BT-Drucksache 14/7294

Eine Grundsicherung in die Arbeitslosenversicherung einführen

Vom 7. November 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7294
14. Wahlperiode 07. 11. 2001

Antrag
der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Klaus Grehn, Dr. Heidi Knake-Werner,
Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Ilja Seifert, Rosel Neuhäuser, Heidemarie Lüth,
Dr. Uwe-Jens Rössel, Petra Bläss und der Fraktion der PDS

Eine Grundsicherung in die Arbeitslosenversicherung einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verweist auf
eine gesellschaftliche Schieflage: Das Problem der Armut trotz Erwerbstätig-
keit wächst kontinuierlich an und die Armutsquote der Arbeitslosen und ihrer
Angehörigen ist drei mal so hoch wie die der Gesamtbevölkerung. Immer mehr
Erwerbslose und Menschen mit niedrigem Erwerbseinkommen benötigen Leis-
tungen aus der Sozialhilfe, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Diese Entwicklung macht eine grundlegende Reform der Arbeitslosenhilfe und
der Sozialhilfe notwendig, mit dem Ziel, Arbeitslose in die Arbeitslosenver-
sicherung zurückzuholen und ihnen
l einen Anspruch auf eine Grundsicherung und
l eine Beratung bzw. Förderung auf Grundlage des Dritten Buches Sozial-

gesetzbuch (SGB III) zu garantieren.
Die Sozialhilfe wird dadurch auf ihre ursprüngliche Funktion zurückgeführt.
Mit der Einführung einer steuerfinanzierten Grundsicherung für Rentnerinnen
und Rentner im Zuge der Rentenreform wurde deutlich: Es ist möglich, im
Kontext eines Sozialversicherungszweiges eine Grundsicherung einzuführen.
Die Einführung einer Grundsicherung in Höhe der Summe aller Sozialhilfeleis-
tungen für einen Haushaltsvorstand ist auch in der Arbeitslosenversicherung
notwendig. Die Grundsicherung kann institutionell in der Arbeitslosenver-
sicherung verankert werden, sie greift genauso als steuerfinanzierte Leistung
wie die Sozialhilfe.
Durch eine solche Reform hätten alle beim Arbeitsamt registrierten Arbeits-
losen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten können,
einen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung in der Arbeitslosenver-
sicherung. Damit wäre die finanzielle Unterstützung zur Sicherung ihres Le-
bensunterhaltes aus einer Hand und ohne überflüssige Doppelverwaltung
gewährleistet. Gleichzeitig entstünde ein einheitlicher Anspruch auf Beratung,
Betreuung und Förderung durch die Arbeitsämter für alle Arbeitslosen auf
Grundlage des SGB III.

Drucksache 14/7294 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Den Interessen der Arbeitslosen würde insofern Rechnung getragen werden, als
sie sich nicht mehr an zwei Ämter wenden müssten, um ihre Ansprüche geltend
zu machen und sie nicht mehr die Erfahrung einer institutionellen Verhinde-
rung wirksamer Unterstützung und Hilfe durch den wechselseitigen Ausschluss
von Förderinstrumenten machen müssten.
Die Sozialhilfe darf nicht länger als letztes Auffangnetz für Arbeitslose miss-
braucht werden.
Im Jahr 2000 erhielten fast 2,7 Millionen Menschen außerhalb von Einrichtun-
gen Unterstützung durch die Sozialhilfe. Die Zahl derjenigen, die trotz Er-
werbsarbeit Sozialhilfe erhalten, hat sich seit 1995 um ein Drittel erhöht. Ende
2000 reichte das Arbeitseinkommen von knapp 150 000 Menschen nicht mehr
aus, um ihren Lebensunterhalt zu sichern; sie erhielten zusätzlich ergänzende
Sozialhilfe. Davon waren etwa 70 000 in Vollzeit und 80 000 in Teilzeit be-
schäftigt.
Ende vergangenen Jahres waren 650 000 Beziehende von Hilfe zum Lebens-
unterhalt außerhalb von Einrichtungen offiziell als „arbeitslos“ registriert; das
sind 40 % der 15- bis 64-Jährigen und fast ein Viertel aller Sozialhilfeempfan-
genden. Das Statistische Bundesamt schätzt, dass noch bis zu 270 000 weitere
Personen als „erwerbslos“ angesehen werden könnten und dem Arbeitsmarkt
zur Verfügung ständen.
Fast jeder vierte arbeitslos gemeldete Jugendliche erhielt vergangenes Jahr
Leistungen vom Sozialamt, aber die große Mehrheit keine vom Arbeitsamt.
Rund 56 000 Jugendliche, die erwerbstätig sind oder eine Aus- bzw. Weiterbil-
dung absolvieren, sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Etwa 230 000 Arbeitslose im Sozialhilfebezug erhielten gleichzeitig Arbeits-
losengeld oder Arbeitslosenhilfe, d. h. dass mehr als 8 % der Arbeitslosen im
Leistungsbezug des Arbeitsamtes ergänzend Sozialhilfe erhielten.
Etwa 420 000 Arbeitslose im Sozialhilfebezug erhielten keine Leistungen vom
Arbeitsamt, d. h. dass 43 % der Arbeitslosen ohne Leistungsbezug gleichwohl
Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe hatten.
In den vergangenen fünf Jahren ist der Anteil der arbeitslos gemeldeten Sozial-
hilfebeziehenden deutlich angestiegen. 1995 waren 30 % der 15- bis 64-Jähri-
gen Sozialhilfeempfangenden arbeitslos gemeldet, seit 1998 sind es über 40 %.
1995 erhielten 6,5 % der Arbeitslosen im Leistungsbezug des Arbeitsamtes er-
gänzende Sozialhilfe, im Jahr 2000 trotz sinkender Arbeitslosenzahlen 8,1 %.
1995 erhielt ein Viertel der Arbeitslosen ohne Arbeitsamtsleistungen laufende
Hilfe zum Lebensunterhalt, im vergangenen Jahr fast 43 %.
Diese Entwicklung zeigt: Auch in der jüngsten Vergangenheit wurde sowohl
das Problem der Arbeitslosigkeit als auch die Unterstützung der Arbeitslosen
immer stärker auf die Kommunen abgewälzt – auf eine Ebene, auf der diese
Probleme nicht lösbar sind.
Darüber hinaus kann eine erhebliche Dunkelziffer verdeckter Armut Arbeits-
loser vermutet werden. Denn Ende 2000 lagen bei 35 % der Arbeitslosen mit
Arbeitslosengeld und bei 78 % der Arbeitslosen mit Arbeitslosenhilfe die mo-
natlichen Leistungen unter 1 200 DM. Hierbei handelte es sich zusammen um
1,7 Millionen arbeitslose Männer und – vor allem – Frauen. Auch wenn in vie-
len Fällen durch das Einkommen anderer Familienangehöriger oder den Bezug
anderer Sozialleistungen wie Wohngeld der Lebensunterhalt gedeckt werden
kann, so bleibt doch ein erhebliches Unterversorgungspotential.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7294

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
1. Durch entsprechende Änderungen des SGB III eine Grundsicherung für die

Arbeitslose einzuführen, die
a) im Bedarfsfall der bzw. dem Arbeitslosen die Lohnersatzleistungen bis

zum Existenzminimum aufstockt.
Dadurch wären bis zu 230 000 Arbeitslose nicht mehr auf Leistungen des
Sozialamtes angewiesen. Die Nettokosten für den Bundeshaushalt belie-
fen sich dabei um 0,8 bis 1,1 Mrd. DM jährlich, in gleichem Umfang
würden die kommunalen Haushalte entlastet.

b) Den Anspruch auf Lohnersatzleistung mit Grundsicherung für alle beim
Arbeitsamt gemeldeten Arbeitslosen sicher stellt.
Rund 420 000 Arbeitslose, die bei den Arbeitsämtern registriert sind,
bedürften dann nicht mehr der Sozialhilfe, sondern erhielten Arbeits-
losenhilfe oder -geld mit Grundsicherung. Die Nettokosten für den Bun-
deshaushalt beliefen sich auf 6 bis 7 Mrd. DM (inkl. Erhalt des Kranken-
versicherungsschutzes und der Rentenanwartschaften). Eine Entlastung
der kommunalen Haushalte fände in fast gleichem Umfang statt.

c) auch den eigenen Lebensunterhalt bei Erwerbstätigen mit niedrigem Ein-
kommen sichert, indem die Löhne und Gehälter gegebenenfalls auf-
gestockt werden. Hierzu ist lediglich eine Rechtsänderung im SGB III
erforderlich. Nach heutigem Recht wird einem Arbeitslosen, der ein
Nebeneinkommen erzielt, ein monatlicher Freibetrag in Höhe von min-
destens 50 % der Geringverdiener-Grenze (315 DM) im Monat zugestan-
den. Dieser Mindestfreibetrag soll auch in der Grundsicherung seine
Gültigkeit haben. Allerdings gilt heute, dass bei einer wöchentlichen
Arbeitszeit ab 15 Stunden (18 Std. bei Selbstständigen und mithelfenden
Familienangehörigen) in der Regel der Leistungsanspruch erlischt, weil
keine Arbeitslosigkeit mehr vorliegt. Diese Vorschrift ist dahin gehend zu
ändern, dass der Leistungsanspruch auch bei längerer Wochenarbeitszeit
fortbesteht, wenn aus dem Erwerbseinkommen allein der Lebensunter-
halt (Existenzminimum plus Freibetrag) nicht gedeckt werden kann.

2. Eine Reform der Verwaltungswege zu entwickeln, deren Ziel darin besteht,
Aufgaben der Arbeits- und Sozialämter bei der Bewilligung von finanziellen
Leistungen zusammenzufassen und effektive Dienstleistungen für die Bür-
gerinnen und Bürger auf kommunaler Ebene zusammenzuführen. Dadurch
könnten Missstände in der Zusammenarbeit von Sozialämtern und Arbeits-
ämter minimiert werden. Hierbei ist zu prüfen, ob die Aufgaben effektiver
durch eigenständige Behörden, z. B. Bürgerämter für Arbeit, oder durch neu
zu schaffende Abteilungen der Arbeitsämter, bewältigt werden können.
a) Diese Stellen werden zum einen mit Personal der Kommunen, vor allem

der Abteilungen „Hilfe zum Lebensunterhalt“ und „Hilfe zur Arbeit“, be-
setzt und zum anderen mit Beschäftigten der Arbeitsämter, deren Neben-
stellen dazu weiterentwickelt werden können. Die notwendige Aufsto-
ckung des Personals findet durch die Bundesanstalt für Arbeit statt, zum
Teil durch Verlagerung von Kompetenzen, zum Teil durch Neueinstellun-
gen.
Eine entsprechende personelle Ausstattung ist zu sichern, damit gewähr-
leistet ist, dass die Arbeitsvermittlung ihrer Verpflichtung, dem Arbeits-
losen bei der Suche nach Arbeit effektiv zu helfen, nachkommen kann.
Deshalb sollten die jeweiligen Vermittler und Vermittlerinnen im Durch-
schnitt nicht mehr als 100 Arbeitslose betreuen.

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b) Aufgaben dieser Verwaltungen:
l Unterstützung aus einer Hand

Bei dieser Stelle wird auf Antrag und nach den Kriterien der Bewilli-
gung von Arbeitslosenhilfe oder -geld geprüft, ob ein Anspruch auf
Grundsicherung besteht und/oder ob für nichtarbeitslose Familien-
angehörige weiterhin ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht. Kosten-
trägerschaften usw. sollen behördenintern geregelt werden. Für den
oder die Arbeitslose entfällt die Notwendigkeit, regelmäßig bei zwei
Behörden vorstellig zu werden. Die Kommune bleibt weiterhin finan-
ziell für Personen zuständig, die aus überwiegend anderen Gründen
als Arbeitslosigkeit Sozialhilfe erhalten.

l Beratung, Vermittlung und Qualifizierung aus einer Hand
Hier werden die notwendigen Abstimmungen durchgeführt und die
Mittel der Sozialämter/Kommunen (z. B. Hilfe zur Arbeit) und der
Arbeitsämter (Eingliederungstitel) zusammengeführt, um die best-
mögliche Förderung für Arbeitslose zu ermöglichen.

3. Die Arbeitsförderpolitik mit dem Ziel zu reformieren,
a) die individuelle Förderung durch entsprechende Qualifizierung und

Zugangsvoraussetzungen zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu verbes-
sern;

b) eine größere Übersichtlichkeit durch die sinnvolle Vereinfachung und
Vereinheitlichung der Vielzahl der Lohnkostenzuschüsse zu schaffen;

c) durch die Umwandlung eines Teils der Fördermittel für öffentliche Auf-
träge, in Kombination mit anderen öffentlichen Mitteln und unter der
Auflage Arbeitslose einzustellen, für eine höhere Arbeitsplatzwirksam-
keit zu sorgen.

Berlin, den 7. November 2001
Pia Maier
Dr. Klaus Grehn
Dr. Heidi Knake-Werner
Monika Balt
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Ilja Seifert
Rosel Neuhäuser
Heidemarie Lüth
Dr. Uwe-Jens Rössel
Petra Bläss
Roland Claus und Fraktion

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