BT-Drucksache 14/7398

Menschenwürde und Menschenrechte in Pflegeheimen

Vom 6. November 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7398
14. Wahlperiode 06. 11. 2001

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Monika Balt, Heidemarie Lüth, Dr. Ruth Fuchs,
Pia Maier und der Fraktion der PDS

Menschenwürde und Menschenrechte in Pflegeheimen

Die Unantastbarkeit der Menschenwürde entsprechend Artikel 1 des Grundge-
setzes gilt für alle Menschen, auch und besonders für jene, die wegen ihres Al-
ters oder in Folge von körperlicher, geistiger, seelischer, psychischer Behinde-
rung oder schwerer Krankheit in Pflegeheimen oder vergleichbaren
Einrichtungen leben. Dieser Anspruch beinhaltet das Recht auf ein Leben in
Selbstbestimmung und Würde, d. h. auf lebenserhaltende und -gestaltende
Maßnahmen, auf Lebensqualität sowie auf Unterstützung und Förderung bei
der Entwicklung bzw. dem Erhalt der personalen Identität und Integrität. Erfor-
derlich sind dafür umfassende Lösungsansätze und ein Grundverständnis von
Pflege, das Pflege als ganzheitlichen Prozess von Menschenwürde und Lebens-
qualität akzeptiert und umsetzt.
Missstände, Defizite und Gewalt in der Pflege wurden mehrfach durch die So-
zial- und Wohlfahrtsverbände, Selbsthilfe-Organisationen und Verbände in An-
hörungen des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag bzw. bei den
Gesetzgebungsverfahren zum Pflege-Qualitätssicherungsgesetz (PQsG), zum
Heimgesetz (HeimG) und zum Pflege-Leistungs-Ergänzungsgesetz (PfLEG)
thematisiert.
Das „Forum zur Verbesserung der Situation pflegebedürftiger alter Menschen
in Deutschland“ (München) hat im Zusammenhang mit der Vorlage des Vierten
Staatsberichtes der Bundesrepublik Deutschland über die Umsetzung des Inter-
nationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vor den
Vereinten Nationen in Genf im Rahmen eines Parallelberichtes auf Missstände
und Menschenrechtsverletzungen in deutschen Pflegeheimen verwiesen.
Das „Forum zur Verbesserung der Situation pflegebedürftiger alter Menschen
in Deutschland“ anerkennt, dass die Pflegeversicherung in einigen Punkten po-
sitive Auswirkungen hat, äußert sich gleichzeitig aber besorgt über die anhal-
tende menschenunwürdige Behandlung in einer Vielzahl von deutschen Pflege-
heimen.
Einer Presseerklärung des o. g. Forums vom 3. September 2001 zufolge hätten
die Vertreter der Bundesregierung am 24. August 2001 vor dem Ausschuss für
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen ein-
geräumt, dass die Situation der Menschen in den Pflegeheimen ein Anlass zur
Sorge sei und viele Einrichtungen nicht den staatlich vorgeschriebenen Stan-
dards entsprechen würden.
Im Bericht des Forums werden detailliert Missstände aufgelistet, die vom Me-
dizinischen Dienst der Krankenversicherung bei Qualitätsprüfungen festge-
stellt bzw. in den Medien dokumentiert wurden.

Drucksache 14/7398 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Weiterhin werden Rechtsverletzungen im Bereich der Nahrungsaufnahme, der
körperlichen und geistigen Gesundheit sowie der Teilnahme am kulturellen Le-
ben ihrem Wesen nach als Menschenrechtsverletzungen benannt. Exemplarisch
wird im Parallelbericht des Forums auf solche erheblichen Defizite, die der Me-
dizinische Dienst bei 4000 Qualitätsprüfungen feststellte, verwiesen wie:
l wundgelegene, von Austrocknung und Unterernährung gekennzeichnete

alte Menschen
l bis zu 85 % der Bewohner sind unterernährt, ca. 36 % leiden an Austrock-

nung
l jeder Dritte leidet unter Schäden infolge mangelhafter Pflege.
Nur bei 4,9 % sei die Pflege angemessen gewesen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie schätzt die Bundesregierung die im Parallelbericht des „Forums zur Ver-

besserung der Situation pflegebedürftiger alter Menschen in Deutschland“
aufgezeigten Missstände in den Pflege- bzw. Altenheimen ein und welche
Schlussfolgerungen leitet sie daraus für gesetzgeberisches Handeln ab?

2. Worin sieht die Bundesregierung Ursachen für Missstände und Pflegenot-
stand in Pflege- und Altenheimen und welche Erfordernisse ergeben sich
daraus nach Ansicht der Bundesregierung für das Handeln der politisch Ver-
antwortlichen auf Bundes- und auf Länderebene?

3. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den Aussagen des
Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenversicherung in
der gemeinsamen Anhörung des Gesundheitsausschusses und des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 4. April 2001 im Zusam-
menhang mit den dort vorgelegten Gesetzentwürfen zur Pflege und zum
Heimgesetz, dass die „vorhandenen Qualitätsdefizite keine Einzelfälle“ sind
und „häufige Pflegedefizite bestehen
a) im Bereich der Ernährungs- und Flüssigkeitsversorgung
b) beim Umgang mit Medikamenten
c) bei Inkontinenzversorgung
d) in der Dekubitus-Prophylaxe und -Therapie
e) beim Missbrauch freiheitsbeschränkender bzw. freiheitsberaubender

Maßnahmen“ und
damit „eine Gefährdung bzw. Schädigung des Pflegebedürftigen, eine Verur-
sachung unnötiger Kosten und eine Verletzung der persönlichen Integrität
und Würde des Pflegebedürftigen“ (Ausschussprotokoll 14/62) erfolgt?

4. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über Ursachen und Anzahl
von natürlichen und unnatürlichen Todesfällen in den Pflege-, Alten- und
Behindertenheimen vor?

5. In wie vielen Fällen und in welcher Art wurden Betreiber oder Einzelperso-
nen seit der Einführung der stationären Pflegeversicherung wegen men-
schenunwürdigen Verhaltens bzw. anderer Delikte gegenüber Bewohnerin-
nen oder Bewohnern von Heimen und vergleichbaren Einrichtungen straf-
oder zivilrechtlich bzw. disziplinarisch zur Verantwortung gezogen?

6. Welche Möglichkeiten und Probleme sieht die Bundesregierung für eine
Einführung, Ausgestaltung und Umsetzung wirksamer qualitätsorientierter
Vergütungssysteme, die eine Pflegequalität auf hohem Niveau dauerhaft ge-
währleisten?

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7398

7. Ist nach Auffassung der Bundesregierung ein errechneter Mindestpersonal-
satz von 70 % Fachpersonal und ein Pflegeschlüssel von 1 : 1,5 als eine
bundesweit verbindliche Maßnahme ein gangbarer Schritt zur Umsetzung
und Gewährleistung einer dauerhaft menschenwürdigen Pflege, oder wel-
che anderen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung?

8. Wie steht die Bundesregierung zu der Forderung, die berufliche Leistung
und das hohe Engagement des überwiegenden Teils des in den Pflege- und
Altenheimen tätigen Personals durch eine angemessenere Vergütung so an-
zuerkennen, dass sie dem hohen gesellschaftlichen Stellenwert dieser Tä-
tigkeit gerecht wird und der hohen Fluktuation von Fachkräften wirksam
entgegen gesteuert werden kann?

9. Welche Auswirkungen auf die Gewährleistung einer qualitätsgerechten
und menschenwürdigen Pflege sieht die Bundesregierung mit dem Auslau-
fen der Finanzhilfen nach Artikel 52 Pflege-Versicherungsgesetz (Pfle-
geVG) für Investitionen in Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundeslän-
dern, und beabsichtigt sie in diesem Zusammenhang entsprechende
weiterführende Maßnahmen?

10. Wie steht die Bundesregierung zu den Forderungen einer Vielzahl von Ver-
bänden und Organisationen, den Pflegebedürftigkeitsbegriff (§ 14 SGB XI)
zu überdenken, seine Beschränktheit auf die körperorientierte Verrich-
tungsbezogenheit zu überwinden und ihn als Pflegebegriff auszuweiten,
um so allgemeine Pflege, Betreuung, Beaufsichtigung, Kommunikation
und Anleitung bis hin zur persönlichen Assistenz zuverlässig zu ermögli-
chen?

Berlin, den 6. November 2001
Dr. Ilja Seifert
Monika Balt
Heidemarie Lüth
Dr. Ruth Fuchs
Pia Maier
Roland Claus und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.