseits finden ca. 10 % der Jugendlichen
keinen Arbeitsplatz.
Es kommt darauf an, den jungen Menschen Optionen zu geben, durch eigene
Arbeit am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben. Nur so kann das Ideal eines
selbstbewussten, starken und solidarischen Individuums, das für die Weiterent-
wicklung der Gesellschaft unverzichtbar ist, erreicht werden. Es darf nicht
schon bei Kindern und Jugendlichen der Eindruck der Perspektivlosigkeit in
dieser Gesellschaft entstehen. Der bisherigen Fehlsteuerung im Bildungs- und
Ausbildungssystem muss entschieden und mit vielfältigen und unkonventionel-
len Ideen und Ansätzen entgegengewirkt werden. Reformen in der Bildungspo-
litik und in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sind gerade auch für die
Zukunft der jungen Menschen dringend geboten.
Diese beinhalten flexiblere Regelungen für das Berufsausbildungssystem. Statt
einer starren, staatlich verordneten Berufsausbildung sollten flexiblere Rah-
menbedingungen mit Modulsystemcharakter geschaffen werden. Das entspricht
der dynamischen Entwicklung in der heutigen Arbeitswelt. Dabei geht es insbe-
sondere um eine generelle Verkürzung der Ausbildungszeiten und um eine bes-
sere Anpassung der Berufsbilder an die Anforderungen der Wirtschaft bei Bei-
behaltung des Berufsprinzips.

Drucksache 14/8383 – 6 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Eine verbesserte Bildungspolitik mit hohen Qualitätsstandards muss die Förde-
rung und Forderung von Hochbegabten genauso sicherstellen wie die von Lern-
und Leistungsschwachen und von jungen Menschen mit Behinderungen. Alle
Bildungsinstanzen müssen Jugendliche weitaus besser als heute auf das Er-
werbsleben vorbereiten und ihnen mehr Orientierung, Begleitung und Unter-
stützung für den Berufsweg geben. Verbesserungen der allgemeinwirtschaft-
lichen Rahmenbedingungen müssen dazu führen, dass für Arbeitgeber Anreize
zur Ausbildung junger Menschen bestehen und dass der Arbeitsmarkt insge-
samt einen deutlichen Aufschwung erfährt.

7. Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und Integration Behinderter
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als „Zustand des
vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“. Geht man
von diesem Begriff aus, ist festzustellen, dass junge Menschen in Deutschland
in vielerlei Form gesundheitliche Beeinträchtigungen erfahren: durch chroni-
sche Krankheiten, Behinderung, Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch
und eigenen Nikotin-, Alkohol- und Drogenkonsum.
Die Kinder- und Jugendpolitik ist aufgerufen, im Bereich der Gesundheitsprä-
vention und -förderung aktiver zu werden. Die jungen Menschen selbst, ihre
Familien und die Institutionen ihres Umfeldes können einen wesentlichen Bei-
trag zur Verbesserung der Situation leisten: Es gilt, Ressourcen zur Erhaltung
und Förderung der Gesundheit junger Menschen zu aktivieren, gesundheitsbe-
wusste Lebensweisen als Vorbild und Realität zu etablieren, fördernde Netz-
werke zu pflegen und gesundheitsfördernde Institutionen zu stärken. Die Bil-
dungsinstitutionen, die Kinder- und Jugendhilfe und auch Vereine sind
gefordert, zum einen in den Alltag junger Menschen gesundheitsfördernde Ele-
mente wie Bewegung, Sport und gesundes Essen direkt einzubringen und zum
andern Kindern und Jugendlichen gesundheitsbewusste Lebensweisen und
Spaß daran zu vermitteln. Die Förderung der Gesundheit aller Kinder und Ju-
gendlichen und die Integration behinderter junger Menschen muss Ziel der ge-
nannten Institutionen, aber auch jedes Einzelnen und der Gesellschaft insge-
samt sein.

8. Migration, kulturelle Vielfalt und kulturelle Praxis
Die Bundesrepublik Deutschland ist geprägt durch jahrzehntelangen Zuzug von
Ausländern, die auf Dauer in Deutschland leben wollen. Auch in Zukunft wird
es in Deutschland Einwanderung geben. Kinder und Jugendliche wachsen heute
in einer kulturell heterogenen Umwelt auf.
Das Recht auf Erziehung und Bildung muss allen Kindern und Jugendlichen,
die auf deutschem Boden leben, gleichberechtigt zustehen. Einschränkungen
aufgrund des Staatsangehörigkeitsprinzips sowie des Rechts- bzw. Aufenthalts-
status der Eltern oder der Kinder sind aufzuheben. Die deutsche Vorbehaltser-
klärung zur VN-Kinderrechtskonvention muss zurückgenommen werden.
Die Integration von Ausländern muss aktiv und systematisch gefördert werden.
Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist
dabei zugleich Herausforderung und Chance. Diese jungen Menschen können
Brücken und Vermittler zwischen den Kulturen bilden. Voraussetzung ist aber,
dass sie über umfassende deutsche Sprachkompetenzen und Vertrautheit mit der
deutschen Kultur verfügen. Das Bildungswesen, beginnend mit den Betreu-
ungseinrichtungen, und die Kinder- und Jugendhilfe müssen in besonderem
Maße zur Integration von Migranten und zur Vermittlung sprachlicher und in-
terkultureller Kompetenz beitragen. Dabei ist auch wichtig, dass Kinder und
Jugendliche ohne Migrationshintergrund lernen, mit Unterschiedlichkeit tole-
rant und gewaltfrei umzugehen.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 7 – Drucksache 14/8383

9. Partizipation von Kindern und Jugendlichen
Kinder und Jugendliche zeigen zwar eine Distanz zum politischen System, aber
dennoch den Wunsch nach politischer Beteiligung. Sie wenden sich vielfach ab
von der offiziellen Politik und den etablierten politischen Instanzen, aber zeigen
gleichzeitig konkretes politisches Engagement in Ehrenämtern und Gemeinwe-
senprojekten. Junge Menschen wollen Verantwortung tragen und ihre Welt mit-
gestalten. Sie erheben zu Recht Anspruch auf Teilhabe und Beteiligung.
Um dieses Potenzial zu nutzen, müssen ihnen allerdings ernst gemeinte und auf
sie zugeschnittene, altersdifferenzierte Angebote zur Teilhabe am politischen
und gesellschaftlichen Leben gemacht werden. Sie wollen als eigene Persön-
lichkeiten, Träger von Rechten und Pflichten wahrgenommen und integriert
werden. Dann sind sie auch bereit, einen Beitrag zur Gestaltung der Gesell-
schaft zu leisten und Verantwortung auch in Form ehrenamtlich-freiwilliger Tä-
tigkeiten zu übernehmen. Bei den jungen Menschen in Deutschland liegen
große bürgerschaftliche Kräfte zur Entwicklung einer demokratischen Lebens-
kultur in einem freiheitlichen Gemeinwesen. Ein wichtiger Baustein zur Akti-
vierung dieser Kräfte ist die Einführung eines innovativen allgemeinen Jugend-
freiwilligendienstes durch ein entsprechendes Gesetz. Wissenschaftliche
Erkenntnisse, Konzepte und politische Forderungen hierzu liegen vor.
Wir müssen schon den ganz jungen Menschen die Möglichkeit geben, ihrem
Alter entsprechend mitzureden, mitzugestalten, mitzuentscheiden. Die VN-
Kinderrechtskonvention sieht ausdrücklich ein solches Recht zur Partizipation
vor. Artikel 12, Absatz 2 der Konvention verlangt, dass dem Kind Gelegenheit
gegeben werden soll, in allen es berührenden Verwaltungsverfahren entweder
unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang
mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften gehört zu werden. Deshalb müssen,
wie die Kinderkommission des Deutschen Bundestages empfohlen hat, im un-
mittelbaren Lebensumfeld die Partizipationsmöglichkeiten für Kinder, etwa
durch die Errichtung von Kinder- und Jugendparlamenten etc., weiterentwickelt
werden. Den Kindern ist eine aktive Rolle in den maßgeblichen Entscheidungs-
prozessen einzuräumen.
Aber die Kinder erfahren in unserem Land zu wenig über diese Rechte. Die in
der Konvention festgelegten Rechte müssen sich endlich auch in den Lehrplä-
nen unserer Schulen wiederfinden. Nur wer seine Rechte kennt, kann sie nut-
zen. Nur dann wird die freiheitlich-demokratische Grundordnung erfahrbar für
die jungen Menschen. Und nur, wer unsere Gesellschaftsordnung als positiv er-
fährt, wer erlebt, dass er darin mitgestalten kann, wird immun gegen antidemo-
kratische Verführer von rechts und links.

10. Demographischer Wandel
Der Anteil der jungen Menschen unter 20 Jahren an der Bevölkerung in
Deutschland halbiert sich fast innerhalb von 50 Jahren: Er wird von 30 % im
Jahre 1970 auf 17 % im Jahre 2020 sinken. Im selben Zeitraum wird sich der
Anteil der Menschen über 65 Jahre etwa verdoppeln: Er wird von 10 bis 13 %
im Jahre 1970 auf 22 % im Jahre 2020 steigen. Das Verhältnis von Jung und Alt
kehrt sich damit um: unsere Gesellschaft wird kinderarm.
Ob, in welchemMaße und mit welchen Mitteln diese demographische Entwick-
lung steuerbar ist, ist wissenschaftlich und politisch umstritten. Fest steht, dass
der demographische Wandel unsere Politik und unsere Gesellschaft vor große
Herausforderungen stellt und dass schon jetzt ein gezieltes Handeln überfällig
ist. Kinder-, Jugend- und Familienpolitik müssen einen höheren Stellenwert er-
halten. Klar ist auch, dass die gesamte Lebens- und Arbeitswelt in Deutschland
kinder- und familienfreundlicher werden muss, damit nicht die Zukunftspers-
pektive Deutschlands eine kinderlose Gesellschaft ist.

Drucksache 14/8383 – 8 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
11. Generationengerechtigkeit
Die jungen Menschen erleben unsere Gesellschaft nicht als eine, die Generatio-
nengerechtigkeit verwirklicht. Sie sehen die Gefahr, dass die Wohltaten von
heute durch Hypotheken zu ihren Lasten finanziert werden. Sie fordern zu
Recht einen neuen Generationenvertrag.
Notwendig ist ein Systemwechsel bei den sozialen Leistungen, eine Umvertei-
lung der Belastungen zwischen den Generationen, eine familienfreundliche Ge-
staltung der Arbeitswelt sowie der Ausbau einer bedarfsgerechten sozialen
Infrastruktur. Generationengerechtigkeit bedeutet auch den Erhalt der ökologi-
schen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrundlage für künftige Generatio-
nen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, jährlich eine Generationenbilanz
vorzulegen. Diese muss auf der Sollseite die Leistungen für Bildung und Aus-
bildung darstellen, auf der Habenseite die Belastungen durch Staatsverschul-
dung, Pensionslasten und Generationenverträge wie gesetzliche Rentenversi-
cherung. Eine solche Generationenbilanz leistet zweierlei: Sie ist Anerkennung
der Lebensleistung der Älteren und gleichzeitig ein wichtiger Baustein bei der
Zukunftssicherung unsere Kinder.

Berlin, den 26. Februar 2002
Klaus Haupt
Dr. Irmgard Schwaetzer
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Rainer Funke
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Marita Sehn
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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