BT-Drucksache 14/6621

Für eine wirksame und effiziente Arbeitsmarktpolitik

Vom 4. Juli 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

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6621

14. Wahlperiode

04. 07. 2001

Antrag

der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb,
Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, Jörg van Essen, Ulrike Flach,
Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael
Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, Dr. Helmut Haussmann, Walter
Hirche, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Ulrich Irmer, Gudrun Kopp, Jürgen
Koppelin, Ina Lenke, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt),
Detlef Parr, Cornelia Pieper, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Hermann Otto Solms,
Carl-Ludwig Thiele, Dr. Dieter Thomae, Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der F.D.P.

Für eine wirksame und effiziente Arbeitsmarktpolitik

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Es gibt ein Recht auf Faulheit – nur nicht auf Kosten anderer. Jährlich gibt die
Bundesanstalt für Arbeit und der Bund rd. 45 Mrd. DM für aktive Arbeits-
marktpolitik aus; dazu kommen noch etwa 10 Mrd. DM, die Länder, Kommu-
nen und Europäischer Sozialfonds für die Arbeitsförderung aufwenden. Diese
Ausgaben stellen gut ein Drittel aller direkten Ausgaben für Arbeitsmarktpoli-
tik dar. Etwa 100 Mrd. DM werden insgesamt für Arbeitslosengeld, Arbeitslo-
senhilfe und arbeitsmarktpolitisch motivierte Frühverrentungen aufgewandt.
Diese hohen Ausgaben haben starke Steuer- und insbesondere Beitragsbelas-
tungen zur Folge, die ihrerseits die Beschäftigungsdynamik einschnüren. Die-
ser Teufelskreis muss und kann durchbrochen werden.

Deutschland bedarf dringend einer durchgreifenden Reform der Arbeitsmarkt-
politik, die sich auf die Wirksamkeit und Effizienz ihrer Maßnahmen konzent-
riert. Nach wie vor sind 3,7 Millionen Menschen ohne Arbeit registriert, davon
rd. 1,3 Millionen länger als 1 Jahr – rechnet man die darin nicht enthaltene Zahl
derer, die an staatlichen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnehmen und
die stille Reserve derer hinzu, die sich erst gar nicht arbeitslos melden, dürfte
die Zahl der Arbeitsuchenden in Deutschland um mindestens rd. 1,5 Millionen
höher sein. Dem stehen insgesamt etwa 1,5 Millionen offene Stellen gegenüber,
von denen etwa ein Drittel den Arbeitsämtern gemeldet sind. Die anhaltend
hohe und weitgehend strukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland sowie die
beschäftigungspolitischen Erfolge anderer Länder ziehen die Effektivität und
Effizienz der deutschen Arbeitsmarktpolitik stark in Zweifel. So konnte
Deutschland nach der europäischen Arbeitslosenstatistik von April 2000 bis
April 2001 die Arbeitslosenquote nur um 0,3 % senken – Großbritannien da-
gegen um 0,6 %, Irland um 0,6 %, Italien um 0,7 %, Frankreich um 0,8 %,
Spanien und Schweden um jeweils 1,3 %.

Arbeitsmarktpolitik stellt einen gewichtigen Eingriff in die institutionellen
Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes dar und beeinflusst das Verhalten der
Marktteilnehmer nachhaltig: Der Staat signalisiert Aktionismus und verleitet so
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die Betroffenen zu der Illusion, er könne die Probleme lösen. Die Arbeitgeber
werden verleitet, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Lösung betrieblicher
Personalpolitik zu missbrauchen. Der private Sektor wird durch den zweiten
Arbeitsmarkt bedrängt. Die Gewerkschaften schließlich versuchen, mit Hilfe
arbeitsmarktpolitischer Instrumente die Interessen ihrer Mitglieder zu bedie-
nen, nicht die der Arbeitslosen. In ihrer gegenwärtigen Form wird die Arbeits-
förderung ihren wesentlichen Funktionen nur unzureichend gerecht: Aus-
gleichsprozesse auf dem Arbeitsmarkt zu erleichtern, Anreize zu schaffen,
angebotene Arbeit auch anzunehmen, und strukturelle Langzeitarbeitslosigkeit
zu vermeiden. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,
die Arbeitsmarktpolitik nach folgenden Maßgaben zu reformieren:

Die Leistungen bei Arbeitslosigkeit, also die Versicherungsleistung (Arbeits-
losengeld) sowie die steuerfinanzierten Leistungen (Arbeitslosenhilfe und So-
zialhilfe) sind so auszurichten, dass deutlichere ökonomische Anreize für die
Rückkehr in das Erwerbsleben und für die Eigenverantwortung gesetzt werden.
Das Gerechtigkeitsprinzip: Keine Leistung ohne grundsätzliche Bereitschaft
zur Gegenleistung muss stärker zur Geltung gebracht werden. Arbeitsmarkt-
politische Maßnahmen sind dringend auf Umfang, Wirksamkeit und Effizienz
zu überprüfen, denn Arbeitsmarktpolitik ist nur dann effektiv und effizient,
wenn es ihr gelingt, mit möglichst geringem Mitteleinsatz Arbeitslosigkeit zu
vermeiden oder möglichst rasch zu beenden. Die öffentlich subventionierte,
unfaire Konkurrenz für mittelständische Unternehmen und Existenzgründer
durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Strukturanpassungsmaßnahmen
muss eingeschränkt werden. Die Evaluierung der Arbeitsmarktpolitik in
Deutschland muss verbessert werden. Der Beitrag zur Arbeitslosenversiche-
rung muss von 6,5 auf 5,5 % zum 1. August 2001 gesenkt werden. Den ört-
lichen Arbeitsämtern sind noch mehr Entscheidungsbefugnisse einzuräumen.
Die Instrumente des Arbeitsförderungsrechts müssen zugunsten älterer Arbeit-
nehmer überdacht werden. Schließlich muss das Arbeitnehmerüberlassungsge-
setz liberalisiert und das Tarifrecht flexibilisiert werden. Dies bedeutet im Ein-
zelnen:

E r s t e n s sind die Leistungen bei Arbeitslosigkeit, also die Versicherungsleis-
tung (Arbeitslosengeld) sowie die steuerfinanzierten Leistungen (Arbeitslosen-
hilfe und Sozialhilfe) so auszurichten, dass deutlichere ökonomische Anreize
für die Rückkehr in das Erwerbsleben und für die Eigenverantwortung gesetzt
werden:

– Bei dem Arbeitslosengeld muss die Anspruchsdauer wieder auf 12 Monate
justiert werden. Während sie 1983 einheitlich 12 Monate betrug, beträgt sie
heute je nach Versicherungsdauer und Lebensalter 6 bis zu 32 Monaten,
§ 127 Abs. 2 SGB III. Eine solche Daueralimentation, häufig als Brücke in
die Frühverrentung genutzt, ist nicht nur geeignet, dem Einzelnen mit zu-
nehmender Verweildauer die Motivation zu nehmen, jemals wieder auf dem
ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sie wird auch der Bewältigung des Struk-
turwandels auf dem Arbeitsmarkt nicht gerecht. Im Durchschnitt findet ein
Arbeitsloser nach 8 Monaten wieder Arbeit. Auch bei einer Rückkehr zur
Anspruchsdauer von 12 Monaten hat der Arbeitslose genügend Zeit, sich
neu zu orientieren.

– Für einen Arbeitslosengeldempfänger fehlt nicht nur der Anreiz, sich etwa
über eine Teilzeittätigkeit wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern, son-
dern er wird dafür mit einer überproportionalen Kürzung des Arbeitslosen-
geldes gleichsam bestraft. Dies macht es auch einem arbeitswilligen aber
ökonomisch rational denkenden Arbeitslosen schwer, eine Beschäftigung
aufzunehmen.

Denn nach § 121 Abs. 3 Satz 3 SGB III gilt vom siebten Monat der Arbeits-
losigkeit an eine Beschäftigung auch dann als unzumutbar, wenn sie nicht
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wegen ihrer Anforderung unzumutbar ist, sondern nur, weil das daraus er-
zielbare Nettoeinkommen niedriger ist als das Arbeitslosengeld. Das bedeu-
tet: Dem Arbeitslosen wird selbst eine hälftige Teilzeittätigkeit in seinem
angestammten Beruf nicht zugemutet, wenn das Nettoentgelt hinter dem Ar-
beitslosengeld zurückbleibt. Mehr noch: Nimmt ein Arbeitsloser eine Tätig-
keit von 15 Stunden in der Woche oder mehr auf, gilt er nach § 118 Abs. 2
SGB III nicht mehr als arbeitslos und verliert den vollen Anspruch auf Ar-
beitslosengeld. Aber selbst wenn sich der Arbeitslose entschließt, eine Be-
schäftigung von weniger als 15 Stunden wöchentlich aufzunehmen, ist das
Nettoentgelt nach Abzug des Freibetrages von 20 % des monatlichen Ar-
beitslosengeldes, mindestens aber von einem Vierzehntel der monatlichen
Bezugsgröße [von zurzeit 315 DM in West bzw. 265 DM in Ost], anzurech-
nen, § 141 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Bezieht jemand 1 500 DM Arbeitslosen-
geld und übt eine geringfügige Tätigkeit mit einer monatlichen Vergütung
von 630 DM aus, werden ihm 315 DM angerechnet: Das Entgelt für die ge-
ringfügige Tätigkeit halbiert sich schlicht.

Daher sollte § 121 Abs. 3 Satz 3 SGB III aufgehoben werden, wonach dem
Arbeitslosen eine Beschäftigung nicht zugemutet werden kann, wenn das
daraus erzielbare Nettoeinkommen niedriger ist als das Arbeitslosengeld.
Darüber hinaus sollte die Anrechnung von Arbeitseinkommen auf das
Arbeitslosengeld wesentlich geringer ausfallen, um einen stärkeren Anreiz
zur Arbeitsaufnahme zu schaffen.

– Die bisherige Unterscheidung zwischen Arbeitgeberanteil und Arbeitneh-
meranteil, § 346 Abs. 1 Satz 1 SGB III, sollte im Interesse einer größeren
Klarheit über die tatsächliche Traglast der Beiträge überdacht werden, da es
letztlich ohnehin die Arbeitnehmer sind, die langfristig die gesamte Abga-
benlast tragen müssen, das heißt auch die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeits-
losenversicherung. Zwar liegt die unmittelbare Zahllast bei den Unterneh-
men, aber auch wenn die Arbeitnehmer nicht unmittelbar Lohnzurückhaltung
üben, fällt die Traglast letztendlich auf die Arbeitnehmer zurück, sei es bei
preislichen Überwälzungsmöglichkeiten über sinkende Realeinkommen, sei
es ansonsten über Beschäftigungseinbußen. Das Arbeitsentgelt sollte zu-
nächst um den Arbeitgeberbeitrag erhöht und der Gesamtbeitrag zur Arbeits-
losenversicherung davon einbehalten werden. Dann würde sich auch die
Inanspruchnahme beitragsmindernder Optionen für den Arbeitnehmer bei
der Nettoentgeltberechnung unmittelbar positiv niederschlagen.

– Zur Förderung einer verantwortungsbewußten Inanspruchnahme von Ver-
sicherungsleistungen könnten für eine moderne Arbeitslosenversicherung
Wahltarife eingeführt werden. In einem erstem Schritt sollte eine Option für
eine Karenzzeit erwogen werden. Dann würde der Anspruch auf Arbeitslo-
sengeld nicht unmittelbar zum Entlassungszeitpunkt entstehen, sondern erst
nach einer Karenzwoche. Eine solche Form des Selbstbehalts ist geeignet,
die eigentlichen Versicherungsfälle stärker von den missbräuchlichen Ge-
staltungsfällen zu trennen. Bei freiwilligen Arbeitsplatzwechseln kann es
bislang für den Einzelnen rational und für die Gemeinschaft kostspielig sein,
die erneute Arbeitsaufnahme zeitlich zu verschieben, um in der Zwischen-
zeit Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung geltend zu machen. Aber
auch bei einem unfreiwilligen Arbeitsplatzwechsel erscheint es zumutbar, in
der ersten Woche zunächst auf Ersparnisse zurückzugreifen. Gleichzeitig
müssen die so möglich gewordenen Einsparungen in Form von niedrigeren
Beiträgen an die Versicherten weitergegeben werden.

– Im Interesse der Familie sollte das jüngste Urteil des Bundessozialgerichts
(B 11 AL 20/01 R vom 20. Juni 2001), zum Anlass genommen werden, die
Benachteiligung von Müttern bei der Fristbestimmung für das Arbeitslosen-
geld zu korrigieren. Die Regelung, nach der zwar der Bezug von Kranken-
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geld, nicht aber Zeiten des Mutterschutzes als Anwartschaftszeit für
Arbeitslosengeld angerechnet werden, sollte nicht erst von dem Bundesver-
fassungsgericht verworfen werden müssen, sondern jetzt im Rahmen dieser
Reform geändert werden. Denn der Staat ist verpflichtet, die wirtschaftliche
Belastung von Schwangerschaft möglichst auszugleichen.

– Die Arbeitslosenhilfe muss vollständig mit der Sozialhilfe zu einem System
mit einer Leistung, mit klaren Zuständigkeiten, eingleisigen Verfahren und
schlankerer Verwaltung zusammengefasst werden. Es gibt keine überzeu-
gende Begründung dafür, warum es in Deutschland mehrere steuerfinan-
zierte Fürsorgeleistungen für einen Tatbestand, nämlich den der Arbeits-
losigkeit, gibt. Bislang werden die Kosten wie auf Verschiebebahnhöfen
zwischen den Arbeitsämtern und den Kommunen hin- und hergeschoben,
das Verfahren ist ineffektiv, für den Empfänger undurchsichtig und für den
Steuerzahler zu teuer. Auch ist es für Betroffene unwürdig, zwei verschiede-
nen Behörden für den gleichen Zweck jeweils ihre persönlichsten Daten of-
fenbaren zu müssen. Ein präziser Vorschlag der Fraktion der F.D.P. für eine
sinnvolle Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe liegt vor
(Bundestagsdrucksache 14/5983 vom 9. Mai 2001).

– In der Sozialhilfe lohnt es sich für viele arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger
nicht, eine Arbeit aufzunehmen, da gerade bei niedrigem Einkommen der
Abstand zwischen Lohn und Sozialhilfe zu gering ist und einem arbeitswilli-
gen Sozialhilfeempfänger jeder Zuverdienst über 275 DM im Monat zu
100 %, also voll auf die Sozialhilfe angerechnet wird. Um einem arbeitsfä-
higen Sozialhilfeempfänger größere Anreize zu geben, Arbeit aufzunehmen
und in das Erwerbsleben zurückzukehren, müssen die Freibeträge erhöht
werden, die Anrechnungssätze langsamer ansteigen und der Eingangsteuer-
satz bereits 2002 auf 15 % gesenkt werden. Ein präziser Vorschlag der Frak-
tion der F.D.P. liegt hierzu vor (Bundestagsdrucksache 14/5982 vom 9. Mai
2001).

Zwar gelten z w e i t e n s Vermittlung und Beratung – also Maßnahmen, die auf
den Ausgleich von Angebot und Nachfrage, auf die Überwindung von qualifi-
katorischen Diskrepanzen (Mismatch) und auf Unterstützung der Mobilität zie-
len – als diejenigen, die über eine relative Effektivität und Effizienz verfügen.
Gleichwohl gelingt es trotz einer hohen Arbeitslosigkeit in vielen Branchen
und Regionen nicht, den zunehmenden Fachkräftebedarf zu befriedigen:

– Das Gerechtigkeitsprinzip: Keine Leistung ohne grundsätzliche Bereitschaft
zur Gegenleistung muß deutlicher zur Geltung gebracht werden. Während in
Deutschland im internationalen Vergleich im Jahr 2000 für nur 1,1 % der
Arbeitslosen eine Sperrzeit verhängt wurde (§ 144 SGB III; ohne Sperrzei-
ten wegen Eigenkündigungen), wurde in der Schweiz bei 40,3 %, in den
USA bei 57,3 % und in Großbritannien bei 10,3 % der Arbeitslosen von
diesem Instrument Gebrauch gemacht. Eine Sperrzeit kann nach § 144
Abs. 1 Satz 1 SGB III nur dann verhängt werden, wenn der Arbeitslose kei-
nen wichtigen Grund für sein Verhalten hat. Hierzu hat das Bundessozial-
gericht entschieden, dass das Arbeitsamt beweisen muss, dass dem Arbeits-
losen kein wichtiger Grund zur Seite gestanden habe, die angebotene Arbeit
bzw. die Maßnahme abzulehnen. Dies dürfte die wesentliche Ursache sein,
warum die Arbeitsämter bei der Durchführung der Sanktionsmöglichkeiten
nur zurückhaltend Gebrauch machen.

Hier fordert die F.D.P.: Die vorhandenen Sanktionsmechanismen müssen in
Zukunft konsequent angewandt werden. Im Hinblick auf die Beweisführung
gilt: Während das Arbeitsamt die Zumutbarkeit der angebotenen Arbeit dar-
zulegen hat, muss der eine zumutbare Arbeit ablehnende Arbeitslose das
Vorliegen eines wichtigen Grundes beweisen. Denn er ist es, der eine für ihn
günstige Rechtsfolge herbeiführen will. Auch ist ihm ein solcher Beweis
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leichter möglich als dem Arbeitsamt, da ein derartiger Grund in der Regel
aus seinem Bereich entspringt und naturgemäß von der Behörde nur unter
erschwerten Voraussetzungen recherchiert werden kann.

– Die über § 37 Abs. 2 SGB III geschaffene, aber bislang nur zurückhaltend in
Anspruch genommene Möglichkeit, private Vermittlungsdienste einzuschal-
ten, sollte durch ein erfolgsabhängiges Prämiensystem erweitert werden, das
sich insbesondere auf die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen und anderen
Zielgruppen des Arbeitsmarktes konzentriert. Auch könnte erwogen wer-
den, bei mehrmonatiger erfolgloser Tätigkeit der Arbeitsverwaltung diese
zur Einbeziehung anerkannter privater Dienstleister zu verpflichten.

– Während sich Arbeitslosengeldbezieher bis 1999 alle drei Monate persön-
lich beim Arbeitsamt melden mussten, wurde die Quartalsmeldepflicht in
dieser Legislaturperiode abgeschafft. Diese Pflicht gemäß § 122 II Nr. 3 a. F.
SGB III muss wieder eingeführt werden. Jeder Arbeitslose sollte verpflichtet
sein, mit seinem Arbeitsamt laufenden Kontakt zu halten, denn nur so wird
seine intensive und effektive Vermittlung und Betreuung durch das Arbeits-
amt gewährleistet und kann die Pflicht des Arbeitslosen nachgeprüft wer-
den, sich nachweislich auch selbst um eine Arbeit zu bemühen.

– Alle Maßnahmen müssen den Betroffenen nicht erst nach frühestens 6 und
spätestens 12 Monaten, sondern bereits von Beginn der Arbeitslosigkeit an
zur Verfügung stehen. Förderungsmaßnahmen hängen vom individuellen
Arbeitsuchenden ab und müssen möglichst frühzeitig aus allen zur Verfü-
gung stehenden Möglichkeiten ausgewählt werden können. Priorität sollten
dabei die berufliche Weiterbildung, die Förderung der Selbständigkeit mit
qualifizierter Beratung sowie das Probearbeitsverhältnis mit befristetem
Einarbeitungszuschuss haben.

– Das Arbeitserlaubnisrecht (§ 284 SGB III) hat sich angesichts des zuneh-
menden Aufenthalts von Ausländern, die nicht EU-Ausländer sind, in
Deutschland zu einem Instrument der Arbeitsverhinderung entwickelt. Ar-
beitsplätze, die nur theoretisch mit bevorrechtigten Arbeitskräften besetzt
werden können, werden in die illegale Beschäftigung verlagert, weil pas-
sende ausländische Arbeitskräfte keine oder nur nach mehreren Wochen
eine Arbeitserlaubnis erhalten. Das Arbeitserlaubnisrecht muß daher in der
Weise geändert werden, daß Ausländer, die rechtmäßig und nicht als Touris-
ten in Deutschland leben, für die Dauer ihres erlaubten Aufenthalts die Ge-
nehmigung erhalten, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen und einer
Beschäftigung nachzugehen – und zwar unabhängig von einer bestimmten
Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber. Damit könnte die
Schwarzarbeit verringert, offene Arbeitsplätze besetzt, Bürokratie abgebaut,
Sozialkosten eingespart und die Menschenwürde der Betroffenen gestärkt
werden.

– Schließlich sollte eine grundsätzliche Überlegung geprüft werden. Unver-
mindert besteht das regionale Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt fort:
Die Spanne der regionalen Arbeitslosenquoten reichen von 3,5 % in Nagold
bis zu über 25 % in Neubrandenburg. – Gleichwohl nimmt das Arbeitsförde-
rungsrecht keine entsprechende räumliche Differenzierung je nach der Ar-
beitsmarktsituation vor: Will man etwa die Quartalsmeldepflicht nicht wie-
der einführen, böte sich zumindest eine Differenzierung der Meldepflicht
nach der Arbeitsmarktsituation und damit der Chance, dass häufige Meldun-
gen zu einer wirklichen Steigerung der Vermittlungsmöglichkeiten führen,
an (§ 122 SGB III). Auch bei der Frage, welche Pendelzeiten zwischen
Wohnung und Arbeitsstätte unverhältnismäßig lang sind, ließe sich die
räumliche Verteilung der Arbeitslosigkeit einbeziehen (§ 121 Abs. 4
SGB III). Will man das Arbeitslosengeld nicht – wie vorgeschlagen – auf
die Anspruchsdauer des Rechtszustandes von 1983 zurückführen, ließe sich
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überlegen, seine Dauer nach der Arbeitslosenquote im jeweiligen Bereich zu
staffeln (§ 127 Abs. 2 SGB III).

D r i t t e n s sind arbeitsmarktpolitische Maßnahmen dringend auf Umfang,
Wirksamkeit und Effizienz zu überprüfen, denn Arbeitsmarktpolitik ist nur
dann effektiv und effizient, wenn es ihr gelingt, mit möglichst geringem Mittel-
einsatz Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder möglichst rasch zu beenden:

– Den denkbar positiven Wirkungen der im Jahr 2000 mit rd. 15 Mrd. DM ge-
förderten beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen (§ 77 SGB III) stehen
nachgewiesene negative Wirkungen gegenüber: Wenn die Maßnahmen nicht
hinreichend zielgenau auf Marktbedürfnisse der Arbeitsmarktnachfrage und
Eigenschaften der Teilnehmer zugeschnitten sind, führen sie zu einer Ver-
schlechterung der Beschäftigungschancen. Auch werden häufig gleichsam
in Erwartung einer Teilnahme Suchaktivitäten eingeschränkt.

Entscheidend für Effizienz der beruflichen Weiterbildung ist die Auswahl
der zu fördernden beruflichen Qualifikation, die Sicherung der Qualität der
Fortbildungsmaßnahme sowie eines angemessenen Engagements der Teil-
nehmer. Daher müssen sowohl die Teilnehmer stärker in den Entscheidungs-
prozess, welche Qualifikation sinnvoll ist, einbezogen werden wie auch die
Weiterbildungsmaßnahmen frühzeitiger mit Vermittlungsberatung und akti-
ver Arbeitsplatzsuche verknüpft werden. Ein Teil der Verantwortung der Ar-
beitsverwaltung ist auf die Betroffenen zu übertragen und ihre Eigenverant-
wortung zu stärken.

Hier könnten Qualifizierungsgutscheine eingeführt werden, die ein verbrief-
tes Anrecht auf einen bestimmten Zuschuss für eine Bildungsmaßnahme
beinhalten und zur relativ freien Auswahl von Kurs und Träger der Weiter-
bildungsmaßnahme berechtigen. Eine Verpflichtung der Teilnehmer zur
Selbstbeteiligung könnte bewirken, dass sie selbst ein stärkeres Interesse an
der Einhaltung der Qualitätsstandards der Maßnahme entwickeln, dezentral
eine Kotrollfunktion über die Bildungsträger übernehmen und der Wett-
bewerb zwischen den Bildungsträgern gesteigert wird. Als ein Signal an
potentielle Arbeitgeber im Hinblick auf die angeeignete Qualifikation der
Teilnehmer könnten Zertifikate nach einer bestandenen Abschlussprüfung
fungieren: Von einer hierauf bezogenen verstärkten Zusammenarbeit zwi-
schen Arbeitsämtern, Weiterbildungsträgern, Industrie- und Handelskam-
mern sowie Handwerkskammern könnten sowohl die Arbeitgeber profitie-
ren, die dadurch möglicherweise mehr Einfluss auf Lehrinhalte haben und
so eventuellem Fachkräftemangel begegnen können, als auch die Teilneh-
mer, deren Eingliederungsaussichten dadurch gesteigert werden. Schließlich
sollten Weiterbildungsträger grundsätzlich von einer Arbeitsvermittlungser-
laubnis, § 291 SGB III, befreit werden.

– Lohnsubventionen zur Integration von Arbeitslosen müssen zur Vermeidung
von Mitnahme-, Substitutions- oder Verdrängungseffekten noch deutlicher
auf Zielgruppen, etwa Ältere, Behinderte, Sozialhilfeempfänger, zugeschnit-
ten werden, präzise an den vermittlungshemmenden Defiziten ansetzen,
etwa durch soziale oder psychologische Betreuung sowie auf die Person zu-
geschnittene Arbeitsplatzgestaltung, und schließlich professionell umgesetzt
werden, etwa durch Prüfung der persönlichen Eignung bis hin zu wettbe-
werblichen Ausschreibungen.

– Schließlich sollten alle arbeitsmarktpolitischen Programme stärker nach den
Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Effizienz öffentlich ausgeschrieben
werden. Projektträger müssen zukünftig im Wettbewerb untereinander ste-
hen. Durch ständige Leistungsvergleiche sollte der Qualitätswettbewerb zu-
sätzlich verstärkt werden.
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Vi e r t e n s muss die öffentlich subventionierte, unfaire Konkurrenz für mittel-
ständische Unternehmen und Existenzgründer durch Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahmen (ABM; § 260 SGB III) und Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM;
§ 272 SGB III), etwa im Bereich des Garten- und Landschaftsbaus, des Hand-
werks und der Bauwirtschaft, deutlich eingeschränkt werden. Trotz des Auf-
wandes von rd. 12 Mrd. DM (Jahr 2000) erweisen sie sich von allen arbeits-
marktpolitischen Maßnahmen als am wenigstens geeignet, die Teilnehmer
wieder in den regulären Arbeitsmarkt einzugliedern. Die Beschäftigungseffekte
von Maßnahmeteilnehmern sind nicht signifikant höher als diejenigen von
Nichtteilnehmern. Häufig werden regulär Beschäftigte durch geförderte Arbeit-
nehmer bei einem Arbeitgeber ausgetauscht (Substitutionseffekt). Vorhandene
Anbieter werden durch die mit öffentlichen Geldern subventionierten Anbieter
aus dem Markt gedrängt und private Arbeitsplätze gehen verloren (Verdrän-
gungseffekt). Wie bei den Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung wurde
auch hier festgestellt, dass viele Arbeitslose – gleichsam in Vorwegnahme ihrer
Teilnahme an diesen Maßnahmen – ihre Suchanstrengungen einschränken oder
Stellenangebote erst gar nicht annehmen. Auch tritt häufig ein Stigmatisie-
rungseffekt ein. Schließlich sind diese arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten be-
sonders kostspielig, denn sie kosten die Bundesanstalt rd. das Zweifache der
Mittel, die im Fall der Arbeitslosigkeit aufzuwenden wären:

– Mit der Einführung des SGB III zum 1. Januar 1998 wurde die Möglichkeit
abgeschafft, mittels Teilnahme an Maßnahmen der beruflichen Weiterbil-
dung (Fortbildung und Umschulung) den Anspruch auf Arbeitslosengeld zu
erneuern. Es gibt keinen Grund dafür, dies nicht auch bei Arbeitsbeschaf-
fungs- (ABM) und Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) zu ändern. Zur
Vermeidung von weiteren problematischen Drehtüreffekten muss daher auch
die Möglichkeit, durch die bloße Teilnahme an diesen Maßnahmen den An-
spruch auf Arbeitslosengeld aufzubauen bzw. zu erneuern, ebenfalls abge-
schafft werden. Mit der Umwandlung von einem Arbeitsverhältnis zu einem
Sozialrechtsverhältnis entfällt der Anreiz, an einer Maßnahme nur aufgrund
dieser Unterstützungsleistung teilzunehmen. Dies stärkt die eigentliche Ziel-
richtung der Arbeitsmarktpolitik als Brücke zum ersten Arbeitsmarkt und
seinen subsidiären Charakter als Hilfe für den einzelnen Versicherten.

– Selbst mit der gegenwärtig praktizierten Reduzierung der ABM-Bezahlung
(§ 265 SGB III) um 20 % niedriger als das Tarifgehalt – das in vielen Fällen
ein höheres Entgelt festschreibt als gerade in den neuen Bundesländern vor
Ort wirklich entlohnt wird, ist die Bezahlung aus einer Beschäftigung im so
genannten zweiten Arbeitsmarkt relativ hoch im Vergleich zu dem am ersten
Arbeitsmarkt zu realisierenden Einkommen. Die Anknüpfung an die beste-
henden arbeitsvertraglichen und damit tariflichen Vereinbarungen ruft ohne-
hin bei den Beteiligten die falsche Vorstellung hervor, das durch ABM ge-
förderte Vertragsverhältnis stelle ein reguläres Arbeitsverhältnis dar, dessen
in der Maßnahme erzieltes Entgelt sich auch auf dem freien Markt erreichen
lasse. Daher darf sich die Höhe der Bezahlung nicht mehr wie bisher üblich,
an den tariflichen Löhnen ausrichten, sondern muss sich am ansonsten be-
stehenden Transferanspruch orientieren, um so den Anreiz zur Suche und
Aufnahme einer regulären Beschäftigung zu stärken.

– Deutlich zurückgeführt werden muss die bundesweite Ausweitung förder-
fähiger Tätigkeitsfelder im Rahmen von Strukturanpassungsmaßnahmen
(§§ 272, 415 Abs. 1 SGB III), die durch ihre großzügige Lohnsubventionie-
rung, ihre verlängerte Förderdauer auf bis zu 60 Monate und ihre Erwei-
terung auf die wirtschaftliche und touristische Infrastruktur wettbewerbs-
verzerrend private Unternehmen verdrängen und reguläre Arbeitsplätze
gefährden.
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– Das Instrument der wettbewerblichen Ausschreibung und Vergabe (§ 262
Abs. 1 Satz 1 SGB III) muss für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie auch
Strukturanpassungsmaßnahmen im gewerblichen Bereich grundsätzlich un-
eingeschränkt gelten. Der Vorrang der Vergabearbeiten dient dazu, die Ver-
mittlungsaussichten der geförderten Arbeitnehmer zu erhöhen und vielfäl-
tige Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten von Handwerk und Mittelstand zu
verhindern.

– Insgesamt muss deutlich hervorgehoben werden, dass wesentliches Ziel die
Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ist. Die Zielgruppenorientierung
muss deutlich verbessert werden: Die Maßnahmen sollten sich ausschließ-
lich auf die Arbeitslosen mit den gravierendsten Risikomerkmalen be-
schränken. Gleichzeitig müssen die Maßnahmen Gelegenheit zur praxis-
nahen Qualifizierung bieten. Ihre Laufzeiten müssen verkürzt werden. Auch
sollten während der Maßnahme Vermittlungsberatung und Arbeitsplatz-
suche nicht eingestellt werden.

– Schließlich sollte überdacht werden, ob Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
nicht länger über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge, sonder aus allge-
meinen Steuern zu finanzieren sind. Denn die Beschäftigung von Benachtei-
ligten, insbesondere Langzeitarbeitslosen, stellt ein gesamtgesellschaftliches
Problem dar und fällt somit in den Bereich der Sozialpolitik.

F ü n f t e n s muss die Evaluierung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland deut-
lich verbessert werden. Zwar gibt die seit 1998 veröffentlichte so genannte Ver-
bleibsquote aus der Eingliederungsbilanz der Bundesanstalt für Arbeit den An-
teil der Teilnehmer an den einzelnen Maßnahmen an, die 6 Monate nach dem
Austritt nicht mehr als arbeitslos registiert sind, § 11 SGB III. Ob diese für eine
substantielle Maßnahmeevaluation im eigentlichen Sinne brauchbar ist, darf
bezweifelt werden: Erstens müssen Personen, die nicht mehr arbeitslos sind,
nicht zwangsläufig in regulärer Beschäftigung sein – sie können in einer weite-
ren Maßnahme sein, eine Ausbildung begonnen haben, in die Altersrente über-
gegangen sein oder sich aus anderen Gründen nicht arbeitslos gemeldet haben.
Zweitens wird keine Kontrollgruppe von Personen mit möglichst ähnlichen
arbeitsmarktrelevanten Charakteristika herangezogen und damit die entschei-
dende Frage nicht beantwortet: Was wäre aus den Teilnehmern geworden, hät-
ten sie nicht an der Maßnahme teilgenommen? Drittens schließlich beschränkt
sich diese allein auf die Bruttoeffekte, ohne die Nettowirkungen wie Mit-
nahme-, Verdrängungs- und Substitutionseffekte der Maßnahmen zu berück-
sichtigen.

Die Evaluationsforschung muss daher durch die Bereitstellung adäquater Indi-
vidualdaten, über die die Bundesanstalt für Arbeit bereits verfügt, gefördert
werden. Nach § 75 SGB X kann sie die „Offenbarung personenbezogener Da-
ten“ für die wissenschaftliche Forschung im Sozialleistungsbereich genehmi-
gen. Auch gibt es zuverlässige Verfahren, um eine De-Anonymisierung von
Individualdaten zu verhindern, ohne die statistischen Auswertungsverfahren
nennenswert zu beeinträchtigen. Denn es dient der Glaubwürdigkeit der Ergeb-
nisse, wenn diese nicht von der Bundesanstalt allein, sondern darüber hinaus
von unabhängigen Wissenschaftlern erstellt werden. Auch muss die Möglich-
keit geschaffen werden, die Beschäftigtenstatistik mit der Vermittlungs-, Ar-
beitslosigkeits- und Arbeitsförderungsstatistik zu verknüpfen, um die Erwerbs-
verläufe ehemaliger Programmteilnehmer längerfristig zu verfolgen.

S e c h s t e n s muss damit eine Finanz- und Organisationsreform einhergehen:

– Auch wenn die Bundesanstalt für Arbeit keinen Bundeszuschuss erhält, muss
der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 5,5 % zum 1. August
2001 gesenkt werden (§ 341 Abs. 2 SGB III). Damit werden die Lohnzu-
satzkosten gesenkt und gleichzeitig die Beitragszahler um rd. 14 Mrd. DM
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entlastet. Arbeitgeber könnten neue Arbeitsplätze schaffen und Arbeitneh-
mer würden über eine größere Kaufkraft verfügen.

– Versicherungsfremde Leistungen, wie die Kosten für die Fortsetzung des
Sofortprogramms zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit sowie die in den
Haushalt der Bundesanstalt verschobenen arbeitsmarktpolitischen Pro-
gramme (Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose, Strukturanpassungs-
maßnahmen-Zuschuss), dürfen nicht von der Arbeitslosenversicherung,
sondern müssen aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, damit auch
dadurch die Lohnzusatzkosten gesenkt werden können.

– Bereits seit der Reform zum SGB III zum 1. Januar 1998 können Arbeits-
ämter zumindest formal relativ ungebunden über die Aufteilung der finanzi-
ellen Mittel auf einzelne Maßnahmen entscheiden und verfügen über die so
genannte „freie Förderung“ (§ 10 SGB III), mittels der sie bis zu 10 % ihrer
Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik für selbstkonzipierte Maßnahmen ein-
setzen dürfen. Den örtlichen Arbeitsämtern müssen noch mehr Entschei-
dungsbefugnisse eingeräumt werden. Die Rolle der Landesarbeitsämter,
deren Name suggeriert, dass es sich um Landesbehörden handelt, muss
überdacht werden. Zugunsten eines zielgerichteteren und effizienteren Ein-
satzes arbeitsmarktpolitischer Instrumente ist der Experimentiertopf deut-
lich aufzustocken und der Wettbewerb unter den Arbeitsämtern zu fördern.
Als Rahmen für die größeren Entscheidungsbefugnisse der Arbeitsämter
bietet sich die Einführung von Bandbreiten bei der gegenseitigen Deckungs-
fähigkeit von Haushaltsansätzen für einzelne Instrumente an, um ordnungs-
politische Vorstellungen in der Arbeitsmarktpolitik – etwa weniger ABM,
dafür mehr Qualifizierung – auch weiterhin bundesweit durchsetzen zu kön-
nen. Langfristig sollten den Arbeitsämtern Globalhaushalte zur Verfügung
gestellt werden, die auch den Personalhaushalt umfassen.

– Die fast unüberschaubare Vielzahl an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
unter feinster Festlegung genauer Tatbestandsvoraussetzungen und Leis-
tungshöhen belasten die Arbeitsämter und sind für Bürger wie Unternehmen
nicht mehr durchschaubar. Die Maßnahmen sollten daher in wenigen Kate-
gorien zusammengefasst werden, über die das jeweilige zuständige Arbeits-
amt nach pflichtgemäßem Ermessen flexibel, effektiv und am Einzelfall ori-
entiert entscheiden kann.

S i e b t e n s müssen die Instrumente des Arbeitsförderungsrechts auch zuguns-
ten älterer Arbeitnehmer überdacht werden, denn die geringe Erwerbsbeteili-
gung Älterer ist ein warnender Indikator für die strukturelle Schwäche des
deutschen Arbeitsmarktes. Denn die Herausforderungen der Zukunft müssen
deutsche Unternehmen zunehmend auch mit älteren Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern bewältigen. Leitbild muss dabei sein, gerade die individuelle
Entscheidung jener leistungsfähigen älteren Menschen zu ermöglichen und zu
fördern, die ihr Wissen, Erfahrung und soziale Kompetenz auch weiterhin dem
Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen möchten.

So muss die Möglichkeit des Arbeitslosengeldbezugs für mindestens 58-Jäh-
rige unter erleichterten Voraussetzungen als – systemwidriges – Hilfsmittel für
Frühverrentung abgeschafft werden. Denn nach § 428 Abs. 1 Satz 1 SGB III
haben auch diejenigen einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, die „nicht arbeits-
bereit sind und nicht alle Möglichkeiten nutzen und nutzen wollen, um ihre
Beschäftigungslosigkeit zu beenden“. Vielmehr muss der Gesetzgeber signali-
sieren, dass es sich auch für ältere Arbeitslose noch lohnt, sich um eine Be-
schäftigung zu bemühen und dies für Unternehmen sehr von Vorteil sein kann.
Weitere Vorschläge der Fraktion der F.D.P. liegen hierzu vor (Bundestags-
drucksache 14/5579 vom 14. März 2001). Auch muss in diesem Kontext das
Altersteilzeitgesetz überdacht werden, denn es wird im Wesentlichen von
großen Unternehmen dazu genutzt, ältere Mitarbeiter auf Kosten aller Beitrags-
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– 10 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

zahler der Arbeitslosenversicherung vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausschei-
den zu lassen und bürdet Renten- und Krankenversicherung weitere Belastun-
gen auf. Überdies wird damit auch in der Arbeitslosenversicherung eine
Umverteilung von der jüngeren zur älteren Generation eingebaut.

A c h t e n s muss das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) liberalisiert wer-
den, da sich seine Brückenfunktion zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
nicht nur in beschäftigungspolitisch erfolgreichen Ländern, sondern auch in
Deutschland bewährt hat. Mehr als 30 % der Leiharbeitnehmer erhielten von
den Arbeit gebenden Firmen später eine feste Anstellung:

– Die zulässige Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeiters ist von der-
zeit 12 auf künftig 36 Monate auszudehnen. So werden weitere Verwen-
dungsmöglichkeiten für die Zeitarbeit geschaffen, die die Chance des Ar-
beitnehmers steigern, weitere qualifizierende Berufserfahrung zu erwerben
und eine adäquate Beschäftigung zu finden.

– Das so genannte Synchronisierungsverbot, wonach die Dauer des Vertrages
eines Arbeitnehmers mit der Verleihgesellschaft die Dauer des Arbeitsein-
satzes um mindestens ein Viertel übersteigen muss, ist aufzuheben, um mög-
lichst vielen Arbeitssuchenden, insbesondere schwer vermittelbaren Perso-
nen- und Berufsgruppen, den Wieder- bzw. Neueinstieg in den Arbeitsmarkt
zu erleichtern.

– Das Verbot eines wiederholten Abschlusses eines befristeten Arbeitsvertra-
ges ist aufzuheben. Mit dieser Regelung werden die Arbeitnehmerverleih-
Unternehmen gegenüber anderen Arbeitgebern diskriminiert, obwohl
grundsätzlich in weiten Bereichen schon eine Gleichstellung beider Be-
schäftigungsformen erreicht wurde.

– Das Wiedereinstellungsverbot ist aufzuheben: Da es nur dazu diente, das
Befristungs- und Synchronisationsverbot abzusichern, macht seine Auf-
rechterhaltung im Zuge der Liberalisierung keinen Sinn. Überdies ist es un-
verantwortlich, Einstellungen zu erschweren bzw. auszuschließen.

– Schließlich ist das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe
aufzuheben, denn es mutet eigenartig an, die legale Arbeitnehmerüberlas-
sung zu verbieten, um die illegale zu bekämpfen.

N e u n t e n s muss das Tarifrecht deutlich flexibilisiert werden. Gewiss, die
Tarifparteien tragen in erster Linie die Verantwortung für die Tarifpolitik. Den
Gesetzgeber trifft aber eine Mitverantwortung, wenn er sehenden Auges die zu
starren Regeln des Tarifvertragssystems nicht reformiert, um Arbeitsplätze
in Deutschland zu schaffen und zu erhalten. Denn das Grundgesetz verleiht
den Tarifparteien, wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt
hat, zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol. Darüber
hinaus können sich bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wie das Bundes-
verfassungsgericht in seiner jüngsten Entscheidung erkannt hat (1 BvL 32/97
vom 30. Mai 2001), Gewerkschaften und Arbeitgeber nicht auf eine unbe-
grenzte Tarifautonomie berufen, sondern müssen Rücksicht auf den Arbeits-
markt, die Belastbarkeit der sozialen Sicherungssysteme und die Wettbewerbs-
bedingungen in Deutschland nehmen:

– Die Arbeitsgerichte legen das so genannte Günstigkeitsprinzip, § 4 Abs. 3
Tarifvertragsgesetz, bislang so aus, dass nur höhere Löhne und kürzere Ar-
beitszeiten als günstiger beurteilt werden. Für die meisten Arbeitnehmer
dürfte hingegen ein geringerer Lohn im Zweifelsfall „günstiger“ sein, als
ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Daher muss gelten: Künftig kann auch ein
geringerer Lohn oder eine längere Arbeitszeit für den Erhalt des Arbeitsplat-
zes günstiger sein, wenn hierdurch der Arbeitsplatz gesichert werden kann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11 –

Drucksache

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und dem 75 % der abstimmenden Mitarbeiter des Unternehmens zuge-
stimmt haben.

– Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz, der vom
Tarifvertrag abweichende Betriebsvereinbarungen bislang untersagt, ist zu
ändern: Jegliche Vereinbarung auf betrieblicher Ebene zwischen Unterneh-
men und Belegschaftsvertretung sollte möglich sein, die freiwillig geschlos-
sen wird und denen 75 % der abstimmenden Mitarbeiter zugestimmt haben.
Warum soll nicht auch bei Lohn und Arbeitszeit größere Differenzierung zu-
gelassen werden? Warum sollen nicht Betriebe mit ihren vom Tarif nach
oben oder unten abweichenden Regelungen in den Wettbewerb um Arbeits-
kräfte eintreten dürfen? Damit ist der Weg gegeben, um über eine neue Ab-
machung die Weitergeltung der Rechtsnormen eines Tarifvertrags nach § 4
Abs. 5 Tarifvertragsgesetz zu beenden.

Berlin, den 3. Juli 2001

Dirk Niebel
Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Dr. Hermann Otto Solms
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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