BT-Drucksache 14/6634

Für ein modernes Wettbewerbs- und Kartellrecht in Europa

Vom 3. Juli 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/6634
14. Wahlperiode 03. 07. 2001

Antrag
der Abgeordneten Hartmut Schauerte, Wolfgang Börnsen (Bönstrup),
Hansjürgen Doss, Albrecht Feibel, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Erich G. Fritz,
Dr. Jürgen Gehb, Kurt-Dieter Grill, Siegfried Helias, Ernst Hinsken, Ulrich Klinkert,
Dr. Martina Krogmann, Dr. Norbert Lammert, Vera Lengsfeld, Dr. Martin Mayer
(Siegertsbrunn), Elmar Müller (Kirchheim), Bernd Neumann (Bremen), Friedhelm
Ost, Dr. Bernd Protzner, Thomas Rachel, Hans-Peter Repnik, Dr. Heinz
Riesenhuber, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Anita Schäfer, Karl-Heinz Scherhag,
Dietmar Schlee, Max Straubinger, Gunnar Uldall, Andrea Voßhoff, Matthias
Wissmann, Dagmar Wöhrl und der Fraktion der CDU/CSU

Für ein modernes Wettbewerbs- und Kartellrecht in Europa

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Europäische Kommission hat am 27. September 2000 einen Verordnungs-
vorschlag vorgelegt, in dem sie ihre Ansichten zur Modernisierung der Vor-
schriften zur Anwendung der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag darlegt. In einigen
Punkten geht die Europäische Kommission dabei über ihre Ideen im „Weiß-
buch“ vom 23. April 1999 hinaus.

Der Deutsche Bundestag nimmt zu den Vorschlägen der Kommission wie folgt
Stellung:

1. Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik

Ein gemeinsamer Markt braucht gemeinsame Regeln. Ziel der europäischen
Wettbewerbspolitik muss die Schaffung eines einheitlich und dezentral an-
wendbaren Wettbewerbs- und Kartellrechts für den europäischen Binnenmarkt
sein, das hohen Wettbewerbsschutz gewährleistet, den rechtsstaatlichen An-
sprüchen der Unternehmen genügt, die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit
der europäischen Wirtschaft stärkt, Konsumentensouveränität ernst nimmt und
dezentrale wirtschaftliche Strukturen nicht benachteiligt, sondern fördert. Dem
im Vertrag der Europäischen Union verankerten Subsidiaritätsprinzip ist bei
der geplanten Dezentralisierung der Rechtsanwendung durch eine zielführende
Aufgabenteilung sowie eindeutige Verfahrensregeln über die Zuständigkeiten
der nationalen Gerichte, der mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehörden und der
Kommission Rechnung zu tragen. Den Mitgliedstaaten sind angemessene Mit-
wirkungsmöglichkeiten an der Fortentwicklung des gemeinschaftlichen Wett-
bewerbsrechts einzuräumen.

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2. Einführung der Legalausnahme

Die Notwendigkeit einer Reform des europäischen Kartellverfahrensrechts ist
angesichts der Schwerfälligkeit und Bürokratie des bestehenden Verfahrens un-
strittig. Die bestehende Situation, aus der heraus der Wechsel zum System der
Legalausnahme vorgeschlagen wird, ist in hohem Maße unbefriedigend: Frei-
stellungsanträge bleiben jahrelang unbearbeitet, förmliche Entscheidungen er-
gehen kaum, selbst Verwaltungsschreiben („Comfort Letter“) sind nicht die
Regel. Nach Angaben der Kommission werden nur noch 6 % der Anmeldever-
fahren durch förmliche Entscheidung abgeschlossen.

Gegen die Abkehr vom Notifizierungssystem ist eingewendet worden, dass da-
durch die Kenntnis der Kommission über praktizierte wettbewerbsbeschrän-
kende Vereinbarungen – gerade im sensiblen Horizontalbereich – verringert,
das kartellrechtliche Schutzniveau gesenkt und die Kontrolle faktisch auf eine
bloße Missbrauchsaufsicht reduziert werde. Gegen diese Befürchtungen spricht
allerdings, dass gravierende Fälle, insbesondere Hardcore-Kartelle den Auf-
sichtsbehörden ohnehin allenfalls durch Beschwerden Dritter bekannt werden.
Angemeldete Vereinbarungen werfen dagegen zumeist keine wettbewerbs-
rechtlichen Probleme auf. Nach Kommissionsangaben hat sie in über 35 Jahren
nur 9 Vereinbarungen verboten, von denen sie lediglich im Wege der Anmel-
dung erfahren hat. Angemeldet werden also bereits heute in der Regel nur sol-
che Vereinbarungen, die auch genehmigungsfähig sind.

Der Vorschlag der Kommission, ein System der Legalausnahme für Unterneh-
menskooperationen einzuführen, die die Kriterien des Artikels 81 Abs. 3 EG-
Vertrag erfüllen, ist daher sinnvoll. Das System muss jedoch so ausgestaltet
werden, dass der Wettbewerbsschutz ungeschmälert erhalten bleibt.

Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass der Vorschlag des Bundeskartellamtes,
das Legalausnahmesystem durch eine Informationspflicht der Unternehmen
und die Schaffung eines „Kartellregisters“ zu ergänzen, im Verordnungsvor-
schlag berücksichtigt worden ist. Ob ein Register über bestimmte wettbewerbs-
beschränkende Vereinbarungen zu mehr Transparenz für die Wettbewerbs-
behörden führt und damit wettbewerbspolitisch Sinn macht, muss eingehend
geprüft werden.

Wenn es zu einer Registrierungspflicht kommt, sollte sie jedenfalls auf nicht
von Gruppenfreistellungsverordnungen erfasste Fälle beschränkt werden.
Folge der Eintragung im Register sollte sein, dass die Unternehmen von Buß-
geldern befreit sind. Die Bußgeldfreiheit ist auch durch den zusätzlichen Büro-
kratie- und Kostenaufwand für die Unternehmen gerechtfertigt. Die Mitwir-
kungsrechte der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Kriterien einer
Informationspflicht der Unternehmen müssen gewährleistet werden. Die Krite-
rien für eine Registrierungspflicht sollten in der Verordnung selbst präzise defi-
niert werden.

3. Ex-Ante-Betrachtung für strittige Fälle und bei hohem Investitionsrisiko

Der verfahrensrechtliche Systemwechsel vom Anmelde- zum Legalausnahme-
system entlastet die Wirtschaft von bürokratischem Aufwand. Zu begrüßen ist
die Legalausnahme für alle wettbewerbsrechtlich eindeutigen Fälle. In stritti-
gen Fällen, vor allem bei großen Investitionen, verlieren die Unternehmen
durch die Abschaffung des Anmelde- und Freistellungsverfahrens jedoch
Rechts- und Planungssicherheit. Stattdessen drohen Untersagungs- und Buß-
geldrisiko sowie die Nichtigkeit der getätigten Geschäfte. Vor allem Investitio-
nen in Zukunftssektoren, wo nicht auf Erfahrungen aus der Praxis zurückge-
griffen werden kann, werden so zu einem unkalkulierbaren unternehmerischen
Risiko.

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Kommission und mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörden sollten betroffenen
Unternehmen deshalb auch künftig die Gelegenheit zu informellen Gesprächen
geben, um in Zweifelsfragen kartellrechtliche Orientierungshilfe bei unterneh-
merischen Planungsentscheidungen zu ermöglichen.

In manchen Fällen wird auch in Zukunft Gewissheit über die kartellrechtliche
Zulässigkeit einer geplanten Vereinbarung nur durch eine förmliche Entschei-
dung der Wettbewerbsbehörden möglich sein. Die Praxis zeigt, dass etwaige
Absprachen vielfach entweder auf den Einzelfall bezogen sind oder sehr hete-
rogene Sachverhalte treffen, deren kartellrechtliche Relevanz nicht im Rahmen
einer Gruppenfreistellungsverordnung allgemein gültig beurteilt werden kann.
Im Interesse der Rechtssicherheit ist es daher geboten, den Unternehmen für ei-
nen eng definierten Kreis von Fällen das Recht (nicht die Pflicht) einer Anmel-
dung zu bewahren. Dabei muss die Anmeldung einen Anspruch auf förmliche
Entscheidung begründen, einen Gutglaubensschutz einräumen und Bußgeld-
freiheit gewähren.

Durch die Schaffung eines konditionierten Wahlrechts für Unternehmen kann
in solchen strittigen Fällen Rechtssicherheit für die Betroffenen erreicht wer-
den. Geeignete Anknüpfungskriterien könnten Umsatzschwellen oder Investi-
tionssummen sein. Tatsächliche oder rechtliche Umstände, die eine kartell-
rechtliche Beurteilung erheblich erschweren, müssen vorliegen.

4. Dezentralität der Rechtsanwendung

Der Ansatz der Kommission, die Anwendung des Wettbewerbsrechts zu dezen-
tralisieren und damit eine weitere Verankerung des europäischen Wettbewerbs-
rechts im Rechtsbewusstsein der Mitgliedsländer zu fördern, ist zu begrüßen.
In dem Verordnungsvorschlag der Kommission ist allerdings ungenügend gere-
gelt, wie die mitgliedstaatlichen Kartellbehörden in Zukunft mit der Kommis-
sion zusammenarbeiten sollen.

Ohne klare und eindeutige Regelungen zur Abgrenzung der Zuständigkeiten
der jeweiligen Wettbewerbsbehörden bzw. Gerichte ist eine Dezentralisierung
aber nicht akzeptabel. In einem rechtsstaatlichen Verfahren muss für die Be-
troffenen eindeutig erkennbar sein, wie die zuständigen Behörden zu bestim-
men sind bzw. welches Gericht der gesetzliche Richter ist. Eine einheitliche
Anwendung des Europäischen Kartellrechts muss gesichert sein.

Die Kommission wird daher aufgefordert, ein klares System für eine eindeutige
Zuweisung von Fällen zu entwickeln. Entsprechende Regelungen müssen im
Verordnungsvorschlag selbst vorgesehen werden. Die Unternehmen müssen
auch in Zukunft klar erkennen können, welche Behörde für die Prüfung einer
wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung zuständig ist. Die Kommission
sollte deshalb das „One-Stop-Shop“-Prinzip in der Verordnung verankern.

Grundsätzlich sollten solche Wettbewerbsverstöße, die ihren Schwerpunkt in
einem Mitgliedstaat haben, von den dortigen Behörden geahndet werden. Dies
entspricht dem Grundsatz der Subsidiarität. Sind mehr als drei Mitgliedstaaten
berührt oder ist die Zuständigkeit streitig, weil kein Einvernehmen unter den
nationalen Wettbewerbsbehörden erreicht wird, sollte grundsätzlich die Euro-
päische Kommission zuständig sein.

Die konditionierte Anmeldemöglichkeit in strittigen Fällen und bei hohem In-
vestitionsrisiko mit Anspruch auf förmliche Entscheidung sollte bei der mit-
gliedstaatlichen Kartellbehörde vorzunehmen sein, in deren Zuständigkeits-
gebiet der Schwerpunkt der zu prüfenden wettbewerbsbeschränkenden
Vereinbarung fällt. Sind mehr als drei Mitgliedstaaten berührt oder ist die Zu-
ständigkeit streitig, sollte grundsätzlich die Kommission entscheiden.

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Nationale Behörden sollten verpflichtet sein, einen Fall einzustellen, wenn eine
andere Wettbewerbsbehörde mit demselben Verfahren befasst ist.

Die Entscheidung einer einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörde eines Mitglied-
staats, dass ein Verhalten nicht gegen Artikel 81 oder 82 EGV verstößt, sollte
gemeinschaftsweite Bindung haben.

Vom Entzug der Zuständigkeit einer nationalen Behörde sollte die Kommission
nur ausnahmsweise Gebrauch machen. Eingriffsbefugnisse der Kommission,
die nicht der Sicherstellung einer kohärenten Rechtsanwendung dienen, ver-
mindern die Schlagkraft der nationalen Kartellbehörden und verzögern das
Verfahren, laufen damit den Zielen der Wettbewerbspolitik entgegen. Ein Ent-
zug der Zuständigkeit ist nur dann sinnvoll, wenn die Gefahr besteht, dass eine
Entscheidung ergehen soll, die gemessen an den Maßstäben, die in der Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Gerichtes erster Instanz
sowie in den Verordnungen und Entscheidungen der Kommission entwickelt
worden sind, zu einem defizitären Wettbewerbsschutz führt oder wenn eine ein-
deutige Fallverteilung der betroffenen nationalen Behörden nicht möglich ist.
Verteilungsgesichtspunkte sind kein adäquates Kriterium für den Entzug. Die
Voraussetzungen für den Entzug der Zuständigkeit müssen in der Verordnung
präzise definiert werden.

5. Spezialisierte nationale Gerichte

Eine Dezentralisierung der Rechtsanwendung darf nicht zu Lasten ihrer Kohä-
renz gehen. Mit der Aufgabe des Freistellungsmonopols durch die Europäische
Kommission sollen nationale Gerichte künftig auch über die Voraussetzungen
des Artikels 81 Abs. 3 EG-Vertrag entscheiden. Schon die kartellrechtliche Tra-
dition der derzeit 15 Mitgliedstaaten der Union stellt sich sehr unterschiedlich
dar. Im Hinblick auf die Beitrittskandidaten kann von einem einigermaßen ein-
heitlichen wettbewerbsrechtlichen Rechtsbewusstsein nur begrenzt ausgegan-
gen werden. Behörden und Gerichten fehlt es oft noch an den hierfür erforder-
lichen Kenntnissen und Erfahrungen für die ökonomisch oft schwierige
Beurteilung der Wirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen in Märkten. Um
der Gefahr einer Rechtszersplitterung und einer erheblichen Rechtsunsicherheit
für die Unternehmen vorzubeugen, sollte die Kommission die Mitgliedstaaten
deshalb verpflichten, spezialisierte Kartellgerichte einzurichten.

6. Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht

Sobald ein Fall Auswirkungen auf den gemeinsamen Markt haben kann, soll
nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission in Zukunft allein das
europäische Wettbewerbsrecht unter Ausschluss des nationalen Kartellrechts
anwendbar sein. Der Grundsatz der parallelen Anwendung nationalen und eu-
ropäischen Rechts bei Vorrang des EU-Rechts für Widersprüche zum nationa-
len Recht soll in eine ausschließliche Anwendung des europäischen Kartell-
rechts für Fälle mit gemeinschaftsweiter Bedeutung überführt werden. Da in
Deutschland fast alle kartellrechtlichen Vereinbarungen binnenmarktrelevant
sind, bliebe das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) im Wesent-
lichen anwendbar auf Fälle mit regionaler oder lokaler Bedeutung. Im Übrigen
wäre das GWB weitgehend außer Kraft gesetzt. Das ist nachvollziehbar für
Fälle im Anwendungsbereich des Artikels 81 des EG-Vertrages.

Aus Sicht des Deutschen Bundestages sollte dagegen für die Missbrauchskon-
trolle (Artikel 82 EG-Vertrag) das System der parallelen Anwendung zunächst
erhalten bleiben. Da die Missbrauchskontrolle in Europa noch weitgehend un-
einheitlich gehandhabt wird, muss der nationale Gesetzgeber zunächst die
Möglichkeit haben, nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Insbeson-
dere müssen die bewährten deutschen Vorschriften gegen den Missbrauch von

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Marktmacht – zum Beispiel das Verbot von Verkäufen unter Einstandspreis –
anwendbar bleiben. Dies gebietet der Grundsatz der Subsidiarität. Die Vorrang-
regelung des europäischen Wettbewerbsrechts ist ausreichend, um eine Kohä-
renz der Rechtsanwendung zu gewährleisten.

7. Strukturelle Maßnahmen

Strukturelle Maßnahmen als Instrument zur Sanktionierung missbräuchlichen
Verhaltens sind ein schwerer Eingriff in das Eigentum der Unternehmen. Ent-
flechtungsmaßnahmen können Enteignungscharakter haben und den Anreiz für
internes Unternehmenswachstum beschränken. Sie stoßen nicht zuletzt auf
praktische Schwierigkeiten, etwa bei der Suche nach zahlungskräftigen Käu-
fern für die abgespaltenen Unternehmensteile. Hinzu kommt, dass die generelle
Befugnis, strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, jedenfalls der deutschen Wett-
bewerbskultur fremd ist und auch in anderen Mitgliedstaaten kaum zur Anwen-
dung kommt. Zwar können in Europa untersagte Unternehmenszusammen-
schlüsse, die trotz Vollzugsverbots von den beteiligten Unternehmen
durchgesetzt wurden, wieder entflochten werden. Auch sind Gemeinschaftsun-
ternehmen, die entgegen Artikel 81 Abs. 1 EG-Vertrag gegründet wurden, wie-
der aufzulösen und damit strukturell zu verändern. Jedoch haben die betroffe-
nen Unternehmen vor diesen Auflösungen stets unzulässig die Marktstrukturen
verändert. Das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht kennt eine allge-
meine Entflechtungsregel über die Ansätze der Wiederauflösung vollzogener
Unternehmenszusammenschlüsse derzeit nicht.

Bevor eine allgemeine Entflechtungsregel über einen kurzen Nebensatz in das
europäische Wettbewerbsrecht eingeführt wird, bedarf es einer eingehenden
Erörterung der wettbewerbspolitischen Sinnhaftigkeit eines solchen Instrumen-
tariums auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene unter Einbeziehung al-
ler Betroffenen. Der Regelungsvorschlag der EU-Kommission ist zum jetzigen
Zeitpunkt nicht sinnvoll, da er zu unbestimmt ist und weil damit eine ergebnis-
offene Diskussion dieses neuen Instrumentariums nicht möglich ist.

In der wettbewerbsrechtlichen Verhaltenskontrolle marktbeherrschender Unter-
nehmen dürfen Entflechtungsmaßnahmen als verfahrensrechtlich selbständiger
Eingriff nur als ultima ratio von den Wettbewerbsbehörden angewendet wer-
den, wenn die Wettbewerbsbeschränkung nicht auf andere Weise beseitigt oder
hinreichend gemindert werden kann. Dabei muss der rechtsstaatliche Grund-
satz der Verhältnismäßigkeit gelten: Je größer die potentielle Eingriffsintensität
des Staates, desto bestimmter die Rechtsgrundlage. Die Diskussion über die
Einführung einer allgemeinen Entflechtungsregel darf nicht dazu führen, dass
geeignetere, weniger schwerwiegende und verhältnismäßigere Mittel wie Geld-
bußen und Zwangsgelder, als Instrumente effektiver Wettbewerbspolitik dis-
kreditiert werden. Die Drohung mit Entflechtungsmaßnahmen darf zudem nicht
dazu eingesetzt werden, Industriepolitik zu betreiben und außerhalb der Gren-
zen der Wettbewerbspolitik unverhältnismäßig in das Marktgeschehen einzu-
greifen.

8. Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Fortentwicklung des gemeinschaft-
lichen Wettbewerbsrechts

Im Interesse der Ausprägung eines gemeinsamen Rechtsbewusstseins muss den
Mitgliedstaaten auch künftig eine ausreichende Mitwirkung an der Fortent-
wicklung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts ermöglicht werden. Beim
Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen für horizontale Wettbewerbsbe-
schränkungen muss den Mitgliedstaaten deshalb auch künftig eine förmliche
Mitwirkung zukommen. Die Freistellungstatbestände müssen jedenfalls in ih-
ren Grundzügen in der Verordnung selbst normiert werden.

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9. Verstärkung der Ex-Post-Kontrolle (Untersuchungsbefugnisse)

Wenn die präventive Kontrolle durch Abschaffung des Anmeldesystems weit-
gehend entfällt, gewinnt die nachträgliche Kontrolle zwangsläufig an Bedeu-
tung. Der Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission sieht hier eine
erhebliche Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse und Sanktionsmöglichkeiten
der Kommission vor. Diese Ermittlungsbefugnisse und Sanktionsmöglichkei-
ten sollten unter Berücksichtigung des Gebots der Verhältnismäßigkeit und der
Rechtsstaatlichkeit kritisch überprüft werden. Die Einhaltung rechtsstaatlicher
Grundsätze ist die Voraussetzung und kein Hindernis für die effiziente Verfol-
gung kartellrechtlicher Verstöße.

Das Recht zur Durchsuchung der Privatwohnungen von Unternehmensangehö-
rigen ist ein derart empfindlicher Eingriff in die Privatsphäre, dass er unter Be-
rücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht auf den bloßen
Verdacht gegründet werden sollte. Die Kommission sollte dagegen verpflichtet
sein, beim nationalen Gericht eine Durchsuchungsbefugnis zu erlangen.

Unternehmensinterne Syndikusanwälte sollten ein Zeugnisverweigerungsrecht
erhalten.

Die vorgeschlagene Solidarhaftung von Mitgliedern einer Unternehmensverei-
nigung für Bußgelder, die aufgrund von Kartellrechtsverstößen dieser Vereini-
gung verhängt wurden, darf nicht gesamtschuldnerisch sein, sondern muss
nach dem Umsatz der Mitglieder an der Vereinigung bemessen werden.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

aus den vorgenannten Gründen bei der Reform des europäischen Kartellverfah-
rensrechts folgende Eckpunkte durchzusetzen:

1. Durch die Einführung eines Systems der Legalausnahme darf es nicht zu
einer Einbuße des Wettbewerbsschutzes kommen.

2. Die Zuständigkeiten der nationalen Kartellbehörden und der Gerichte müs-
sen eindeutig und für die Unternehmen erkennbar festgelegt werden.

3. Eine handhabbare, praxisgerechte und auf eine größere europäische Einheit-
lichkeit gerichtete Wettbewerbsrechtslage ist herzustellen.

4. Eine einheitliche Rechtsanwendung muss gewährleistet werden.

5. Rechtsstaatliche Defizite des Verordnungsvorschlags sind zu beseitigen.

6. Unternehmen ist in einem eng definierten Bereich ein Anspruch auf eine
förmliche Entscheidung einzuräumen.

7. Den Mitgliedstaaten muss eine angemessene Mitwirkung an der Fortent-
wicklung und Anwendung des europäischen Kartellrechts eingeräumt wer-
den.

8. Vor einer übereilten Einführung struktureller Maßnahmen im Sinne einer
Entflechtung ist eine umfangreiche Untersuchung bezüglich der Sinnhaftig-
keit und der Handhabbarkeit dieser Maßnahmen vorzulegen.

Berlin, den 3. Juli 2001

Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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