BT-Drucksache 14/827

Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten am Leben der Gemeinschaft, zu deren Gleichstellung und zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile (Teilhabesicherungsgesetz - ThSG)

Vom 23. April 1999


Deutscher Bundestag: Drucksache 14/827 vom 23.04.1999

Antrag der Fraktion der PDS Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der
vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronischen
Krankheiten am Leben der Gemeinschaft, (Teilhabesicherungsgesetz --
ThSG) =

23.04.1999 - 827


14/827


Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der
Fraktion der PDS
Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen Teilhabe von Menschen
mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten am Leben der
Gemeinschaft,
zu deren Gleichstellung und zum Ausgleich behinderungsbedingter
Nachteile
(Teilhabesicherungsgesetz -- ThSG)

Der Bundestag wolle beschließen:
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1.
Im Dezember 1993 beschloß die Generalversammlung der Vereinten Nationen
die "Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für
Menschen mit Behinderungen (Standard Rules)". Die Bundesrepublik
Deutschland bekannte sich zu deren Umsetzung im nationalstaatlichen
Rahmen. Vor diesem Hintergrund wurde im Jahre 1994 das Grundgesetz um
den Zusatz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden." (Artikel 3 Abs. 3) ergänzt.
2.
In ihrer Koalitionsvereinbarung bekennen sich SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zu einem leistungsfähigen Sozialstaat, der die Solidarität aller
einfordert und Chancengerechtigkeit mit dem Ziel herstellt,
Eigenverantwortung und Selbständigkeit der/des einzelnen zu
ermöglichen. Die neue Bundesregierung will alle Anstrengungen
unternehmen, um die Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen zu fördern und dem im Grundgesetz
verankerten Benachteiligungsverbot für Behinderte Geltung zu
verschaffen.
3.
Die nähere Ausformulierung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes im
Artikel 3 GG hat, wie die Praxis beweist, wesentlich
Interpretationswert für die Gleichbehandlung vor dem Gesetz unter dem
Gesichtspunkt des Staatshandelns.

Eine weitere Ausdehnung auf Rechtsgeschäfte des Zivilrechts und konkret
einklagbares Recht für Menschen mit Behinderungen zur Beseitigung von
Diskriminierungen und Herstellung von Chancengleichheit sowie der
vollen Teilhabe am Leben der Gesellschaft wurden damit nicht
geschaffen.

Als Grundrecht, das die einzelnen vor Ungleichbehandlung schützt, löst
das Benachteiligungsverbot für sich genommen keine Ansprüche auf
staatliche Leistungen aus.
4.
Es bestehen in der Bundesrepublik Deutschland trotz eines entwickelten
Sozialsystems schwerwiegende Defizite und Hindernisse, die es Mädchen
und Jungen, Frauen und Männern mit Behinderungen erschweren bzw.
unmöglich machen, ihre Rechte und Freiheiten wahrzunehmen.

Die seit Jahren abgegebenen und nicht eingelösten Bekenntnisse zur
Ausgestaltung der Rechtssicherheit für Menschen mit Behinderungen
verstärken in der Behindertenbewegung die Forderung nach einer
tatsächlich vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am
gesellschaftlichen Leben.
5.
Die volle Teilhabe von Menschen mit den verschiedensten Behinderungen
und/oder chronischen Krankheiten am gesellschaftlichen Leben setzt die
uneingeschränkte Geltung aller Menschen- und Bürgerrechte auch für
Frauen und Männer mit körperlichen, geistigen, sensorischen und/oder
seelischen Beeinträchtigungen voraus. Dazu bedarf es des Ausgleichs
real existierender Nachteile sowie des Abbaus, der Beseitigung
vorhandener und der Verhinderung neuer Benachteiligungen und Barrieren.
6.
Ein ThSG soll Frauen und Männern mit Behinderung einen Rechtsanspruch
auf soziale Grundsicherung und Nachteilsausgleiche gewährleisten sowie
durch die Einklagbarkeit von Benachteiligungs- und
Diskriminierungsverboten ihre Selbstbestimmung, Chancengleichheit und
volle soziale Teilhabe am Leben der Gesellschaft ermöglichen.

Ein solches Gesetz stärkt die Rechte behinderter Menschen und ihrer
Selbsthilfeorganisationen. Der Ausbau weiterer gesetzlicher Grundlagen
-- insbesondere die materielle Sicherung der Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen -- eröffnet Modellen selbstbestimmter Lebensführung in
allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens reale Perspektiven.
7.
Die Gleichstellung von Frauen und Mädchen mit Behinderungen ist
besonders hervorzuheben, denn sie sind nach wie vor doppelt
benachteiligt und diskriminiert. Sie werden oft nicht als Frauen
akzeptiert, ein Leben als Mutter wird ihnen häufig verwehrt, das
traditionelle geschlechtsspezifische Rollenverständnis zwingt sie nicht
selten in eine Ausbildung und Erwerbstätigkeit, die auf den häuslichen
und Dienstleistungsbereich beschränkt bleibt.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
zur Ausgestaltung des Grundgesetzauftrags (Artikel 1, 2, 3,
insbesondere Absatz 3 Satz 2 "Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden.") spätestens innerhalb eines Jahres den Entwurf
für ein ThSG zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und/oder
chronischen Krankheiten und zum Ausgleich behinderungsbedingter
Nachteile vorzulegen. Dieses Gesetz soll der realen Gleichstellung von
Menschen mit und ohne Behinderungen dienen, behinderungsbezogene
Diskriminierungen ahnden und behinderungsbedingte Nachteile
ausgleichen.
Dazu hat das vorzulegende Gesetz folgende Grundsätze zu
berücksichtigen:

Sicherung der uneingeschränkten Geltung der Menschen- und Bürgerrechte
für Menschen mit Behinderungen

Ahndung von vorsätzlichen, grob fahrlässig oder schuldhaft verursachten
diskriminierenden Handlungen, Äußerungen und Verhaltensweisen (konkrete
Benennung von Schadensersatzansprüchen)

Einführung eines eigenen Verbandsklagerechts für
Behindertenorganisationen vor den Gerichten

Rechtsanspruch auf Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile

aktive Informations- und Aufklärungspflicht aller Verwaltungsebenen
gegenüber den Betroffenen; Pflicht zur aktiven Beseitigung
diskriminierender Tatbestände bzw. behinderungsbedingter
Benachteiligungen

Anerkennung und Umsetzung von Leistungsansprüchen nach diesem Gesetz,
ausgehend vom aktuellen Status der Behinderung (Finalitätsprinzip)

Zusammenfassung und Vereinheitlichung der bestehenden Leistungen für
Menschen mit Behinderungen

Sicherung des Menschenrechts auf volle Teilhabe am Leben der
Gemeinschaft durch Abbau und Beseitigung bestehender sowie Verhinderung
der Schaffung neuer baulicher, kommunikativer und sonstiger Barrieren
in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens

Geltung für alle Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen
Krankheiten mit Hauptwohnsitz in Deutschland
Für die Anwendung des Begriffes "Behinderung" im ThSG soll die
Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde gelegt
werden. Dabei sind diskriminierende oder herabwürdigende Bezeichnungen
auszuschließen, die Menschen ausschließlich über ihre Defizite
definieren. Die WHO-Klassifikation bezieht sich gegenwärtig auf
"Schädigung" (impairment), "Funktionsbeeinträchtigung" (disability) und
"soziale Beeinträchtigung" (handicap).
Das ThSG soll folgende grundlegende Bestandteile beinhalten:
Menschen- und Bürgerrechte
Die Menschen- und Bürgerrechte von Menschen mit Behinderungen werden
durch
--
Gleichstellungsgebote,
--
Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbote,
--
ein eigenes Verbandsklagerecht für Behindertenorganisationen,
--
ein Anhörungsrecht für Behindertenorganisationen in gesetzgeberischen
und Planfeststellungsverfahren, die Belange von Menschen mit
Behinderungen betreffen,
verbindlich festgeschrieben.
Gleichstellung und Nachteilsausgleich
Das Gesetz hat in diesem Zusammenhang folgende Hauptinhalte zu regeln:
Gleichstellung und Nachteilsausgleiche haben sich an dem
Maßnahmekatalog der Eingliederungshilfe nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und den Leistungsparametern für
behinderte Versorgungsempfänger nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG)
zu orientieren.
Bisherige, vor allem steuerrechtlich wirkende Nachteilsausgleiche, sind
auf ihre Aktualität und Wirksamkeit zu überprüfen und im Interesse der
betroffenen Menschen mit Behinderungen weiter auszugestalten.
Es ist der Rahmen einer Grundsicherung und einer damit verbundenen
behinderungsbedingten Nachteilsausgleichsregelung in Form eines
Teilhabesicherungsgeldes zu bestimmen, zu begründen und einzuführen.
Teilhabesicherungsgeld für Menschen mit Behinderungen

Es wird ein Rechtsanspruch auf ein Teilhabesicherungsgeld
festgeschrieben.

Das Teilhabesicherungsgeld besteht aus

--
einer sozialen Grundsicherung, die das soziokulturelle Existenzminimum
gewährleistet (Sockelbetrag, nach Berechnungen von 1996 = 1 425
DM/Monat), und

--
einem zusätzlichen Betrag, der den behinderungsbedingten Mehrbedarf
pauschaliert abdeckt und so gesellschaftlich bedingte Nachteile
ausgleicht.

Umfang und Dauer des Bezugs von Teilhabesicherungsgeld orientieren sich
an einer optimalen Eingliederung und Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben unter Berücksichtigung der individuellen Benachteiligung des
behinderten Menschen. Das Teilhabesicherungsgeld ist regelmäßig zu
dynamisieren.

Damit sich Erwerbstätigkeit auch für Menschen mit Behinderungen lohnt,
ist gesetzlich zu regeln, bis zu welcher Höhe des Erwerbseinkommens das
Teilhabesicherungsgeld ungeschmälert ausgezahlt wird.

Sofern kein eigenes oder nur unter dem Sockelbetrag liegendes
Erwerbseinkommen erzielt wird, besteht zusätzlich Ausgleichsanspruch
durch Zahlung von Wohngeld und Übernahme der Kranken-, Unfall- und
Pflegeversicherungsbeiträge.

Für Kinder mit Behinderungen besteht vom Zeitpunkt der Feststellung der
Schädigung an Anspruch auf individuellen Ausgleich des
behinderungsbedingten Mehrbedarfs.
Gewährleistung der persönlichen Assistenz

Persönliche Assistenz bzw. assistierende Begleitung werden zur
Regelform des Nachteilsausgleichs bei den Verrichtungen des
Alltagslebens (einschließlich der Befriedigung soziokultureller
Bedürfnisse) für diejenigen behinderten Menschen, die dies wünschen.
Dabei liegen die Personal-, Anleitungs-, Zeit- und Ortskompetenzen bei
den Betroffenen, und sie müssen über die dem Bedarf entsprechenden
Finanzen verfügen können.

Bei der schulischen Ausbildung, in der Lehre, beim Studium und bei der
Berufsausübung werden für diejenigen behinderten Menschen, die
begleitende Assistenz brauchen, entsprechende personelle, bauliche
und/oder finanzielle Voraussetzungen geschaffen (Ausbildungsassistenz).
Beschäftigungspolitik für Menschen mit Behinderungen
Das Grundrecht, Beruf, Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz frei wählen
zu können, ist mit konkreten Maßnahmen festzuschreiben, wie z. B.
--
die gesetzliche Verpflichtung von Arbeitgebern, planerische Maßnahmen
zur Erfüllung der Beschäftigungs- und Förderpflichten nach dem
Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zu ergreifen
--
die Bereitstellung und Stärkung von Beratungsdiensten unter
Einbeziehung von Behindertenorganisationen, mit dem Ziel, den Zugang
für Menschen mit Behinderung zum ersten Arbeitsmarkt wesentlich zu
verbessern
--
die verbindlichere Ausgestaltung der Arbeitgeberpflichten nach § 14
SchwbG als individuelle Rechtsansprüche für Menschen mit Behinderungen
--
die unabhängig vom Grad der Behinderung gleichberechtigte Einbeziehung
von Menschen mit Behinderungen in den arbeitsrechtlichen
Schwerbehindertenschutz, wenn sie behinderungsbedingt schwerwiegenden
Nachteilen am Arbeitsmarkt ausgesetzt sind
--
die qualifiziertere Ausgestaltung der Rechtsstellung und die
Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung bei Einstellungen
und weiteren personellen Maßnahmen
Erwerbstätigkeit und Arbeitsassistenz, Beschäftigungspflicht und
Ausgleichsabgabe

Wenn zur Aufnahme und/oder zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit
assistierende Begleitung erforderlich ist, besteht Anspruch darauf,
entsprechend geeignete Personen zusätzlich einzustellen
(Arbeitsassistenz). Die Auswahl der Assistentinnen/Assistenten obliegt
der/dem Erwerbstätigen mit Behinderungen. Die Finanzierung der
Assistentinnen/Assistenten erfolgt aus Mitteln der Ausgleichsabgabe und
nach Tarif.

Für Arbeitgeber der öffentlichen Hand, die über mindesten 16
Arbeitsplätze im Sinne des § 7 Abs. 1 SchwbG verfügen, sind nach § 5
Abs. 2 SchwbG auf 8 % der Arbeitsplätze Schwerbehinderte zu
beschäftigen.

Um die gesetzlich vorgeschriebene Pflichtquote zur Beschäftigung
Schwerbehinderter auf dem ersten Arbeitsmarkt konsequenter
durchzusetzen, wird die monatliche Ausgleichsabgabe für jeden
unbesetzten Pflichtplatz auf das jeweilige jährlich zu ermittelnde
soziokulturelle Existenzminimum festgesetzt.

Die Ausgleichsabgabe darf wegen ihrer Funktion als Sanktion nicht
steuerlich absetzbar sein. Ausgenommen werden davon
Steuervergünstigungen, die durch Übergabe von Aufträgen an Werkstätten
für Behinderte geltend gemacht werden können.

Private Unternehmen und öffentliche Einrichtungen, die die Pflichtquote
übertreffen, erhalten aus den Einnahmen der Ausgleichsabgabe einen
entsprechenden Bonus in der Höhe des soziokulturellen Existenzminimums.
Am Bonussystem werden auch Kleinstbetriebe (unter 16 Beschäftigte)
beteiligt, wenn sie Schwerbehinderte beschäftigen.

Für die Beschäftigten in Werkstätten für Behinderte (WfB) werden
arbeitsrechtliche Vertragsverhältnisse eingeführt. Sie sind den anderen
Erwerbstätigen und Teilnehmern an beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen
gleichzustellen. Die Leistungen behinderter Menschen in den WfB sind so
leistungsbezogen und menschenwürdig zu entlohnen, daß sie soweit wie
möglich persönlich und finanziell unabhängig und in Würde ihr eigenes
Leben gestalten können.
Barrierefreiheit
Kommunikative und bauliche Barrierefreiheit sind wesentliche
Bestandteile der behindertengerechten Gestaltung der Umwelt und
Grundvoraussetzung, um eine volle Teilhabe von Menschen mit und ohne
Behinderung an allen Belangen der Gesellschaft zu schaffen.
Zugang zur baulichen Umwelt

Im § 1 BauGB ist als Ergänzung zur bestehenden, aber zu unverbindlichen
Formulierung "Berücksichtigung der Belange Behinderter" ein weiterer
Satz aufzunehmen, der die unmißverständliche Aussage enthält: "Gebäude
und Einrichtungen müssen barrierefrei sein."

Barrierefreies Bauen muß Bestandteil der Grundausbildung für
Architekten und Bauingenieure werden.
Kommunikation und Informationszugang

Barrieren für die Kommunikation und den Informationszugang sind --
insbesondere für seh-, hör- und sprachgeschädigte Frauen und Männer --
in allen Bereichen des Lebens zu verhindern bzw. sukzessive zu
beseitigen. Dazu ist die Einführung entsprechender Normen und Verfahren
(z. B. Audio-Description usw.) gesetzlich zu verankern.

Die deutsche Gebärdensprache ist als eine Form der deutschen Sprache
anzuerkennen. Der Beruf Gebärdendolmetscherin/
-dolmetscher wird als vollwertiger Beruf eingeführt; die Ausbildung und
Finanzierung sind zu fördern. Barrieren für die Zeichensprache werden
abgebaut.
Öffentlicher Personenverkehr

Betriebsgenehmigungen für Personentransportfahrzeuge, -fluggeräte und -
schiffe sind zwingend an die uneingeschränkte Benutzbarkeit für alle
(potentiellen) Fahrgäste zu binden (d. h. fahrzeuggebundene
Einstieghilfen; rollstuhlgerechte Toiletten; kontrastreiche
Signalführung; akustische und optische Stationsanzeige; Rettungswege
und -geräte auch für schwerbehinderte Fahrgäste usw.).
Förderung von Selbsthilfe

Selbsthilfegruppen und -verbände von Menschen mit Behinderungen
und/oder chronischen Krankheiten sowie deren Angehörige, Freunde und
ständige Begleiterinnen/Begleiter sind unverzichtbarer Faktor im
sozialen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland.

Für die Förderung der Selbsthilfe sind verläßliche rechtliche,
personelle, sachliche und finanzielle Grundlagen (Rahmenbedingungen) zu
schaffen und gesetzlich festzuschreiben, wie z. B. die Schaffung von:

1.
Schutznormen (haftungsrechtliche Fragen)

2.
Ausgleichs- und Ersatzregelungen (Fahrt- und Aufwandskosten)

3.
Fördernormen für das Ehrenamt (Qualifikationsmöglichkeiten)

4.
Anreizregelungen (Steuervergünstigungen)

5.
verschiedenen Formen der materiellen und finanziellen Unterstützung (z.
B. institutionelle Förderung)

Langfristig ist eine gemeinsame und einheitliche Finanzierung der
Selbsthilfe und ihrer Infrastruktur zu entwickeln.

Kurzfristig ist der § 20 Abs. 3 SGB V neu und verbindlicher (mindestens
als Soll-Bestimmung) zu fassen und in das ThSG zu überführen.
Die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln richtet sich nach dem
individuellen Bedarf und steht nicht vorrangig unter Kostenvorbehalt.
Neufassung und Änderung von rechtlichen Regelungen

Der § 3 a Satz 2 BSHG (Kostenvorbehalt und Einschränkung des Vorrangs
der offenen Hilfen) wird ersatzlos gestrichen. Die bis 1996 geltende
Fassung des § 3 a tritt wieder uneingeschränkt in Kraft.

Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wird vom Nachrang des
BSHG befreit und im ThSG für Menschen mit Behinderungen weiter
ausgestaltet.

In Rechtsstreitigkeiten um behinderungsbedingte Benachteiligungen
und/oder Diskriminierungen ist die Beweislast zugunsten von Menschen
mit Behinderungen umzukehren. Sie müssen nicht länger nachweisen, daß
ihre selbstbestimmte Lebensweise billiger und menschengerechter ist,
sondern ihnen muß nachgewiesen werden, daß andere Entscheidungen (z. B.
von Behörden) tatsächlich zu ihrem Vorteil wären.

Aus materiellen und immateriellen Diskriminierungen, die auf soziale
Beeinträchtigungen (handicaps) zurückzuführen sind, müssen zivil-,
verwaltungs- und/oder strafrechtliche Ansprüche auf Schadensersatz bzw.
Schmerzensgeld der Betroffenen gegen den/die Verursacher abgeleitet
werden können.

Aus hoheitlichem Handeln, das neue Barrieren errichten hilft,
bestehende nicht beseitigt, wo dies möglich wäre, oder sonstige
Tatsachen schafft, die dem Ziel dieses Gesetzes -- Ermöglichung der
vollen Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderungen am Leben der
Gemeinschaft -- zuwiderlaufen, entstehen Schadensersatzansprüche gegen
den/die Verursacher. Diese Schadensersatzansprüche können sowohl von
betroffenen Einzelpersonen als auch von Selbsthilfegruppen und
Behindertenverbänden geltend gemacht werden.

Nach dem Grundsatz "soviel Schutz im Rechtsverkehr wie nötig, soviel
Eigenverantwortung wie möglich" sind die gesetzlichen Bestimmungen zur
Geschäftsunfähigkeit bzw. eingeschränkten Geschäftsfähigkeit und zur
Haftungsverantwortlichkeit (siehe z. B. §§ 105, 828 BGB) unter dem
Blickwinkel Würde des Menschen, Benachteiligungsverbot,
Chancengerechtigkeit und Nachteilsausgleich anzupassen.

Das Bundeswahlgesetz muß durch verbindliche Festlegungen ergänzt
werden, die eine barrierefreie Zugängigkeit der Wahllokale sowie den
Anspruch von Menschen mit Behinderungen auf bestimmte Wahlhilfen
(ertastbare Wahlzettel bzw. entsprechende Schablonen für Blinde,
schriftliche und/oder bildliche Erklärungshilfen in einfacher Sprache
zum besseren Verständnis des Wahlverfahrens) vorschreiben.
Geltungsbereich und Anspruchsberechtigung
Dieses Gesetz soll für alle in Deutschland lebenden Menschen mit
Behinderungen und/oder chronischen Krankheiten gelten,
--
die ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben. Ansprüche aus diesem
Gesetz haben diese Menschen auch für die Dauer von Arbeits-,
Ausbildungs-, Studien- oder vergleichbaren Aufenthalten im Ausland, wie
z. B. im Rahmen von Jugend- und sonstigen Austauschprogrammen und für
die Zeit von Erholungsaufenthalten im Ausland, sofern letztere
zusammengerechnet nicht länger als die Hälfte des Jahres dauern.
--
die auf der Grundlage eines Feststellungsbescheides von
Versorgungsämtern mit einem entsprechenden Grad der Behinderung (GdB)
eingestuft sind.
Grundzüge der Finanzierung für die aus dem ThSG erwachsenden Ansprüche:

Die Nachteilsausgleichsleistungen werden aus allgemeinen Steuermitteln,
durch Umverteilungen zwischen den Leistungsträgern und durch die zu
erwartenden Einnahmen aus der erhöhten Ausgleichsabgabe finanziert. Von
der Bundesregierung ist dafür eine differenzierte Berechnung der
erforderlichen Finanzierung, insbesondere des einzuführenden
Teilhabesicherungsgeldes, vorzulegen. Dabei ist genau auszuweisen,
welche Leistungen ohnehin bereits nach verschiedenen bestehenden
Gesetzen erbracht werden und wie hoch der Mehrbedarf ist.

Die Finanzierung der aus dem ThSG erwachsenden Ansprüche erfolgt nach
dem Prinzip "Ansprüche aus Bundesgesetzen werden aus Einkünften des
Bundes finanziert". Dementsprechend werden die
Nachteilsausgleichsleistungen über die Versorgungsämter erbracht, wobei
die bisherige -- von den Sozialämtern vorgenommene --
Bedürftigkeitsprüfung entfällt.

Da eine Reihe der Leistungen, die sich aus dem ThSG ergeben, in ihren
Grundzügen bereits existiert (wenn auch bisher -- wegen des
Ursachenprinzips -- unterschiedliche Zugangsberechtigungen bestehen),
sind die bestehenden Finanzierungsquellen zusammenzufassen und durch
Umschichtungen umfassender zu erschließen. Als weitere
Finanzierungsquellen sind zu nutzen:

--
die Einführung der Versicherungspflicht für jede Stunde Erwerbsarbeit
sowie die Einbeziehung weiterer Gruppen (Beamte, Selbständige etc.)

--
die Wiedereinführung der Vermögensteuer

--
eine Erhöhung der Branntweinsteuer sowie ggf. der Tabaksteuer, die
ausschließlich dem Bund zufließen

--
eine wirksamere Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht

Die Einführung des Finalitätsprinzips ermöglicht gleiche Leistungen für
gleichartige bzw. gleichwertige Benachteiligungen; bisherige
Leistungsansprüche aus dem BSHG, dem BVG und der Beamtenversorgung
(Beihilfe) werden auf dem für die Betroffenen jeweils günstigsten
Niveau vereinheitlicht, wobei der Bestandsschutz für bisherige
Leistungsbezieherinnen/-bezieher erhalten wird.

Die kommunalen Kassen werden dadurch von Sozialausgaben erheblich
entlastet, daß die Versorgungsämter die im Rahmen des ThSG zu
erbringenden Leistungen mit Mitteln des Bundes übernehmen. Die ggf.
erforderlichen zusätzlichen Aufwendungen durch den Bund werden in der
o. a. Weise gegenfinanziert.

Höhere Einkünfte aus der Ausgleichsabgabe werden ausschließlich für
arbeitsmarktpolitische Zwecke eingesetzt. Sie werden in diesem Rahmen
genutzt, um die Bonuszahlungen für die Unternehmen zu finanzieren, die
ihre Pflichtquote -- wie oben dargestellt -- übererfüllen. Einkünfte
aus der Ausgleichsabgabe dienen auch der Finanzierung der
Arbeitsassistenz. Für den Fall, daß die arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen, die Bonuszahlungen und die Arbeitsassistenz das finanzielle
Potential der Ausgleichsabgabe überschreiten, fließen diesem Fonds
Mittel aus allgemeinen Steuereinnahmen zu, damit die Aufgaben erfüllt
werden können.

Über die Gesamthöhe der zusätzlich beanspruchten Mittel für das ThSG
können vorläufig noch keine genauen Angaben gemacht werden.
Überschlagsschätzungen, die alle gegenwärtig bereits geltenden
Leistungen gegenrechnen, gehen von einem Mehrbedarf von rund 10 Mrd. DM
pro Jahr aus.
Termin der Vorlage des Entwurfs für ein Teilhabesicherungsgesetz
Die Bundesregierung wird aufgefordert, den Entwurf eines ThSG binnen
Jahresfrist vorzulegen, damit er so rechtzeitig in den Deutschen
Bundestag eingebracht und beraten wird, daß das Gesetz noch vor Ablauf
der 14. Wahlperiode verabschiedet werden und in Kraft treten kann.
Bonn, den 20. April 1999
Dr. Ilja Seifert
Dr. Gregor Gysi und Fraktion
Begründung
I. Allgemeines
1.
Seit über 20 Jahren fordern Behindertenorganisationen,
Selbsthilfegruppen, Wohlfahrtsverbände und Einzelpersönlichkeiten ein
in sich geschlossenes, vereinheitlichtes und transparentes
Behindertenrecht. Die derzeitige Gesetzeslage und die konkrete
Situation von Menschen mit Behinderungen, ihrer Angehörigen, Freunde
und ständigen Begleiter sind jedoch unbefriedigend.

Der Gesetzgeber hat zwar mit der Verfassungsreform von 1994 (42.
Änderungsgesetz zum Grundgesetz, BGBl. I S. 3146) den Katalog der
Diskriminierungsverbote um ein neues Grundrecht für Behinderte
erweitert: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden." (Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG).

Damit findet das Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen
zum ersten Mal ausdrückliche Aufnahme in die rechtliche Grundordnung
der Bundesrepublik Deutschland. Die Praxis bei der Umsetzung dieses
Benachteiligungsverbots macht jedoch deutlich, daß konkrete Gesetze zur
Umsetzung dieses Verfassungsgrundsatzes unabdingbar sind.

Der Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG schützt in gewissem Rahmen vor
Benachteiligungen: Einen Anspruch auf Begünstigungen begründet er aber
grundsätzlich nicht. Das gilt für finanzielle Leistungen ebenso wie für
sonstige Fördermaßnahmen. So ergibt sich z. B. aus dem
Benachteiligungsverbot auch nicht unmittelbar ein Anspruch darauf, daß
Gesetzestexte oder andere amtliche Verlautbarungen in Blindenschrift
umgesetzt und wiedergegeben werden. Auch ein Anspruch auf
Fernsehsendungen der öffentlichen Anstalten etwa in Gebärdensprache
besteht nicht.

Die alte Bundesregierung stellte schon 1994 in ihrem 3. Bericht und
1997 erneut in ihrem 4. Bericht zur Lage der Behinderten und zur
Entwicklung der Rehabilitation fest, daß "trotz vieler unbestrittener
Fortschritte in den letzten Jahren eine tatsächliche Chancengleichheit
von Behinderten und Nichtbehinderten ... immer noch nicht erreicht"
ist.

Die Anforderungen, die sich aus der Realisierung der
"Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für
Menschen mit Behinderungen (Standard Rules)" der Generalversammlung der
Vereinten Nationen vom Dezember 1993 ergeben, werden weder allein durch
ein Antidiskriminierungsgesetz noch durch ein vorrangig auf die
Rehabilitation gerichtetes Leistungsgesetz erfüllt.

Daher ist ein Teilhabesicherungsgesetz zur Gleichstellung von Menschen
mit Behinderungen und zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile
(ThSG) erforderlich, das die reale Gleichstellung von Menschen mit und
ohne Behinderungen gewährleistet, behinderungsbedingte
Diskriminierungen ahndet und behinderungsbedingte Nachteile ausgleicht.
2.
Rechtliche Grundlage für die Formulierung und Ausgestaltung des ThSG
sind vor allem die Artikel 1 (Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen
Menschen) und 2 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) sowie 3
(Gleichheit) des Grundgesetzes. In letzterem wiederum fordert die 1994
aufgenommene Ergänzung in Absatz 3 Satz 2 ("Niemand darf wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden."), dieses Benachteiligungsverbot
durch gesetzliche Regelungen zu untermauern. Auch die Bestimmungen des
SGB I (§ 10 -- "Eingliederung Behinderter") gehören zu den rechtlichen
Grundlagen dieses Gesetzes. Dieser Anspruch wird aus einer
Leitlinienfunktion in tatsächlich einklagbares Recht gehoben.

Hervorzuheben ist, daß Menschen mit Behinderungen entsprechend § 10 SGB
I die Hilfe und Unterstützung zusteht, die notwendig ist, um ihnen
einen ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der
Gesellschaft -- insbesondere im Arbeitsleben -- einzuräumen. Damit
besteht bereits ein umfassender Auftrag des Gesetzgebers. Er ist in der
Praxis aber nur mangelhaft wirksam. Deshalb erfolgt jetzt diese
Konkretisierung.
3.
Der Antrag beauftragt die Bundesregierung, binnen Jahresfrist einen
entsprechenden Entwurf vorzulegen, und legt die Rahmenbedingungen fest,
die durch das Gesetz ausgefüllt werden sollen. Angestrebt ist ein
Artikelgesetz. Es umfaßt mehrere Teile:

--
den Gleichstellungsteil (Menschenrechte; Bürgerrechte)

--
den Nachteilsausgleichsteil (Leistungsgesetz)

--
den Verbandsklagerechtsteil (Stärkung der Selbsthilfe)

--
den Teil, der in verschiedene bestehende Gesetze eingreift (z. B.
Zivilrecht)

--
den Finanzierungsteil

Der Zweck jeglicher staatlicher Maßnahme im Rahmen dieses Gesetzes wird
dahin gehend definiert, daß es um die Ermöglichung der vollen Teilhabe
von Menschen mit und ohne Behinderungen am Leben der Gemeinschaft geht.

Ausgehend vom Grundsatz der Bedarfsdeckung ordnet das ThSG die
Leistungserbringung der Kranken-, Pflege-, Renten- und
Unfallversicherung für Menschen mit Behinderungen neu und gestaltet sie
verbindlich weiter aus.
4.
Für die Definition der Anspruchsberechtigten und die Begriffsbestimmung
von "Behinderung" nach dem ThSG muß berücksichtigt werden, daß es
unterschiedliche Verwendungen des Begriffs "behindert" gibt. Es ist in
der internationalen Diskussion inzwischen zwar relativ unumstritten,
daß es darum geht, positive Beschreibungen der Fähigkeiten jedes
einzelnen Menschen zu dessen/deren Charakterisierung zu verwenden,
dennoch erhebliche Schwierigkeiten bestehen, das auch zu tun. Die WHO
arbeitet bereits seit Jahren an einer Modernisierung ihrer
Klassifikation. Das Gesetz ist daher gezwungen, vorläufig mit der
eingeführten, aber als nicht hinreichend erkannten Unterscheidung von
"Schädigung" (engl. impairment), "Beeinträchtigung" (disability) und
"Behinderung" (handicap) im Sinne von "soziale Beeinträchtigung" zu
arbeiten. Dabei bleibt eine zukünftige Anpassung an weniger negative
Klassifikationen unbenommen. Im Alltagsgebrauch findet die
Unterscheidung zwischen "Beeinträchtigung" i. S. von
"Funktionsbeeinträchtigung" und "Behinderung" i. S. von "soziale
Beeinträchtigung" praktisch nicht statt. Aus sprachdynamischen Gründen
ist auch nicht damit zu rechnen, daß hier eine Veränderung eintritt.
Bei der Erarbeitung des ThSG-Entwurfs -- und insbesondere bei der
öffentlichen Diskussion darum -- muß also der Widerspruch ständig im
Bewußtsein bleiben, daß zwar um der Verständlichkeit willen von
Menschen mit Behinderungen gesprochen wird, eigentlich aber häufig eher
"Beeinträchtigung" (disability) gemeint ist. Anderseits setzt das ThSG
ja gerade an der Beseitigung der Behinderung, der "sozialen
Beeinträchtigung", der handicaps, an.

Die körperlichen, geistigen, psychischen und/oder sensorischen
"Defizite" sowie chronische Krankheiten lassen sich -- wenn sie einmal
da sind -- in der Regel nicht beseitigen. Sie gehören dann zur
Lebensselbstverständlichkeit derjenigen Menschen, die das betrifft. Die
aus diesen Defiziten erwachsenden Behinderungen sind in der Regel
gesellschaftlicher Art. Sie werden von Menschen gemacht. Also müssen
sie auch von Menschen beseitigt, ausgeglichen werden. Weder bauliche
noch kommunikative Barrieren müssen sein. Es gibt heutzutage genügend
technische Möglichkeiten, sie zu vermeiden bzw. vorhandene zu
beseitigen. Auch Vorurteile, Ängste, Unsicherheiten im Umgang
miteinander müssen nicht sein. Sie können abgebaut, verringert,
beseitigt werden. Das geht aber nur, wenn beide Seiten -- Menschen mit
und ohne Behinderungen -- einander kennen. Um das zu ermöglichen,
müssen diejenigen, denen es gegenwärtig noch aus vielfältigen Gründen
schwerer fällt, nach den eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Fähigkeiten
am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, "bevorzugt werden". So
erhalten sie wenigstens annähernd gleiche Chancen zur Entfaltung ihrer
Persönlichkeit. Das ist der Zweck dieses ThSG.
5.
Bei der Verwendung des Begriffes "Behinderung" muß auch beachtet
werden, daß es unzählige nicht sichtbare Behinderungen
(Beeinträchtigungen) gibt. Das Gesetz muß deshalb auch
nachteilsausgleichend für diejenigen Menschen wirken, die auf Grund
chronischer Krankheiten von ähnlichen oder den gleichen sozialen
Beeinträchtigungen (handicaps) wie deutlich sichtbar "Behinderte"
betroffen sind.

Hervorzuheben ist, daß im Laufe des Lebens jeder Mensch -- also auch
all jene, die sich nicht als "behindert" ansehen -- mehrfach
praktischen Nutzen aus dem Wirken eines solchen Gesetzes ziehen wird.
De facto kommt jede/jeder mehrfach in Situationen, die den
Beeinträchtigungen stark ähneln, die für Menschen, die als "behindert"
oder "chronisch krank" gelten, alltäglich sind. In diesen Situationen
haben auch sie ähnlich Schwierigkeiten bei der ganz
selbstverständlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

(Das beginnt z. B. im Kindesalter und kehrt in verschiedenen
Lebensaltern und -situationen mehr oder weniger häufig wieder:

--
Hohe Treppen sind für kleine Kinder riesige Barrieren.

--
Weit oben angebrachte Bedienknöpfe in Aufzügen sind für Kinder
ebensowenig erreichbar wie für kleinwüchsige Menschen oder
Rollstuhlbenutzerinnen/-benutzer.

--
Wer mit drei Koffern ein Reise unternimmt, ist beim Benutzen
öffentlicher Verkehrsmittel ebenso auf fremde Hilfe angewiesen wie
blinde Menschen, die erst fragen müssen, welche Bahn denn gerade kommt.

--
In der Schwangerschaft, mit einem Gipsbein, selbst unter Alkoholeinfluß
und in zahlreichen weiteren -- zeitweiligen -- Lebenssituationen
ähneln die Verhaltensweisen derjenigen, die sich als "nichtbehindert"
empfinden, in hohem Maße denen von Menschen mit verschiedenen
Behinderungen.)

Auch unter diesem Aspekt ist das ThSG kein "Sondergesetz" für eine
"Minderheit" oder eine "Randgruppe", sondern es regelt das
Zusammenleben auf eine Weise, die allen zu jeder Zeit und in einem
hohen Maße der Selbstbestimmtheit das Miteinander ermöglicht.
6.
Explizit auszuweisen ist das Gleichstellungsgebot für Frauen und
Mädchen mit Behinderungen wegen der doppelten Diskriminierung und damit
gerade hier dringend bestehenden Bedarfs nach Rechtssicherheit, denn
ihre strukturelle Benachteiligung ist sowohl Folge der unzureichenden
Bedingungen für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie als
auch des eingeschränkten beruflichen Angebotsspektrums sowie eines
überkommenen, geschlechtsspezifischen Rollenverständnisses.

So haben z. B. pflege- bzw. assistenzabhängige Frauen nur selten die
Möglichkeit, zwischen weiblichen Assistentinnen und männlichen
Assistenten zu wählen.
7.
Das Verbandsklagerecht soll ausdrücklich die Selbsthilfearbeit stärken.
Behindertenverbände, Selbsthilfeorganisationen und
-gruppen sollen -- ohne eine/einen persönlich von Benachteiligung
betroffene Frau oder betroffenen Mann "finden" zu müssen -- aus
eigener Verantwortung heraus gegen Diskriminierungstatbestände klagen
können. Sie können das auch präventiv tun, also bevor jemand direkt
diskriminiert wurde (z. B. bei der Errichtung baulicher oder
kommunikativer Barrieren).
8.
Die durchgängige Anspruchsherleitung nach dem Finalitätsprinzip beendet
bestehende Ungerechtigkeiten und eröffnet die Möglichkeit der
Vereinheitlichung aller Leistungen auf hohem Niveau. Es gibt keinen
akzeptablen Grund, warum ein wegen Kriegseinwirkung amputiertes Bein zu
höheren Leistungen berechtigen soll als ein aus einem Zivilunfall oder
einer Krankheit herrührender Amputationsgrund. Es gibt auch keinen
akzeptablen Grund, warum eine Beamtin, die chronisch krank wird, über
die Beihilfe besser gestellt sein soll als eine Chemiearbeiterin.
Schließlich muß der Ungerechtigkeit endlich ein Ende gesetzt werden,
daß Menschen, die von Geburt an mit ihren Behinderungen leben oder sie
in frühen Jahren erwarben, häufig lebenslang von eigenen Ansprüchen
ausgeschlossen bleiben sollen, die nicht der -- entwürdigenden --
Bedürftigkeitsprüfung unterliegen.
II. Zu einigen Einzelmaßnahmen:
1.
Das Teilhabesicherungsgeld wird zum frei verfügbaren Einkommen für
Menschen, die auf Grund ihrer Behinderungen und/oder chronischen
Krankheiten keine oder nur sehr geringe Chancen haben, ihre Fähigkeiten
in bezahlter Erwerbsarbeit anzuwenden. Es befreit von der
Bedürftigkeitsprüfung der Sozialhilfe. Es besteht aus einer
soziokulturellen Grundsicherung (Sockelbetrag) und dem
behinderungsbedingten Mehraufwand für den Nachteilsausgleich. Letzterer
errechnet sich aus einem durchschnittlich anfallenden Mehrbedarf. In
ihm sind insbesondere die zusätzlichen Aufwendungen für Wäsche,
Kleidung, Heizung, technische Hilfsmittel (und deren Wartung), ggf.
spezielle Lebensmittel, Pkw-Nutzung (inklusive Umbauten und Wartung)
und vieles andere mehr enthalten.

Variante zur Deckung des behindertenbedingten Mehraufwandes:

Nach geltendem Recht besteht beispielsweise die Möglichkeit, einen
behinderungsbedingten Mehraufwand bis zu 7 200 DM/Jahr steuerlich
abzusetzen. Dieser Betrag wurde seit über 20 Jahren nicht verändert. Er
entspricht in seiner Höhe keinesfalls mehr den realen Gegebenheiten.
Eine Erhöhung ist also unumgänglich. Dennoch soll er hier als Basis
herangezogen werden: Rechnet man die schon seit 20 Jahren offiziell
akzeptierten Mehraufwendungen auf den Monat um, ergibt sich der Betrag
von 600 DM. In der Addition ergibt sich gegenwärtig für das
Teilhabesicherungsgeld mit dem für 1996 errechneten Betrag der sozialen
Grundsicherung, von 1425 DM/Monat, eine Gesamtsumme von 2025 DM. Das
erscheint eine vertretbare Relation zu dem durchschnittlichen Nettolohn
und den Gehaltseinnahmen in den alten Bundesländern aus
nichtselbständiger Arbeit von ca. 3 073 DM/Monat (1997).

Wenn die -- überfällige -- Erhöhung des bisherigen Steuerfreibetrages
und die Dynamik der sozialen Grundsicherung in Rechnung gestellt
werden, könnte ein pauschales Teilhabesicherungsgeld bei Einführung des
ThSG noch in dieser Legislaturperiode etwa bei dem Betrag von 2 350 bis
2 500 DM/Monat liegen. Der Steuerfreibetrag würde praktisch in einen
direkten Zuschuß umgewandelt. Damit entsteht größere Gerechtigkeit
denjenigen behinderten Menschen gegenüber, die keine oder nur minimale
direkte Steuern zahlen und deshalb bisher keinen Nutzen von dieser
Regelung haben.
2.
Mit dem oben ausgewiesenen Ansatz ist eine Grundvariante beschrieben,
die relativ schnell praxiswirksam umgesetzt und weiter ausgestaltet
werden kann. Die Diskussion um den ThSG-Entwurf kann auch praktikable
Möglichkeiten einer individualisierten Berechnung des
behinderungsbedingten Mehrbedarfs ergeben. Dann werden diese
eingeführt.

Grundsatz bei des Einführung des ThSG ist es, keine Schlechterstellung
zuzulassen.

Da es in der Beamtenversorgung oder bei Kriegsopferfürsorge z. B. durch
das BVG weitergehende Regelungen gibt, sind hier und aus den weiteren
Gesetzen die günstigsten Möglichkeiten zu erschließen und in einem
angemessenen Zeitrahmen für alle Menschen mit Behinderungen
rechtswirksam zu gestalten.
3.
Versuche, verschiedene Assistenz-Modelle zu praktizieren, werden durch
das ThSG ausdrücklich unterstützt, so daß sie sich zum Regelfall
entwickeln werden. Das betrifft:

--
begleitende Assistenz mit hohem Anteil von medizinischen
Pflegeleistungen

--
anleitende Assistenz für geistig behinderte Menschen

--
Assistenz, die in hohem Maße darin besteht, ständig anwesend zu sein,
um ggf. helfend eingreifen zu können (z. B. bei psychischen
Krankheiten, bei Demenz, aber auch bei bestimmten Formen der
persönlichen Assistenz für körperbehinderte Menschen)

--
Ausbildungsassistenz

--
Arbeitsassistenz

--
Urlaubsassistenz
4.
Der Kostenvorbehalt des § 3 a BSHG wirkt als diskriminierender
Heimeinweisungsparagraph. Er wird ersatzlos gestrichen. Die bis zu
seiner Einführung geltende Regelung tritt wieder in Kraft. Da im Umgang
mit öffentlichen Mitteln in jedem Falle die allgemeinen Haushaltsregeln
(zweckgebundener Einsatz, Sparsamkeit usw.) gelten, gibt es keinen
Grund, ausgerechnet in der Frage der freien Wahl der Wohnform für
behinderte Menschen zusätzliche Wirtschaftlichkeitsnachweise
abzufordern, die in der Regel deshalb nicht erbracht werden können,
weil sie rein theoretischer Natur sind. Außerdem gibt es sehr
unterschiedliche -- und deshalb das Bild verzerrende --
Berechnungsgrundlagen für Heim- bzw. Mietwohnkosten (oder
Wohngemeinschaften), da bei der Unterbringung in Sondereinrichtungen
die Mehrfachnutzung verschiedener Potentiale (Arbeitskräfte und
technische Hilfsmittel) ebenso "preismindernd" wirkt wie das nicht
(oder nur teilweise Anrechnen) der Grundstückspreise, Investitionen
usw. Die Streichung des Kostenvorbehalts, wie ihn der § 3 a BSHG
begründet, gibt die Beweislast wieder eindeutig zu den Kostenträgern.
Diese Regelung korrespondiert also mit der schon weiter oben
begründeten Notwendigkeit der Beweislastumkehr.
5.
Die Arbeit ist die wesentliche Seite für die Gestaltung eines Lebens in
Selbstbestimmung und Würde. Hier trägt die Gesellschaft eine hohe
solidarische Verantwortung und hat einen entsprechenden Beitrag zu
leisten.

Deshalb wird die Pflichtquote im Rahmen bereits existierender
Gesetzlichkeit prozentual im Bereich der öffentlichen Arbeitgeber
erhöht, um vor allem die Vorbildwirkung dieses Bereiches zu
dokumentieren.

Private Arbeitgeber sind derzeit von dieser Änderung nicht betroffen,
bis weitere Möglichkeiten der Zahlung der Ausgleichsabgabe, z. B.
entsprechend der Wertschöpfung, geprüft und handhabbar ausgestaltet
werden können.

Des weiteren wird die Höhe der Ausgleichsabgabe auf ein solches Niveau
gehoben, das es ermöglicht, ernsthafter Erwerbstätigkeit von Menschen
mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu realisieren.

Als Basis für die Berechnung dient das soziokulturelle Existenzminimum.
Hiermit wird bewußt ein entsprechender Bezug zur sozialen
Grundsicherung gesucht, um die solidarische Verantwortung für die
Gleichstellung und soziale Teilhabe nachvollziehbarer zu gestalten.

Zukünftig wird die Berechnung nach der Wertschöpfung angestrebt.
Solange dieses Kriterium nicht gilt, wird die Ausgleichsabgabe
entsprechend erhoben. Sie soll aus o. g. Gründen zukünftig nicht
steuerlich absetzbar sein. Auch damit erhöht das Gesetz den Druck auf
die Einhaltung der Mindestbeschäftigungsquoten von 6 % im privaten bzw.
8 % im öffentlichen Bereich.

Da das Ziel dieser Maßnahme darin besteht, Menschen mit Behinderungen
auf dem ersten Arbeitsmarkt zu beschäftigen, könnte der Fall eintreten,
daß die Einnahmen aus dieser Abgabe trotz der Erhöhung sinken. Für
diesen Fall ist festgelegt, daß die Leistungen, die aus der
Ausgleichsabgabe finanziert werden, dennoch erbracht werden müssen und
dafür Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen vorzusehen sind.
Wenn der erwünschte Effekt des verstärkten Zugangs zum ersten
Arbeitsmarkt eintritt, können die Mittel für Werkstätten für Behinderte
zukünftig treffsicherer eingesetzt werden mit dem Ziel, ihre Anzahl zu
verringern. Dieses Gesetz sieht aber ausdrücklich auch neue Leistungen
vor, die aus der Ausgleichsabgabe zu bezahlen sind (Arbeitsassistenz;
Bonuszahlungen). Sie dienen dem Hauptzweck der Abgabe:
Arbeitsplatzschaffung und -sicherung.
6.
Das ThSG verpflichtet die staatlichen Verwaltungen aller Ebenen zu
aktiver Durchsetzung des individuellen Anspruchs einzelner behinderter
und/oder chronisch kranker Frauen, Männer und Kinder auf Schutz vor
Diskriminierung und den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile. Hier
greift das Gesetz eine Regelung des US-amerikanischen Americans with
Disability Acts (ADA) auf, das die dortigen Behörden verpflichtet, von
Amts wegen tätig zu werden, wenn ihnen Informationen über
diskriminierende Tatbestände oder auch nur begründete Verdachtsmomente
schriftlich, mündlich oder telefonisch zugehen, und ggf. für die
betroffenen (anspruchsberechtigen) Menschen zu klagen.

Durch die Festschreibung des Klagerechts auch gegen Behörden soll der
gegenwärtig häufig anzutreffenden Praxis entgegengewirkt werden, daß
beispielsweise trotz bestehender Vorschriften zum barrierefreien Bauen
Ausnahmegenehmigungen erteilt werden, auf die sich Investoren und/oder
Architekten und Baufirmen immer wieder berufen können. In Verbindung
mit der verbindlichen Festlegung im Baugesetzbuch, daß Gebäude und
Einrichtungen barrierefrei zu errichten sind (§ 1), wird so der
Aushöhlung des Bestrebens, die Errichtung neuer Barrieren zu verhindern
und bestehende nach und nach zu beseitigen, ein Riegel vorgeschoben.

Die Pflicht für Architekten und Bauingenieure, sich zumindest ein
Grundwissen in Fragen barrierefreien Bauens anzueignen, kann dadurch
hergestellt werden, daß Berufszulassungen zukünftig an den Nachweis
entsprechender Ausbildungen gebunden werden.

Der Einsatz behindertengerechter Busse, Bahnen, Schiffe und Fluggeräte
kann dadurch zur Pflicht gemacht werden, daß Betriebserlaubnisse für
neue Fahrzeuge an entsprechende Bedingungen geknüpft werden. Da die
Betriebsgenehmigung für alle Betreiber gilt, gibt es auch keine
Wettbewerbsverzerrungen. Es kann aber der Fall eintreten, daß
diejenigen Betreiber, die rechtzeitig auf den Einsatz von Fahrzeugen,
Schiffen und Fluggeräten setzten, die von allen Menschen gut genutzt
werden können, zu einem gewissen Wettbewerbsvorteil kommen, weil auch
nichtbehinderte Fahrgäste ihnen aus ethischen Gründen den Vorzug geben.
Das läge durchaus in der Intention des ThSG.
7.
Die Bündelung der Leistungserbringung bei den Versorgungsämtern dürfte
auf keine grundlegenden Schwierigkeiten stoßen. Sie sind bundesweit
vorhanden. Es ist also keine neue Struktur vonnöten. Dort arbeitet seit
Jahrzehnten geschultes Personal, das sich in der Spezifik der Aufgabe
auskennt. In den Versorgungsämtern ist die Bedürftigkeitsprüfung des
BSHG unbekannt. Sie braucht also dort nicht abgeschafft zu werden.
8.
Wenn die Finanzierung dieses ThSG einen aus allgemeinen Steuermitteln
nicht aufzubringenden Mehrbedarf ergeben sollte, sind die Alkohol- und
die Tabaksteuer so zu erhöhen, daß der Fehlbetrag gedeckt wird. Diese
Steuern auf gesundheitsschädigende Produkte entsprechen am ehesten dem
Anliegen des Gesetzes, denn durch Alkohol- und Tabakmißbrauch geraten
etliche Menschen in die Situation, Leistungen aus diesem Gesetz in
Anspruch nehmen zu müssen. Insgesamt ist bei der Kostenrechnung
allerdings detailliert zu berücksichtigen, welche Leistungen jetzt
schon -- von verschiedenen Stellen und auf der Grundlage verschiedener
gesetzlicher Vorschriften -- erbracht werden. Durch die Herausnahme
der Eingliederungshilfe (und anderer Leistungen, beispielsweise des
Blindengeldes) aus dem BSHG und ihre Überführung in die
Versorgungsämter erfahren die Kommunen erhebliche Entlastungen ihrer
Pflichthaushalte. Die Übernahme aller Leistungen in direkte
Bundesfinanzierung erweitert den Handlungsspielraum der Länder und
Kommunen. Dadurch wird auch die Eigeninitiative der Länder und Kommunen
gefördert, eine behindertengerechte Lebensumwelt zu gestalten.

23.04.1999 nnnn

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