BT-Drucksache 14/6443

Vertrag von Nizza nachverhandeln

Vom 27. Juni 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/6443
14. Wahlperiode 27. 06. 2001

Antrag
der Abgeordneten Uwe Hiksch, Dr. Klaus Grehn, Roland Claus und der
Fraktion der PDS

Vertrag von Nizza nachverhandeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag bekräftigt sein Ja zu einem friedlichen, sozialen und
demokratischen Europa. Er befürwortet erneut die baldige Aufnahme der bei-
trittswilligen Staaten in die Europäische Union. Gleichzeitig tritt er für die
weitere Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses ein. Ausgehend von
diesen Zielstellungen bewertet der Deutsche Bundestag, inwieweit die Ver-
tragsveränderungen von Nizza Erweiterung und Vertiefung der Europäischen
Union befördern und kommt zu einer sehr kritischen Einschätzung:

Die Ergebnisse der Regierungskonferenz zur Reform der Institutionen der
Europäischen Union, die im Vertrag von Nizza festgeschrieben wurden, ent-
sprechen weder den selbst gestellten Zielen noch den Herausforderungen der
Erweiterung der EU. Mit dem längsten aller bisherigen Europäischen Räte,
einem immensen Aufwand und der Möglichkeit eines Scheiterns des Gipfels
in Nizza bis zur letzten Minute wurden von den Staats- und Regierungschefs
hinter verschlossenen Türen letztlich die formellen Voraussetzungen für die
Aufnahme der beitrittswilligen Staaten geschaffen. Die Reformversuche zur
Wiedererlangung und zum Erhalt der Handlungsfähigkeit der EU auch mit 20
und mehr Mitgliedstaaten blieben in Ansätzen stecken. Die von einem Konvent
aus Vertretern der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der
nationalen Regierungen erarbeitete Grundrechtecharta, die den Bürgerinnen
und Bürgern der Europäischen Union fundamentale individuelle Freiheits-
rechte und soziale Rechte garantiert, wurde nicht in den Vertrag aufgenommen
und ist somit weder rechtsverbindlich noch direkt einklagbar. Das Demokratie-
defizit wurde nicht verringert; einige der getroffenen Entscheidungen lassen es
größer werden. Die notwendige Reformierung wichtiger Politikbereiche wie
der Landwirtschaft, der Strukturpolitik und der Finanzen der EU wurde über-
haupt nicht in Angriff genommen.

Damit hat nach den Gipfeln von Maastricht und Amsterdam auch der von
Nizza deutlich sichtbar gemacht, dass die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten
und damit auch das Instrument der Regierungskonferenzen allein unfähig bzw.
ungeeignet sind, im gesamteuropäischen Interesse zu denken und zu handeln.

Das Nein der Irinnen und Iren zu diesem Vertrag unterstreicht, dass die Bürge-
rinnen und Bürger nicht länger gewillt sind hinzunehmen, dass die Europäische
Union über ihre Köpfe hinweg gestaltet und regiert wird.

Aus all diesen Gründen hält es der Deutsche Bundestag für dringend geboten,
dass der Vertrag von Nizza nachgebessert wird.

Drucksache 14/6443 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Im Einzelnen wurden im Vertrag von Nizza folgende Vereinbarungen getroffen:

1. Stimmengewichtung im Rat

Angestrebt war die Vereinfachung der Beschlussfassung im Rat. Dafür wurde
die Methode der so genannten doppelten einfachen Mehrheit (einfache Mehr-
heit der Mitgliedstaaten plus einfache Mehrheit der Bevölkerung der EU) favo-
risiert, weil sie nicht nur einfach anzuwenden, sondern zugleich auch trans-
parent und demokratisch ist. Beschlossen wurde aber ein äußerst komplizierter
Mechanismus einer dreifachen Mehrheit. Neben dem bisher angewandten Sys-
tem der Stimmengewichtung in Anlehnung an die Bevölkerungszahl, die auf-
grund der Beitritte neu festgelegt wurde und der Mehrheit der Mitgliedstaaten
kommt noch das „demografische Sicherheitsnetz“ – also die Mehrheit der
Gesamtbevölkerung der Union hinzu, die mindestens 62 % betragen muss.

Das angestrebte Ziel der Vereinfachung der Entscheidungsprozesse wurde
nicht nur verfehlt, sondern ins Gegenteil verkehrt. Das Ergebnis ist nicht nur
komplizierter und intransparenter als der bisherige Entscheidungsmodus, es er-
schwert künftige Mehrheitsentscheidungen. Einerseits liegt die Hürde für die
Annahme von Beschlüssen nach den Beitritten mit 74 % sehr hoch, anderer-
seits ermöglicht es wegen des dreifachen und damit insgesamt deutlich niedri-
geren Schwellenwertes für Sperrminoritäten die Blockade durch nur zwei
große Staaten, was einem Vetorecht sehr nahe kommt.

Als positiv an dieser Entscheidung ist lediglich zu werten, dass in einem Proto-
koll des Vertrages von Nizza den Beitrittsländern ihre Stimmen bereits zuge-
teilt wurden als Signal eines baldigen Beitritts.

2. Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat

Angesichts der Tatsache, dass bald 20 und mehr Staaten Mitglied der Europäi-
schen Union sein werden galt es, für die künftige Handlungsfähigkeit der
Union die Mehrheitsentscheidung zum Prinzip und Einstimmigkeitsvoten zur
Ausnahme zu machen. Dies ist aufgrund vieler nationaler Egoismen der Mit-
gliedstaaten nicht gelungen. Erreicht wurde ein Übergang zur qualifizierten
Mehrheitsentscheidung in 35 Fällen, wobei einige längere Übergangsfristen ha-
ben bzw. einstimmig beschlossen werden müssen. Zusätzlich werden mit quali-
fizierter Mehrheit nach Inkrafttreten des Vertrages der Kommissionspräsident
und das Kollegium ernannt. In Kernbereichen der EU-Politik jedoch, wie der
Steuer-, Umwelt- oder Sozialpolitik, der Außen- und Sicherheitspolitik, wur-
den entweder keine oder nur geringfügige Änderungen vorgenommen. Die
Strukturpolitik wird frühestens 2007 in die „qualifizierte Mehrheit“ überführt,
was bei siebenjährigen Laufzeiten bedeutet, dass erst ab 2013 auf diese Weise
abgestimmt werden kann.

3. Kommission

Hinsichtlich der Größe der Kommission wurde beschlossen, dass mit Beginn
der Tätigkeit der nächsten EU-Kommission ab 1. Januar 2005 jedes Mitglieds-
land einen Kommissar stellt, bis die Union 26 Mitglieder hat. Mit Beitritt des
27. Mitgliedstaates hat der Rat die neue Größe der Kommission, die dann unter
der Zahl der Mitgliedstaaten liegt, einstimmig zu beschließen; ebenso die
Modalitäten für eine gleichberechtigte Rotation.

Gestärkt wurde die Rolle des Kommissionspräsidenten. Er darf zukünftig
sowohl sein Kabinett umbilden als auch Kommissionsmitglieder entlassen.
Präsident und Kollegium werden künftig vom Rat mit qualifizierter Mehrheit
benannt.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/6443

4. Europäisches Parlament

Geändert wurde die erst in Amsterdam festgelegte Höchstgrenze von 700 auf
732 Abgeordnete ohne vorherige Konsultation des Europäischen Parlaments.
Übergangsweise darf diese Zahl sogar erheblich überschritten werden. Die Er-
höhung kommt vor allem Deutschland entgegen, da es als einziges großes Land
seine 99 Sitze behält. Die genaue Sitzverteilung folgte keinem Prinzip, sondern
wurde Ad hoc als Kompensation für das bei der Stimmengewichtung im Rat er-
zielte Ergebnis festgelegt. Dabei wurden Tschechien und Ungarn bei der Sitz-
zuteilung nicht gleichberechtigt behandelt, da sie weniger Sitze erhielten als
Staaten mit geringerer Bevölkerung. Diese Entscheidung muss in Zusammen-
hang mit den Beitrittsverhandlungen der beiden Staaten unbedingt revidiert
werden. Von dieser Ausnahme abgesehen, wurde jedoch die Proportionalität
von Sitzverteilung und Bevölkerungszahl verbessert. Das Europäische Parla-
ment ist der eigentliche Verlierer im Vertrag von Nizza. Es wurde keine gene-
relle Kopplung der Mehrheitsentscheidungen an die Mitentscheidung des
Europäischen Parlaments im legislativen Bereich vorgenommen. Von den in
qualifizierte Mehrheit überführten 35 Artikeln darf das Europäische Parlament
nur in 7 Artikeln mitentscheiden. Die bereits in Amsterdam in die qualifizierte
Mehrheit, aber nicht in die Mitentscheidung, überführten Artikel, wurden auch
in Nizza nicht dem Europäischen Parlament zur Mitentscheidung überantwor-
tet. Damit ist das Europäische Parlament von der Mitentscheidung in den wich-
tigsten Politikbereichen, die der qualifizierten Mehrheitsentscheidung unter-
liegen bzw. dorthin überführt werden, wie Gemeinsame Agrarpolitik, Wirt-
schafts- und Währungsunion, Wettbewerb, staatliche Beihilfen, Strukturpolitik,
ebenso ausgeschlossen wie bei allen einstimmig zu treffenden Entscheidungen
des Rates. Das demokratische Defizit der EU wurde mit den Beschlüssen von
Nizza weiter vergrößert.

5. Verstärkte Zusammenarbeit

Die erst in Amsterdam in die Verträge eingeführte „verstärkte Zusammen-
arbeit“ wird erleichtert. Die Möglichkeit eines Vetos beim Auslösemechanis-
mus für die erste und dritte Säule wurde abgeschafft. Gleichzeitig wurde die
Mindestteilnehmerzahl unabhängig von der Zahl der Mitgliedstaaten auf 8 fest-
gelegt. Bisher musste die Mehrheit der Mitgliedstaaten teilnehmen. Ausge-
dehnt wurde die Möglichkeit der „verstärkten Zusammenarbeit“ auf die zweite
Säule des EU-Vertrages. Allerdings wird sie beschränkt auf die Implementie-
rung von Gemeinsamen Standpunkten und Aktionen; sie gilt nicht für Maßnah-
men mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen. Das Europäische
Parlament wird beim Auslösemechanismus unterschiedlich beteiligt. Im Be-
reich der ersten Säule (Gemeinschaftspolitiken) muss es zustimmen, in der
zweiten Säule (GASP) wird es unterrichtet, in der dritten Säule (Zusammenar-
beit im Bereich Justiz und Recht) wird es angehört. Mit diesen Änderungen
rückt die Umwandlung der Europäischen Union in eine Art Freihandelszone
bei gleichzeitiger zwischenstaatlicher Zusammenarbeit von jeweils einigen
Staaten in gemeinsam interessierenden Politikbereichen in den Bereich des
Möglichen. Kerneuropakonzepte wären damit im Rahmen der EU auch institu-
tionalisiert durchführbar.

6. Weitere wichtige Vertragsänderungen

Der Artikel 7 des EU-Vertrages wird um eine Bestimmung ergänzt, nach der in
Zukunft an einen Mitgliedstaat, bei dem die Gefahr von schwerwiegenden Ver-
letzungen der Grundwerte der Europäischen Union besteht, geeignete Empfeh-
lungen gerichtet werden können. Er sieht für das Europäische Parlament so-
wohl das Vorschlagsrecht als auch die Zustimmung vor der Aussprechung der
Empfehlung vor.

Drucksache 14/6443 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

Mit der Einfügung von Absatz 2 in Artikel 191 EG-Vertrag wurde eine Rechts-
grundlage für den Erlass einer Rahmengesetzgebung für die europäischen poli-
tischen Parteien einschließlich ihrer Finanzierung geschaffen. Sie bildet die in-
stitutionellen Voraussetzungen für das Zustandekommen eines europäischen
Parteienrechts und beseitigt die Rechtsunsicherheit in Bezug auf die europäi-
schen Parteien, insbesondere ihre Finanzierung.

Die mit dem Vertrag geschaffenen Grundlagen für eine schrittweise Reform des
Europäischen Gerichtshofes ermöglichen die notwendigen Anpassungen bei
der Erweiterung. Die diesbezüglich gefassten Beschlüsse kommen den Forde-
rungen des Europäischen Parlaments in wesentlichen Punkten entgegen. Von
besonderer Bedeutung ist die Gleichstellung des Europäischen Parlaments mit
dem Rat und der Kommission hinsichtlich des Klagerechtes vor dem EuGH in
Artikel 230 EGV.

Die in Nizza beschlossenen Veränderungen der Verträge bleiben mit wenigen
Ausnahmen hinter dem Vertrag von Amsterdam zurück. Sollten sie in Kraft
treten, wäre die Union weniger handlungsfähig und transparent. Ihre gravie-
renden Demokratiedefizite würden sich noch verstärken. Insofern ist eine Ab-
lehnung des Vertrages von Nizza – wie jüngst beim irischen Referendum –
nicht gleichbedeutend mit einer Ablehnung der Erweiterung der Europäischen
Union. Sie ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger mit
den vorgenommenen Reformschritten nicht zufrieden sind, da „Brüsseler“ Ent-
scheidungen für sie immer weniger nachvollziehbar und beeinflussbar werden.
Die EU-Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten aus den
Reaktionen in Irland, ähnlichen Signalen in anderen Staaten und der massiven
Kritik einer großen Mehrheit der Abgeordneten des Europäischen Parlaments
Schlussfolgerungen hinsichtlich der Nachbesserung des Nizzaer Vertrages zie-
hen statt sie zu übergehen bzw. zu ignorieren.

II. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ihre Stimme und das politische Gewicht der Bundesrepublik Deutschland in der
Europäischen Union dafür einzusetzen,

 das irische Votum gegen den Vertrag von Nizza ernst zu nehmen und den
Vertrag nachzubessern;

 in diesem Sinn den Beitrittsprozess vom Vertrag von Nizza abzutrennen,
um nicht die Beitrittsländer für institutionelle Fehlentscheidungen der EU zu
bestrafen und die Erweiterung im vorgesehenen Zeitraum zu gewährleisten;

 dazu die für die Erweiterung im Vertrag von Nizza verankerten formalen
Voraussetzungen wie Stimmenzahl im Rat und Sitze im Europäischen Parla-
ment nach Korrektur der Stimmen für Tschechien und Ungarn als gemein-
samen EU-Standpunkt zur Grundlage von Verhandlungen mit den Beitritts-
ländern zu machen, die nach Abschluss der Verhandlungen Bestandteil der
Beitrittsverträge werden, die der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten be-
dürfen;

 unter belgischer Präsidentschaft Nachverhandlungen der Nizza-Ergebnisse
zur Stimmengewichtung im Rat und der Ausweitung der Mehrheitsentschei-
dungen einschließlich der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments zu
führen und erfolgreich zu beenden;

 die Grundrechtecharta in die Verträge zu übernehmen und damit ihre
Rechtsverbindlichkeit und individuelle Einklagbarkeit zu garantieren;

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/6443

 die mangelnde Transparenz der Entscheidungen in der EU und ihr Demo-
kratiedefizit durch die Ausarbeitung eines Verfassungsvertrages für die
Europäische Union zu korrigieren, die zügig in Angriff genommen werden
sollte, woran die Beitrittsländer zu beteiligen sind;

 den Verfassungsentwurf und künftige Veränderungen und Weiterentwick-
lungen in der europäischen Integration unter maßgeblicher Mitwirkung des
Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente sowie der europäi-
schen Bevölkerung zu erarbeiten und dabei auf das „Konventmodell“ zu-
rückzugreifen, das sich bei der Ausarbeitung der Grundrechtecharta als er-
folgreiche Form erwiesen hat.

Berlin, den 27. Juni 2001

Uwe Hiksch
Dr. Klaus Grehn
Roland Claus und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.