BT-Drucksache 14/7379

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -14/6944, 14/7347- Entwurf eines Gesetzes zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (Job-AQTIV-Gesetz)

Vom 8. November 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7379
14. Wahlperiode 08. 11. 2001

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Pia Maier, Dr. Heidi Knake-Werner, Monika
Balt, Dr. Ruth Fuchs, Petra Bläss, Heidi Lüth, Rosel Neuhäuser, Dr. Ilja Seifert,
Maritta Böttcher und der Fraktion der PDS

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksachen 14/6944, 14/7347 –

Entwurf eines Gesetzes zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
(Job-AQTIV-Gesetz)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf hat die Regierungskoalition in gewissem
Umfang auf die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftspolitischen Verän-
derungen und die im Laufe der Jahre sichtbar gewordenen Probleme der Ar-
beitsförderung reagiert. Prüfstein wird sein, ob es mit dem Gesetz gelingt, den
erforderlichen Beitrag zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit und zur Verbesse-
rung der Chancen Hunderttausender zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt beizu-
tragen.
Das Gesetz enthält positive Neuerungen und ausbaufähige Ansätze wie:
l die Abschaffung von Wartezeiten bis zum Eintritt in Fördermaßnahmen,
l die Einführung von Job-Rotation als Regelinstrument,
l die Einführung von 20 % Qualifizierungs- bzw. Praktikumsanteil bei Ar-

beitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM),
l die Wiederaufnahme der Förderung des Hauptschulabschlusses,
l die Aufnahme von Zeiten des Bezugs der Erwerbsminderungsrente, des

Mutterschaftsgeldes sowie von Kindererziehungszeiten in die Versiche-
rungspflicht der Bundesanstalt für Arbeit (BA),

l die Klarstellung, dass auch bei außerbetrieblicher Ausbildung Arbeitslosen-
und Rentenversicherungsschutz bestehen,

l die Ausdehnung der Möglichkeiten für ehrenamtliche Tätigkeiten ohne
Nachteile,

l die Ausweitung der Förderung älterer Arbeitnehmer,
l die Möglichkeit der Verlängerung von Maßnahmen der Arbeitsförderung

ohne zeitliche Unterbrechung, wenn sie für eine längere Dauer für wech-
selnde, besonders förderungswürdige Arbeitnehmer Arbeitsplätze schafft,

Drucksache 14/7379 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

l die Nichtberücksichtigung von Einnahmen aus Maßnahmen beim Zuschuss
durch die Bundesanstalt für Arbeit, wenn die Pauschalförderung in An-
spruch genommen wird,

l die Möglichkeit der Förderung von Weiterbildung für Sozialhilfeempfänger
und -empfängerinnen und

l die Förderung von Beschäftigung schaffenden Infrastrukturmaßnahmen.
Dies ist von der Sache her zu begrüßen. Ihre Finanzierung allein aus Bei-
tragsmitteln ist jedoch nicht sinnvoll und sollte aus Steuermitteln des Bun-
des erfolgen.

Viele der Maßnahmen des Gesetzes gehen in die richtige Richtung. Ihr Erfolg
wird jedoch von vornherein in Frage gestellt, weil weder der Bundeshaushalt
noch der Etat der Bundesanstalt für Arbeit die notwendigen Mittel zu ihrer
Finanzierung vorsieht.
Das Job-AQTIV-Gesetz genügt trotz etlicher positiver Maßnahmen dem um-
fassenden Reformbedarf des Arbeitsförderungsrechts (SGB III) nicht.
Die Grundlagen des heutigen Arbeitsförderungsrechts wurden in einer Zeit ge-
legt (1969), in der konjunkturelle Einbrüche kurzfristig ausgeglichen werden
sollten. Das „Normalarbeitsverhältnis“ war weitgehend intakt, die geschlechter-
spezifische Arbeitsteilung verfestigt. Die technologische Entwicklung und die
Globalisierung mit ihren Folgen für den Arbeitsmarkt und die Beschäftigungs-
verhältnisse wurden im Arbeitsförderungsrecht nicht in Rechnung gestellt.
Massenarbeitslosigkeit und der verfestigte hohe Sockel von Langzeitarbeits-
losigkeit wurden nicht berücksichtigt. Heute ist die Schwelle für beschäftigungs-
wirksames Wachstum deutlich angestiegen. Darüber hinaus hat der Anteil von
Wirtschaftswachstum durch Personalabbau zugenommen. Die Langzeitarbeits-
losigkeit steigt unter diesen Bedingungen an und damit die Gefahr der Armut
mit all den individuellen und gesellschaftspolitischen Folgen. Davon besonders
betroffen sind Frauen, Kinder, Jugendliche, Flüchtlinge sowie Migrantinnen und
Migranten.
Inzwischen hat sich das Erwerbsverhalten von Frauen und Männern weitge-
hend angeglichen. Dennoch werden Frauen in allen Segmenten des Arbeits-
marktes benachteiligt. Das Job-AQTIV-Gesetz enthält kaum Maßnahmen, die
dieser Benachteiligung wirksam entgegenwirken. Es wird das selbst gesteckte
Ziel, die Gleichstellung von Frauen und Männern als durchgängiges Ziel der
Arbeitsförderung zu verankern, nicht erreichen. So fehlt eine konsequente
Quotierung aller Maßnahmen. Unverändert bleiben Regelungen, die Frauen
und Männer mit Erziehungspflichten mittelbar diskriminieren und ihnen die
Teilnahme an Arbeitsfördermaßnahmen oder an der Aufnahme einer Beschäfti-
gung erschweren oder unmöglich machen. Es geht an der Erwerbssituation von
Frauen vorbei, dass die Einbeziehung von Kindererziehungszeiten in die Ver-
sicherungspflicht nur für zuvor Versicherte und nicht für Erwerbslose und ge-
ringfügig Beschäftigte gelten soll. Frauen und Männer, die Angehörige pflegen,
müssen ebenfalls in die Versicherungspflicht einbezogen werden.
Die Regelungen des Job-AQTIV-Gesetzes werden den veränderten wirtschaft-
lichen Rahmenbedingungen, der tatsächlich eingetretenen Lage auf dem Ar-
beitsmarkt mit dem gewaltigen Ost-West-Gefälle, der hohen und verfestigten
Langzeitarbeitslosigkeit und der Finanzierbarkeit mit traditionellen und neuen
Finanzierungsquellen nicht gerecht. Seit der Vorlage des Gesetzesentwurfs ist
ein Abschwung der wirtschaftlichen Entwicklung eingetreten, und zugleich
sind die Prognosen für 2002 nach unten korrigiert worden. Diese Tatsachen
haben die Lage am Arbeitsmarkt weiter verschärft und erfordern zusätzliches
Gegensteuern.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7379

Das Kernproblem, die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen, für die qua-
lifiziert und in die vermittelt werden muss, wird durch die Reform nicht nach-
haltig angegangen.
Die Vorschläge sind von der Idee des „aktivierenden Sozialstaates“ durchdrun-
gen. Arbeitsmarktpolitik soll „Fördern und Fordern“. Die Umsetzung dieses
Grundsatzes ist stark geprägt von dem gesellschaftspolitisch schädlichen Prin-
zip der Individualisierung von Arbeitslosigkeit.
Die Umstellung (oder Ergänzung) der bisherigen vorwiegend „reaktiven“ Maß-
nahmen der Förderung auf „präventive“ darf nicht zu Lasten der Arbeitsförde-
rung für Arbeitslose gehen.
Die Möglichkeiten der Pauschalförderung, die das Job-AQTIV-Gesetz bei
ABM einräumt, werden durch die niedrigen Fördersätze stark eingeschränkt
und können sich als Armutsfalle erweisen.
Die Rücknahme von Verschlechterungen für Arbeitslose aus der Zeit der Kohl-
Regierung, wie z. B. die jährliche dreiprozentige Senkung der Bemessungs-
grundlage der Arbeitslosenhilfe, erfolgt nicht in dem möglichen und nötigen
Rahmen.
Die Einführung verbindlicher, individueller Eingliederungsvereinbarungen
zwischen dem Arbeitsamt und der oder dem Arbeitslosen oder Ausbildungs-
suchenden mit dem Ziel, ausgehend von den persönlichen Fähigkeiten eine
möglichst genaue Beratung und Orientierung zu schaffen, die der oder dem Ar-
beitslosen tatsächlich gerecht wird, muss einvernehmlich sein und darf nicht
zur Verschärfung von Sanktionen gegenüber Arbeitslosen führen.
Neue Arbeitsplätze entstehen allenfalls in der exportorientierten Industrie oder
in modernen Industrie- und Dienstleistungssektoren, während in den traditio-
nellen Industrie- und Dienstleistungsbereichen sowie im öffentlichen Dienst
weiter Arbeitsplätze abgebaut werden. Gleichzeitig bleiben viele gesellschaft-
lich notwendige Aufgaben u. a. im sozialen, kulturellen und ökologischen Be-
reich unerledigt. Deshalb steht die Gesellschaft vor der Aufgabe, diese notwen-
dige Arbeit in Erwerbsarbeit umzuwandeln. Im Job-AQTIV-Gesetz ist als Ziel
die Weiterentwicklung öffentlich geförderter Beschäftigung benannt. Ein öf-
fentlich geförderter Beschäftigungssektor ist eine Möglichkeit, neue und dauer-
hafte Arbeitsplätze zu schaffen. Es geht darum, das vorhandene Instrumenta-
rium auszubauen, um es mit einer Perspektive für die Betroffenen zu versehen.
Dies betrifft insbesondere ABM und SAM (Strukturanpassungsmaßnahmen),
deren Weiterentwicklung für öffentlich geförderte Beschäftigung genutzt wer-
den soll.
Die im Gesetz vorgesehene Ausweitung von Möglichkeiten für die Arbeitsäm-
ter, Sperrzeiten gegen Arbeitslose für den Bezug von Arbeitslosenunterstüt-
zung zu verhängen, ist bei dem Bemühen um Arbeit völlig inakzeptabel. Es ist
rechtlich und moralisch besonders unhaltbar, den subjektiven Eindruck des
potentiellen Arbeitgebers vom Verhalten des arbeitslosen Bewerbers zum
Maßstab für die Weiterzahlung des Arbeitslosengeldes zu machen.
Für eine erfolgversprechende Beauftragung Dritter mit der Arbeitsvermittlung
bestehen zurzeit in Deutschland wenig Voraussetzungen. Bisherige Erfahrun-
gen haben gezeigt, dass private Firmen Gewinn orientiert handeln und deshalb
gegen Provision von einem Job in einen anderen vermittelten. Zu fragen bliebe
auch, warum die Arbeitsämter nicht vermitteln können, wenn es ein ausrei-
chendes Arbeitsplatzangebot gibt. Die Hinzuziehung Dritter, wie etwa von
Aus- und Weiterbildungsfirmen, ist hingegen ein positiver und erfolgverspre-
chender Schritt.
Die Einführung einer Wartezeit von drei Jahren bei der Wiedervermittlung in
eine ABM wirkt sich besonders auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt negativ

Drucksache 14/7379 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

aus. Hier sind ABM und SAM noch allzu oft die einzigen Möglichkeiten der
Erwerbsarbeit, weil eine ABM meist nicht zu einem Arbeitsplatz auf dem regu-
lären Arbeitsmarkt führen kann. Dieses Problem nimmt gerade angesichts der
Wirschaftsprognosen für 2002 an Schärfe zu. Die angestrebte Verstetigung der
Arbeitsförderung und die Möglichkeiten zur Verlängerung der Förderdauer
dürfen nicht durch die Verlängerung der Wartezeit für den Einzelnen konterka-
riert werden.
Verleiharbeit sollte generell nicht befördert werden. Leiharbeit führt häufig zu
Lohndumping, der Anspruch der „besseren Vermarktung“ der Fähigkeiten
eines Arbeitssuchenden entspricht in der Regel nicht den Einbußen beim Lohn.
Die gesetzlich gewährte Ausweitung der Verleihdauer führt zu einer weiteren
Ausbreitung des Niedriglohnsektors. Darüber hinaus verfestigt dies die Ten-
denz, in einem Betrieb Menschen für gleiche Tätigkeiten zu unterschiedlichen
Arbeitsbedingungen und Löhnen zu beschäftigen. Auf Dauer spaltet dies Be-
legschaften und führt zu einer allgemeinen Verschlechterung arbeitsrechtlicher
Standards.
Das Gesetz tritt zu einer Zeit in Kraft, in der ein wirtschaftliches Wachstum mit
beschäftigungswirksamen Auswirkungen in weite Ferne gerückt ist. Eher im
Gegenteil wird die Zahl der Erwerbslosen sich auf hohem Niveau verfestigen
bzw. anwachsen.
Angesichts dieser voraussehbaren Entwicklungen erscheint eine ständige Über-
prüfung der Wirksamkeit des Job-AQTIV-Gesetzes und einzelner seiner Maß-
nahmen dringend geboten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. dem Deutschen Bundestag binnen Jahresfrist über die Auswirkungen der

Neuregelungen des Job-AQTIV-Gesetzes zu berichten, die Wirksamkeit der
neuen gesetzlichen Regelungen kritisch zu analysieren und den Beitrag des
Job-AQTIV-Gesetzes für die Entlastung des Arbeitsmarktes regelmäßig zu
bewerten;

2. zu überprüfen, ob die Neuregelungen die mittelbare und unmittelbare Dis-
kriminierung von Frauen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik wirklich ent-
schärfen können;

3. die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die mit dem Job-AQTIV-Gesetz
begonnenen Reformschritte bei der Arbeitsförderung durch weitere gesetz-
liche Regelungen noch vor Ablauf der Legislaturperiode ergänzt bzw. ge-
ändert werden können, hierzu zählen u. a.:
l Wegfall des Leistungsbezugs als Voraussetzung für die Teilnahme an

Maßnahmen,
l Abschaffung der restriktiven Anrechnung von Partnereinkommen in der

Arbeitslosenhilfe,
l Beseitigung der diskriminierenden Auswirkungen der Steuerklasse V auf

die Höhe der Lohnersatzleistungen,
l Abbau der diskriminierenden Pendelzeiten bei Kindererziehung und

Pflege,
l vollständige Streichung der Abminderungsmechanismen beim Bezug

von Arbeitslosenhilfe,
l gleichberechtigter Zugang zum Arbeitsmarkt und zielgruppenspezifische

Fördermaßnahmen für Migrantinnen und Migranten und
l die vollständige Öffnung des Zugangs zu allen Arbeitsförderinstrumen-

ten für alle Arbeitslosen;

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/7379

4. die mit dem vorgelegten Gesetz beabsichtigte stärkere Förderung von
öffentlich geförderter Beschäftigung als einen Korridor zur Überführung
von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt auszubauen, in dem gesell-
schaftlich notwendige, bisher über Förderprogramme finanzierte oder nicht
bezahlte Arbeit verstärkt in Erwerbsarbeit mit Existenz sichernden Einkom-
men umgewandelt wird;

5. besonders die folgenden Teile des Gesetzes in der Praxis kritisch zu über-
prüfen und dem Deutschen Bundestag Änderungsvorschläge zu unterbrei-
ten:
5.1 die Verschärfung der Sperrzeitenregelung durch die Einführung eines

Verhaltenskodexes für Arbeitslose bei der Arbeitsvermittlung, die fak-
tisch auf eine Beweislastumkehr hinausläuft,

5.2 die Beauftragung Dritter mit der gesamten Vermittlung ohne ausrei-
chende Kontrollregelungen,

5.3 die Einführung einer Wartezeit von drei Jahren, bis erneut eine ABM in
Anspruch genommen werden kann,

5.4 die Ausweitung der Vermittlungszeit bei Leiharbeit auf 24 Monate;
6. die Auswirkungen der Ausweitung präventiver Maßnahmen für von Ar-

beitslosigkeit Bedrohte auf die Möglichkeiten und die Finanzierung des Ab-
baus der bereits vorhandenen Arbeitslosigkeit zu prüfen;

7. die Maßnahmen des Job-AQTIV-Gesetzes im Haushaltsplan des Bundes
finanziell abzusichern.

Berlin, den 7. November 2001
Dr. Klaus Grehn
Pia Maier
Dr. Heidi Knake-Werner
Monika Balt
Dr. Ruth Fuchs
Petra Bläss
Heidi Lüth
Rosel Neuhäuser
Dr. Ilja Seifert
Maritta Böttcher
Roland Claus und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.