BT-Drucksache 14/7155

Existenzbedrohende Prüfungspraxis der Sozialversicherungsträger für kleine und mittelständische Betriebe unterbinden

Vom 17. Oktober 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/7155
14. Wahlperiode 17. 10. 2001

Antrag
der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dirk Niebel, Ina
Albowitz, Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg
van Essen, Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann,
Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, Ulrich
Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Ulrich Irmer, Gudrun Kopp, Jürgen
Koppelin, Ina Lenke, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt),
Cornelia Pieper, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Marita Sehn, Dr. HermannOtto Solms,
Carl-Ludwig Thiele, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Existenzbedrohende Prüfungspraxis der Sozialversicherungsträger für kleine
und mittelständische Betriebe unterbinden

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ist aufgrund der Urteile des
Bundessozialsgerichts vom 30. August 1994 (12 RK 59/62) und 21. Mai 1996
(RK 64/94), beginnend im Jahre 1999, dazu übergegangen, die Sozialversiche-
rungsbeiträge nicht nur für tatsächlich vom Arbeitgeber an den Arbeitnehmer
erbrachte Leistungen zu berechnen (sog. Zuflussprinzip), sondern auch für sol-
che, die zwar tatsächlich nicht erbracht worden sind, auf die der Arbeitnehmer
jedoch einen tarifvertraglichen Anspruch gehabt hat (sog. Anspruchs- bzw.
Entstehenssprinzip). Auf die Arbeitgeber kommen somit erhebliche Nachfor-
derungen zu, die insbesondere bei den kleinen und mittleren Unternehmen
existenzbedrohende Wirkungen haben können.
Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,
von ihrer Verordnungsermächtigung in § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV nach folgen-
der Maßgabe Gebrauch zu machen: Die Sozialversicherungsbeiträge sind nur
auf der Grundlage von tatsächlich vom Arbeitgeber erbrachten Leistungen zu
berechnen. Diese Feststellung bezieht sich auch rückwirkend auf den Ver-
jährungszeitraum des § 25 SGB IV.

Berlin, den 17. Oktober 2001
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

Drucksache 14/7155 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Begründung
Nachdem sowohl die Beitragseinzugsstellen wie die Sozialversicherungssträ-
ger wie auch die Rechtsprechung jahrzehntelang vom Zuflussprinzip ausgegan-
gen sind, ist der Prüfdienst der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte seit
1999 nun dazu übergegangen, rückwirkend für die letzten vier Jahre die Bei-
tragsleistungen nicht mehr nach dem Zuflussprinzip, sondern nach dem An-
spruchsprinzip zu berechnen. Damit kommen auf die Arbeitgeber erhebliche
Nachforderungen zu, die insbesondere bei den kleinen und mittleren Unterneh-
men existenzbedrohende Wirkungen haben werden.
Mit dem Inkrafttreten der gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversiche-
rung am 1. Juli 1977 wurde mit § 14 Abs. 1 SGB IV die ursprünglich beste-
hende einheitliche Berechnung der Bemessungsgrundlage von Lohnsteuer und
Sozialversicherungsbeiträgen aufgegeben. Der Gesetzgeber wollte damit dem
Interesse des Einzelnen Rechnung tragen, bestimmte Teile seines Einkommen
zwar lohnsteuer-, aber nicht sozialversicherungsfrei zu halten, um mit der Be-
rücksichtigung eines höheren Einkommens in der Sozialversicherung die zu er-
wartende Leistung zu erhöhen. Die Folge ist, dass das Zuflussprinzip aus dem
Steuerrecht nicht zwangsläufig auch im Sozialrecht Anwendung findet. Anders
als im Steuerrecht (§ 11 Abs. 1 Satz 1, § 38 Abs. 2 EStG) gilt nach der Recht-
sprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 54, 136 ff.; 75, 61 ff.) nicht das
Zufluss-, sondern das Entstehensprinzip.
Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum so genannten Entstehens-
prinzip im Bereich der gesetzlichen Sozialversicherung sieht das Entstehen des
Anspruchs auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag als nicht davon abhängig
an, ob das geschuldete Arbeitsentgelt auch gezahlt wurde, es dem Arbeitneh-
mer also zugeflossen ist. Die Beitragspflicht wird daher daran geknüpft, ob der
Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers durch seine Arbeitsleistung entstanden
ist, nicht aber daran, ob der Arbeitnehmer die Vergütung auch (in dieser Höhe)
erhalten hat. Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung zum Entstehens-
prinzip nunmehr auch einer Entscheidung zur Frage des Vorenthaltens von
Arbeitnehmeranteilen zu den Sozialversicherungbeiträgen (§ 266a StGB als
Schutzgesetz im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB) zugrunde gelegt.
Das Entstehensprinzip gilt nach der Rechtsauffassung der Sozialversicherungs-
träger für alle Beschäftigungsverhältnisse. Bei den Beschäftigungsverhältnis-
sen geringfügig oder kurzfristig Beschäftigter wirkt es sich aber wirtschaftlich
besonders belastend für die Unternehmen aus, weil durch die fiktive Hinzu-
rechnung selbst geringer Vergütungsbestandteile sehr häufig die Geringfügig-
keitsgrenze, also die 630-DM-Grenze, überschritten wird und damit die Sozial-
versicherungsfreiheit bzw. die sozialversicherungsrechtliche Pauschalierungs-
möglichkeit verloren geht und der Anspruch der Sozialversicherungsträger auf
den Gesamtsozialversicherungsbeitrag (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile
zur Sozialversicherung) entsteht.
Da die Berechnung der Bemessungsgrundlage im Sozialversicherungsrecht
eine Indizwirkung für das Steuerrecht hat, sind auch die steuerlichen Folgen
dieser neuen Prüfungspraxis für die Unternehmen besonders nachteilig. Bei
Berücksichtigung des Entstehensprinzips kommen immer mehr Finanzämter
wegen der fiktiven Hinzurechnung nicht gezahlter, aber rechtlich zu beanspru-
chender Vergütungsbestandteile, zu dem Ergebnis, dass mit der Überschreitung
der Geringfügigkeitsgrenze des Sozialversicherungsrechts die Steuerfreiheit
nach § 3 Nr. 39 EStG nicht gegeben ist. Aufgrund der Lohnsteuerhaftung des
Arbeitgebers gemäß § 38 Abs. 3 EStG werden deshalb erhebliche Ansprüche
auf Lohnsteuer nacherhoben.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/7155

Hinzu kommt, dass die Sozialversicherungsträger im Rahmen ihrer Betriebs-
prüfungen die Sozialversicherungsbeiträge volle vier Kalenderjahre rückwärts
(§ 25 Abs. 1 Satz 1 SGB IV) nacherheben können. So laufen für die Unterneh-
men regelmäßig ganz erhebliche Nachzahlungssummen auf. Eine Vertrauens-
schutzregelung im Hinblick auf die bisher mildere Prüfungspraxis wollen die
Sozialversicherungsträger für die abgelaufenen Kalenderjahre – entgegen vor-
herigen anderslautenden Ankündigungen – den betroffenen Unternehmen auch
nicht gewähren.
Zwar existiert die Möglichkeit von Erlass oder Stundung. Allerdings ist zu be-
fürchten, dass bei nicht rechtzeitiger Stattgabe von Stundungsbegehren die
Existenz einiger Betriebe, die mit solchen Nachforderungen konfrontiert sind,
ernstlich bedroht ist.
Erhebliche Zweifel bestehen auch, ob die geänderte Prüfungspraxis insbeson-
dere im Hinblick auf rückwirkende Erhebungen von Beiträgen mit dem vom
Bundessozialgerichts anerkanntem Vertrauensschutz vereinbar ist. Dies ist ins-
besondere deshalb problematisch, weil der Arbeitgeber seinerseits vom Arbeit-
nehmer im Regelfall nur für die zurückliegende Zeit von drei Monaten Sozial-
versicherungsbeiträge ersetzt verlangen kann. Bei der gebotenen verfassungs-
konformen Auslegung kann es nicht sein, dass Arbeitnehmer oder Arbeitgeber
mit Beiträgen belastet werden, die sich für den Arbeitnehmer nicht in Leistun-
gen der Sozialversicherungsträger niederschlagen.
Erhebliche Bedeutung erlangt die Abkehr vom Zuflussprinzip insbesondere bei
Tarifverträgen mit Allgemeinverbindlichkeit. Auch wenn die tariflich verein-
barten Leistungen gar nicht in den jeweiligen Arbeitsverträgen vereinbart wur-
den, werden sie vom Sozialversicherungsträger zur Berechnungsgrundlage ge-
macht. In den seltensten Fällen kennen die betroffenen Selbständigen oder
deren Arbeitnehmer jedoch den jeweiligen Tarifvertrag überhaupt. Dieser wird
nämlich regelmäßig nur Gewerkschaftsmitgliedern ausgehändigt. Diese Be-
rechnungspraktiken verleihen damit den Gewerkschaften einen unerwarteten
Einfluss auf die Arbeitsvertragsgestaltung von nicht am Tarifvertrag beteiligten
Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Aus diesen Gründen prüfen die Sozialversicherungsträger das Entstehensprin-
zip besonders intensiv in Betrieben, für die allgemeinverbindliche Tarifverträge
gelten. Tatsächlich ist es aber so, dass gerade Branchen, die herkömmlicher-
weise mit einer großen Zahl von geringfügig oder kurzfristig Beschäftigten
arbeiten müssen, besonders häufig unter der Geltung allgemeinverbindlicher
Tarifverträge stehen. Zu nennen sind das Bauhauptgewerbe, das Gebäudereini-
ger-Handwerk, das Bewachungsgewerbe, das Hotel- und Gaststättengewerbe,
der Groß- und der Einzelhandel sowie das Bäcker- und das Friseurhandwerk.
Wenn der Arbeitgeber für die Sozialversicherungsbeiträge sämtliche tariflich
vereinbarten Leistungen einkalkulieren muss, also auch für solche, die in dem
konkreten Arbeitsverhältnis gar nicht vereinbart waren, kann der Arbeitnehmer
nur noch weniger Stunden beschäftigt werden, damit die 630-DM-Grenze nicht
überschritten wird. Die wirtschaftlichen Folgen für die Unternehmen, die im
Rahmen von Sozialversicherungsprüfungen für die abgelaufenen Jahre von
dieser neueren Prüfungspraxis der Sozialversicherungsträger betroffen werden,
sind teilweise dramatisch. In vielen Branchen sind Unternehmen durch die zu
erwartenden Nachzahlungsverpflichtungen in ihrer Existenz bedroht.
Zum anderen werden die 630-DM-Jobs durch die neue Berechnung der Sozial-
versicherungsbeiträge sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer noch
unattraktiver als sie es aufgrund der enormen bürokratischen Verfahren ohne-
hin schon sind. Die deutsche Volkswirtschaft verliert so ihre letzten Flexibili-
tätspotentiale auf dem Arbeitsmarkt.

Drucksache 14/7155 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
Mit dem Erlass einer Verordnung, die in diesen Fällen die Bemessungsgrund-
lage des Sozialrechts der des Steuerrechts wieder angleicht, werden diese Här-
ten behoben und die Arbeitgeber von erheblichen Beitragsnachzahlungen be-
freit. Notwendig ist es auch, diese Feststellung auf die Fälle zu beziehen, die
aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und der Verjährungs-
frist des § 25 SGB IV sonst noch von erheblichen Beitragsnachforderungen
betroffen wären.

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