BT-Drucksache 14/7790

zu der Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Tagung des Europäischen Rates in Laeken am 14./15. Dezember 2001

Vom 12. Dezember 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7790
14. Wahlperiode 12. 12. 2001

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Uwe Hiksch, Dr. Klaus Grehn, Roland Claus und der Fraktion
der PDS

zu der Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers
Tagung des Europäischen Rates in Laeken am 14./15. Dezember 2001

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Deutscher Bundestag und Bundesrat haben den Vertrag von Nizza mit großer
Mehrheit ratifiziert, obwohl nach Ansicht aller im Deutschen Bundestag vertre-
tenen Parteien der Vertrag gravierende inhaltliche Defizite aufweist. Offenbar
war für die mehrheitliche Zustimmung letztendlich die Erwägung ausschlagge-
bend, die von den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten selbst verschuldeten
verschiedenen Mängel des Vertrages, die die Zukunftsfähigkeit einer erweiter-
ten Europäischen Union in Frage stellen, nicht den beitrittswilligen Staaten
durch eine Verzögerung ihrer Beitritte aufzubürden. Hinzu kommt, dass die im
Anhang des Vertrages von Nizza enthaltene Erklärung Nummer 23 zur Zukunft
der Europäischen Union nicht nur das politische Eingeständnis für den unver-
ändert bestehenden Reformbedarf der EU widerspiegelt, sondern vor allem den
Weg dafür eröffnet, Versäumtes nachzuholen bzw. noch nicht in Angriff ge-
nommene Reformen vor der Erweiterung der EU durchzuführen. Deshalb wird
die mit Nizza verbundene Debatte über die Zukunft der Europäischen Union
auch von denjenigen voll und ganz unterstützt, die dem revidierten Vertrag ihre
Zustimmung versagten, weil für sie dessen Mängel und Defizite zu gravierend
waren. Sie sehen mit Blick auf die bevorstehende Regierungskonferenz insbe-
sondere die Chance, Reformen für den Erhalt des europäischen Gesellschafts-
modells und die zielgerichtete Weiterführung der europäischen Integration
unter den Bedingungen einer erweiterten Union und angesichts der Herausfor-
derungen der Globalisierung einzuleiten. Die anstehende grundlegende Reform
muss die EU in eine soziale, demokratische und zivile Union der Bürgerinnen
und Bürger verändern, und dafür muss sie über die notwendigen Instrumenta-
rien verfügen.
In der Erklärung zur Zukunft der Union vom Dezember 2000 werden Vertrete-
rinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und der Zivilgesell-
schaft aufgefordert, an einer umfassenden Diskussion über die künftige Ent-
wicklung der Union teilzunehmen, die in eine neue Regierungskonferenz
münden soll. Als Themen wurden bereits festgelegt: Abgrenzung der Zustän-
digkeiten zwischen EU und Mitgliedstaaten, Status der in Nizza proklamierten
Grundrechte-Charta, Vereinfachung der Verträge, Rolle der nationalen Parla-
mente in der Architektur Europas.
Der Europäische Rat von Laeken soll in einem gesonderten Tagesordnungs-
punkt darüber befinden, auf welche Art und Weise dieser Prozess eingeleitet
werden soll. Dabei geht es um folgende zu treffende Beschlüsse:

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l um Ziel und Agenda, der in Angriff zu nehmenden Reformen;
l um das Gremium, dass die Regierungskonferenz vorbereitet, seine Zusam-

mensetzung, Arbeitsweise, den Zeitraum und das Ergebnis seiner Tätigkeit;
l um die Aufgaben, das Mandat und den Zeitrahmen der sich anschließenden

Regierungskonferenz;
l um die Beteiligung der Beitrittsländer;
l um die Beteiligung der europäischen Zivilgesellschaft.
II. Die mit der Debatte zur Zukunft der Union verbundenen Chancen auf tat-
sächlich tiefgreifende Reformen können aber nur dann genutzt werden, wenn
auf dem Gipfel von Laeken Beschlüsse gefasst werden, die der historischen Di-
mension der vor der EU stehenden Herausforderungen auch gerecht werden.
Aus den Fehlern der vorangegangenen Regierungskonferenzen sind Schlussfol-
gerungen zu ziehen. Der Deutsche Bundestag fordert deshalb die Bundesregie-
rung auf,
sich auf dem Europäischen Rat in Laeken beim Tagesordnungspunkt „Zukunft
der Europäischen Union“ für folgende Ziele einzusetzen bzw. diese zu unter-
stützen:
1. Zu Ziel und Agenda
Mit Blick auf die anvisierte Regierungskonferenz muss das politische Ziel ver-
folgt werden, endlich eine breite öffentliche europapolitische Debatte zur Re-
form der EU zu führen und damit zugleich einen Verfassungsprozess in Europa
einzuleiten. Die Europäische Union muss hinsichtlich ihrer Strukturen und
Funktionsweisen sowie insbesondere der Inhalte der europäischen Politik mit
den Instrumentarien ausgestattet werden, die sie für das 21. Jahrhundert
zukunftsfähig machen und zu einem sozialen, ökologischen, demokratischen
und friedlichen Europa der Bürgerinnen und Bürger entwickeln.
Dies setzt allerdings voraus, über die in Nizza bereits beschlossenen vier The-
menkomplexe hinauszugehen und u.a. die gemeinsame Außen- und Sicher-
heitspolitik, die Rechtspersönlichkeit der EU, den Abbau des Demokratiedefi-
zits, die Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion durch eine Sozial- und
Umweltunion oder die gemeinsame Politik im Bereich Inneres und Justiz auf
den Prüfstand zu stellen.
Die geplante Überprüfung der Kompetenzabgrenzung innerhalb des politischen
Mehrebenensystems der EU ist ausschließlich darauf auszurichten, die beste-
henden Strukturen zu vereinfachen und transparent zu gestalten. Sie darf auf
keinen Fall dazu führen, unter dem Deckmantel von Kompetenzabgrenzung die
europäische Integration durch Renationalisierungen aufzuweichen bzw. künf-
tige Integrationsentwicklungen zu behindern. Die Grundrechte-Charta der EU
muss integraler Bestandteil des EU-Vertrages und damit rechtsverbindlich und
individuell einklagbar werden. In Zusammenhang mit ihrer Integration in den
EU-Vertrag sollten kritische Hinweise verschiedener NGO ebenso geprüft
werden wie die Frage nach dem Verhältnis zwischen Europäischer Menschen-
rechtskonvention (EMRK) und Grundrechte-Charta und dem damit zusammen-
hängenden Problem der gerichtlichen Zuständigkeit zur Sicherung einer
kohärenten Rechtsprechung.
2. Zum Konvent
Die bisherige Methode von Vertragsrevisionen durch Regierungskonferenzen
hat sich nicht bewährt. Deshalb fordert der Deutsche Bundestag ebenso wie die
COSAC oder das Europäische Parlament die Einberufung eines Konvents zur
Vorbereitung der nächsten Regierungskonferenz.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7790

Dieser Konvent soll analog dem Konvent zur Ausarbeitung der Grundrechte-
Charta zusammengesetzt sein. Er sollte den politischen Pluralismus in Europa
widerspiegelnd aus Abgeordneten der nationalen Parlamente, Abgeordneten
des Europäischen Parlaments, Vertreterinnen bzw. Vertretern der Regierungen
der Mitgliedstaaten sowie einem Vertreter bzw. einer Vertreterin der EU-Kom-
mission gebildet werden. Zwischen diesen Delegationen ist zahlenmäßig das
gleiche Verhältnis zu wahren, wie beim Konvent zur Erarbeitung der Grund-
rechte-Charta. Darüber hinaus ist bei der Bestimmung der jeweiligen Delega-
tionen vom Grundsatz der angemessenen Vertretung beider Geschlechter aus-
zugehen.
Sicherzustellen sind ferner:
– die entsprechend proportionale Beteiligung der Beitrittskandidatenstaaten,

die, sobald die Beitrittsverträge unterzeichnet sind, im Konvent auch Stimm-
recht erhalten müssen; (Der Türkei, mit der die Beitrittsverhandlungen noch
nicht eröffnet wurden, da sie gegenwärtig die Kopenhagener Kriterien nicht
erfüllt, sollte ein einfacher Beobachterstatus gewährt werden.)

– die Ernennung von beratungsberechtigten Stellvertreterinnen und Stellver-
tretern;

– die Gewährleistung einer vollständigen Transparenz der Arbeiten des Kon-
vents durch die Öffentlichkeit seiner Debatten und Beratungen sowie den
Zugang der Öffentlichkeit zu allen Konventdokumenten;

– der Konvent sollte von einem als Kollegium handelnden Präsidium geleitet
werden, das Vertreterinnen und Vertreter aller vier Delegationen umfasst.
Der Präsident bzw. die Präsidentin des Konvents sollte nach Vorschlag durch
den Europäischen Rat vom Konvent gewählt werden;

– der Konvent muss selbst über seine Arbeitsweise entscheiden;
– der Ausschuss der Regionen und der Wirtschafts- und Sozialausschuss sol-

len mit ständigen Beobachtern am Konvent beteiligt sein.

3. Zur Beteiligung der europäischen Zivilgesellschaft
Die europäische Zivilgesellschaft muss in die Debatten zur Zukunft der Europä-
ischen Union einbezogen werden. Entsprechend einer Initiative der belgischen
Ratspräsidentschaft könnte ein gezielter und strukturierter Dialog mit den ver-
schiedensten Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft auf europäi-
scher Ebene parallel zum Konvent, aber auch auf nationaler Ebene z. B. über
öffentliche Anhörungen von NGO (Nichtregierungsorganisationen) über die im
Konvent zur Debatte stehenden Fragen, geführt werden. Der Sachverstand der
NGO ist für die Arbeiten von Konvent und Regierungskonferenz unverzichtbar.
Ihre Vorschläge sollten in die Debatten einbezogen werden.

4. Zur Regierungskonferenz
Für eine wirksame Vorbereitung der Regierungskonferenz ist entscheidend,
dass der Konvent das Mandat erhält, einen einheitlichen kohärenten Vorschlag
zur Vertragsreform zu erarbeiten und diesen der Regierungskonferenz zur Ent-
scheidung zu übergeben. Nur dort, wo der Konvent keinen Konsens erzielen
kann, sollten Optionen unter Angabe der Mehrheitsverhältnisse vorgelegt wer-
den.
Der Konvent sollte schnellstmöglich nach dem Gipfel von Laeken seine Arbei-
ten aufnehmen und sie möglichst bis Herbst 2003 abschließen, damit die Regie-
rungskonferenz bereits Ende des Jahres 2003 statt wie bisher vorgesehen 2004
beschließen kann.

Drucksache 14/7790 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
Nach Beratung durch die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament
könnte dieser Beschluss bei den Wahlen zum Europäischen Parlament den
Bürgerinnen und Bürgern zur Entscheidung vorgelegt werden und bei mehrheit-
lich positivem Votum als Europäische Verfassung ratifiziert werden.
Sollte sich während der Arbeit des Konvents herausstellen, dass trotz intensiver
Beratungen und Debatten das angestrebte Ziel nicht bis zum vorgesehenen Zeit-
punkt erreicht werden kann, so ist der Deutsche Bundestag der Ansicht, dass die
Umsetzung der notwendigen Reformen wichtiger ist als der Zeitplan.

Berlin, den 11. Dezember 2001
Uwe Hiksch
Dr. Klaus Grehn
Roland Claus und Fraktion

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