BT-Drucksache 14/6038

Deutschland 2015 - Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutschland

Vom 15. Mai 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

15. 05. 2001

Antrag

der Abgeordneten Günter Nooke, Friedrich Merz, Ulrich Adam, Klaus Brähmig,
Wolfgang Bosbach, Hartmut Büttner (Schönebeck), Wolfgang Dehnel,
Kurt-Dieter Grill, Manfred Grund, Josef Hollerith, Dr.-Ing. Rainer Jork,
Dr. Michael Luther, Erwin Marschewski (Recklinghausen), Dr. Angela Merkel,
Hans Michelbach, Peter Rauen, Christa Reichard (Dresden), Katherina Reiche,
Hans-Peter Repnik, Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke), Dr. Rupert Scholz,
Gerhard Schulz, Horst Seehofer, Margarete Späte, Michael Stübgen
und der Fraktion der CDU/CSU

Deutschland 2015 – Aufbau Ost als Leitbild für ein modernes Deutschland

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die blühenden Landschaften gibt es

In den fast elf Jahren seit Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands
hat sich für die Menschen in den neuen Ländern die wirtschaftliche und soziale
Situation im Vergleich zu 1990 spürbar verbessert. Diese Erfolge sind das Ergeb-
nis der enormen Anstrengungen aller Deutschen, sowohl der Leistungskraft und
-bereitschaft der Ostdeutschen, als auch der Bereitschaft zu materieller und
nichtmaterieller Solidarität der W estdeutschen. Die neuen Bundesländer sind
seit der staatlichen Wiedervereinigung Bestandteile der föderalen Strukturen der
Bundesrepublik Deutschland. Die V erankerung der Institutionen des bundes-
deutschen Rechtsstaates in den neuen Ländern und die Übertragung des Renten-
und Sozialsystems gehören zu den erfolgreichen Kapiteln bundesdeutscher Ge-
schichte seit 1990. Dabei wurde das westdeutsche Leistungsniveau der sozialen
Absicherung nahezu vollständig auf die neuen Länder übertragen. Ebenso konn-
ten sowohl Löhne und Gehälter als auch Renten und Haushaltseinkommen stetig
erhöht werden. Seit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit ist die soziale
Marktwirtschaft das Fundament der Entwicklung für ganz Deutschland. Die
Menschen in den neuen und alten Ländern hatten keine geringere Aufgabe zu be-
wältigen, als die Überführung eines planwirtschaftlichen Systems, das bis 1990
innerhalb eines weitestgehend geschlossenen W irtschaftsraumes realisiert
wurde, in das offene System der sozialen Marktwirtschaft. Dabei wurden mehr
als eine halbe Million im W esentlichen kleinere und mittlere Betriebe neu ge-
gründet. Diese bilden den Kern und das Rückgrat der ostdeutschen W irtschaft.
Der überwiegende Teil der jetzt in den neuen Ländern vorhandenen betrieblichen
Anlagen wurde seit der W iederherstellung der staatlichen Einheit geschaf fen.
Mit politischer Unterstützung entstanden wettbewerbsfähige Standorte der
Chemieindustrie, des Automobil- und Maschinenbaus und der Hochtechno-
logien. Gleichzeitig vollzog sich der Wandel von der Industrie- zur Dienstleis-
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tungsgesellschaft, wobei der Anteil der privaten und unternehmensorientierten
Dienstleistungen im Vergleich zu den öf fentlichen kontinuierlich anstieg. Der
Ausbau und die Instandsetzung des Straßen- und Schienennetzes, die Sanierung
der Innenstädte, von Kirchen und Kulturdenkmälern, die Sanierung der Um-
weltaltlasten und nicht zuletzt der Aufbau einer modernen Telekommunikations-
infrastruktur sowie die Modernisierung städtischer Krankenhäuser und sozialer
Einrichtungen machen für alle die Erfolgsseite des Aufbaus Ost sichtbar.

Die Institutionen des freiheitlichen Rechtsstaates sind in Ostdeutschland akzep-
tiert. Bestehende mentale Unterschiede sind weniger auf die langfristigen W ir-
kungen der ideologischen Propaganda im SED-Staat, sondern viel mehr auf eine
andere Sozialisation zurückzuführen. In den fast elf Jahren seit der W iederher-
stellung der staatlichen Einheit ist die Aufarbeitung der Folgen der 40-jährigen
SED-Diktatur zu einem konstitutiven Bestandteil der gesamtdeutschen Ge-
schichte geworden. Die friedliche Revolution vom Herbst 1989 und die Wieder-
herstellung der staatlichen Einheit in Freiheit sind positive Bezugspunkte für das
nationale Selbstbewusstsein aller Deutschen.

Gegenwärtige Probleme beim Aufbau Ost

Die neuen Bundesländer bef nden sich an einer Weggabelung. Die Aufbauleis-
tungen der Menschen sind unübersehbar, aber auch die Anzahl und das Ausmaß
der Problemregionen. Die in den ersten Jahren seit der deutschen Wiedervereini-
gung erfolgreich vorangebrachte Aufholjagd des Ostens gegenüber dem Westen
hat sich ins Gegenteil verkehrt. Die Differenz im Wirtschaftswachstum hat dra-
matisch zugenommen. Die Schere zwischen Ost und W est ging in den letzten
beiden Jahren mit steigender Tendenz erheblich auseinander. Die Wachstumsrate
des Bruttoinlandsproduktes war im Jahr 2000 in den alten Ländern durchschnitt-
lich zweieinhalb Mal höher als in den neuen Ländern. Die Steuerkraft beträgt im
Osten lediglich ein Drittel des Westens. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Län-
dern ist zweieinhalb Mal höher. Trotz einzelner Neuansiedlungen und des Aus-
baus des Dienstleistungssektors haben sich die Arbeitsmarktprobleme im Osten
verschärft. Seit 1998 sehen sich die neuen Bundesländer mit einer stark zuneh-
menden Abwanderung in Richtung Westen konfrontiert. Dieses führte nicht ein-
mal zum Rückgang der Arbeitslosenquote. Mittel- und langfristig sind die Aus-
wirkungen negativ, da es sich bei den Abwandernden überwiegend um junge und
motivierte Menschen handelt. Den Hauptanteil bilden dabei junge Frauen und
Männer im Alter zwischen 20 und 35 Jahren, was die negative demograf sche
Entwicklung in den neuen Ländern zusätzlich verstärkt.

Der jetzigen Bundesregierung ist die Ansiedlung industrieller Großprojekte in
den neuen Ländern nicht gelungen. Insbesondere bei Transrapid oder Großraum-
flugzeug A 380 war besonders Engagement der Bundesregierung zu vermissen
Damit sind große Chancen für die Zukunftsfähigkeit der neuen Länder verspielt
worden, denn gerade größere industrielle Kerne tragen erheblich zur Stärkung
des Standortes und zur Verbesserung der Wirtschaftskraft der neuen Bundeslän-
der bei. Darüber hinaus entfalten sie Sogwirkungen für weitere Ansiedlungen.
Im elften Jahr seit Wiederherstellung der staatlichen Einheit muss die Entwick-
lung in den östlichen Bundesländern wieder als größte nationale Herausforde-
rung anerkannt werden. Dem muss die Politik der Bundesregierung Rechnung
tragen.

Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit der SED-Diktatur ist die Situation mit
Blick auf die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft auf deutschem Bo-
den unbefriedigend. Das Gedenken an die zweite deutsche Diktatur im 20. Jahr-
hundert ist nicht mehr Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur.

Der Aufbau Ost orientierte sich bisher an dem Ziel, eine schnellstmögliche An-
gleichung der Lebens- und W irtschaftsverhältnisse zwischen neuen und alten
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Bundesländern zu erreichen. Oft war damit die Übernahme von Strukturen ver-
bunden, die 1990 auch in den alten Bundesländern als modernisierungsbedürftig
angesehen wurden.

Innerhalb der neuen Bundesländer gibt es eine zunehmende Ausdifferenzierung,
die durchaus den föderalen Unterschieden innerhalb der alten Länder entspricht.
Es gibt aber weiterhin Unterschiede zwischen Ost und West, die von einer ande-
ren Qualität sind als die zwischen Nord und Süd. Der Hinweis auf landsmann-
schaftliche und föderale Vielfalt darf nicht dazu führen, die spezifschen Proble-
men Ostdeutschlands zu übersehen.

Ein neues Leitbild für den Osten

Der Aufbau Ost braucht eine kreative Neuausrichtung. Die nationale Herausfor-
derung Aufbau Ost muss mit der Frage gekoppelt sein: Wo soll Deutschland im
Jahre 2015 stehen? Eine einseitige Orientierung auf die Angleichung der Le-
bens- und Wirtschaftsverhältnisse der östlichen an die westlichen Länder ist der
falsche Maßstab!

Wo Deutschland und die einzelnen Bundesländer im Jahr 2015 stehen werden, ist
heute nicht bekannt. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, die wesentlichen Ent-
wicklungstrends zu erkennen und den weiteren Aufbau Ost darauf einzustellen.

Aus heutiger Sicht gehört dazu nicht nur die Globalisierung und die Anpassung
an die Spielregeln eines weltweiten Marktes. Gleichzeitig vollzieht sich eine im-
mer stärkere Dezentralisierung und Regionalisierung mit einer wachsenden Ver-
antwortung der kleineren Einheiten „vor Ort“. Die wichtigste Grundtendenz der
Gesellschaft ist die immer stärkere Beschleunigung aller Prozesse, einschließ-
lich der Verkürzung von Entwicklungszeiten und der damit verbundenen V or-
teile für diejenigen, die schnell agieren können. Ein weiterer wesentlicher Trend
liegt im Wandel einer eher hardwareorientierten Gesellschaft hin zu einer soft-
wareorientierten Wissensgesellschaft.

Im Vergleich zur Entwicklung in den westlichen Bundesländern bis 1990 haben
sich die Rahmenbedingungen für die östlichen Bundesländer seither stark verän-
dert. Die östlichen Bundesländer haben die Chance, durch neue Formen von Ko-
operationen zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen sowie eine
zielgerichtete, auf die neuen Erfordernisse ausgerichtete Qualif zierung von Ar-
beitskräften, zu einer europäischen Wachstumsregion ersten Ranges zu werden.
Dabei sind die ausgefahrenen Gleise in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik
der alten Bundesrepublik Deutschland zu verlassen.

Auch wenn es in Zukunft beim Aufbau Ost immer mehr darum gehen muss, die
Förderpolitik am konkreten Bedarf der einzelnen Regionen auszurichten, wäre
es falsch, in den nächsten zehn Jahren die Gesamtmittel dafür zu kürzen. Gleich-
wohl muss im Hinblick auf den Aufbau Ost in erster Linie über die Schwer-
punkte und in zweiter Linie über den Umfang der Mittel gesprochen werden.
Priorität muss dabei die weitere Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur haben.
Die östlichen Länder müssen die Chance erhalten, die oben beschriebenen
Trends für ihre jeweils eigenen Entwicklungen zu nutzen. Dazu gehört, sich den
veränderten Bedingungen der modernen Arbeitswelt anzupassen und die Bil-
dungs- und Forschungslandschaft auf die zukünftige Wissensgesellschaft auszu-
richten.

Geschichtspolitik, die in der Bundesrepublik auf Grund der Erfahrungen mit den
Diktaturen des 20. Jahrhunderts besonderen Stellenwert hat, muss den W ider-
stand gegen Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen als wich-
tige, konstitutive Bestandteile unserer Demokratie kommunizieren. Gerade vor
dem Hintergrund der Stärkung bürgerschaftlichen Engagements muss dabei we-
niger die Täter-Opfer-Perspektive als viel mehr das Eintreten des Einzelnen für
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Freiheit und Menschenrechte unter den Bedingungen der Diktatur in den Blick
genommen werden.

Orientierung und Leitbild für die neuen Bundesländer kann nicht in jedem Ein-
zelbereich die alte Bundesrepublik Deutschland sein! Der Aufbau Ost ist kein
Nachbau West. Die östlichen Bundesländer müssen sich – wie auch die west-
lichen – auf den Weg machen, das Deutschland im Jahre 2015 zu bauen. Dabei
sollten sie nicht ihre Schwächen bedauern, sondern die eigenen Stärken erkennen
und nutzen. Damit östliche und westliche Bundesländer überhaupt vergleichbare
Chancen für eine solche Entwicklung haben, ist die weitere fnanzielle Unterstüt-
zung des Ostens im Rahmen einer gesetzlichen Absicherung im Länderf nanz-
ausgleich und im Solidarpakt II für noch mindestens zehn Jahre notwendig.

Ein neues Leitbild für den Osten kann nicht im Aufholprozess des Ostens gegen-
über dem Westen bestehen. Der Maßstab sollte die Position aller deutschen Bun-
desländer im Jahr 2015 sein. Deutschland 2015 ist dann eine Vision, wenn auch
die östlichen Bundesländer ihren eigenen W eg dorthin finden können. Ein sol
ches Leitbild entspricht der Struktur unseres föderalen Bundesstaates.

Der Deutsche Bundestag wolle beschließen:

1. Wirtschafts- und Forschungsstandort Ostdeutschland stärken –
für eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung sorgen

Die östlichen Bundesländer sind vom Ziel einer selbsttragenden Wirtschaftsent-
wicklung noch weit entfernt. Seit mehr als zwei Jahren stagniert das ostdeutsche
Wirtschaftswachstum, wobei die Unternehmensdichte wesentlich geringer ist als
in Westdeutschland.

Die Innovationslücke muss abgebaut werden!

Die Förderung von Forschung
und Entwicklung muss sich stärker auf innovative Produkte und Anwendungen
konzentrieren. Nur mit innovativen Produkten kann Ostdeutschland neue inter-
nationale Absatzmärkte erobern.

Die Fortführung des Investitionszulagengesetzes

auf dem jetzigem Niveau ist
deshalb nach Auslaufen des Solidarpaktes I noch für weitere zehn Jahre notwen-
dig. Die Leistungen aus der Gemeinschaftsaufgabe sind ebenfalls auf dem ge-
genwärtigen Niveau fortzuführen. Dabei ist nach 2006 – dem Auslaufen der EU-
Fördermittel im Ziel-1-Gebiet – auch zu überprüfen, ob die Gemeinschaftsauf-
gabe als in ganz Deutschland einheitliches Förderinstrument mit gleichen Krite-
rien fortgeführt werden sollte. Die Investitionsförderziele müssen auf die heuti-
gen Erfordernisse angepasst werden, d. h. auf die Förderung exportintensiver
Unternehmen konzentriert werden. Förderziel kann in Zukunft z. B. nicht eine
Kapazitätsausweitung in der Bauwirtschaft sein. Förderziele sind die W irt-
schaftsansiedlungen insbesondere neuer Unternehmen mit innovativen Produk-
ten in strukturschwachen Regionen und Ausbau und Stärkung von Kompetenz-
regionen, die wichtig für eine selbsttragende W irtschaftsentwicklung sind. Es
müssen geeignete Indikatoren gefunden werden, die die strukturellen Besonder-
heiten Ostdeutschlands erfassen. Eine V erbesserung der Ausbildung an Hoch-
und Fachschulen mit mehr Praxisorientierung und Fallstudienanalyse ist not-
wendig.

Mit nur 4,9 Millionen Arbeitsplätzen gibt es heute in Ostdeutschland weniger
Arbeitsplätze als jemals zuvor. Die Jugendarbeitslosigkeit im Osten ist im Jahr
2000 gegenüber dem V orjahr um zehn Prozent auf 171 000 angestiegen – im
Westen ist sie dagegen um sieben Prozent zurückgegangen. Die Schaffung von
Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt muss allerhöchste Priorität haben
und darf nicht durch bürokratische Hemmnisse oder den zweiten Arbeitsmarkt
behindert werden.
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Wenn per Gesetz Flexibilität und Reaktionsfähigkeit beschnitten sowie die Kos-
ten für Betriebe in die Höhe getrieben und in der Folge Investitionen verzögert
werden, geht das zu Lasten von Arbeitsplätzen. Weniger Regulierung ist notwen-
dig, damit mehr Arbeitsplätze entstehen.

Gerade für die östlichen Bundesländer ist festzustellen, dass Überregulierungen
und überbordende Verwaltungsvorschriften junge und kapitalschwache Unter -
nehmen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten extrem behindern. Die Bundesre-
gierung sollte deshalb wie Landesregierungen überf üssige Verwaltungsvor-
schriften außer Kraft setzen. Durch eine „Lean-Government-Initiative“ muss die
Attraktivität der neuen Länder für Unternehmensansiedlungen gestärkt werden!
Ferner sollte eine intensive Förderung von technologieorientierten Existenz-
gründungen erfolgen, auch im Dienstleistungssektor.

Die Bundesregierung muss den ostdeutschen Kommunen ermöglichen, eigene
Konzepte für Industrieansiedlungen zu entwickeln. Dabei sollte hinreichend
Raum für Experimentierfreudigkeit und Flexibilität bestehen. Das schließt die
Ausnutzung der bestehenden Flexibilität bei der Erhebung von Gewerbe- und
Grundsteuer ein.

Ostdeutschland ist eine zum großen Teil dünnbesiedelte Region mit allen damit
verbundenen Nachteilen für den Aufbau von T echnologieregionen. Um diesen
Standortnachteil auszugleichen, müssen die Kräfte gebündelt werden und in eine
länderübergreifende V ernetzung der T echnologie- und W issenschaftspolitik
münden.

Wichtiges wirtschafts- und forschungspolitisches Gebot ist weiterhin die erheb-
liche Verstärkung der Kooperation zwischen klein- und mittelständischen Unter-
nehmen und der übrigen Forschungslandschaft, um den eigenen W ertschöp-
fungsbeitrag dieser Forschungslandschaft zu erhöhen und die Wettbewerbschan-
cen der Betriebe der neuen Bundesländer auf nationalen und internationalen
Märkten zu verbessern. Von der Bereitschaft zu dieser Kooperation sollte auch
die entsprechende Förderung abhängen.

Die temporär angelegte Förderung der ostdeutschen Industrieforschung muss
über das Jahr 2005 hinausgehen, um das wirtschaftspolitische Ziel einer weit-
gehenden Angleichung des Niveaus von Produktivität, Exportkraft und Be-
schäftigung an das alte Bundesgebiet zu erreichen. Die Kontinuität der
Forschungsförderung muss gewährleistet bleiben, um der W irtschaft und den
Forschungseinrichtungen Planungssicherheit zu geben.

2. Infrastruktur verbessern – Voraussetzungen für höhere Produktivität schaffen

Ganz Deutschland braucht eine V erkehrsinfrastrukturoffensive. Nach Berech-
nungen führender Wirtschaftsinstitute beläuft sich gegenwärtig der infrastruktu-
relle Nachholbedarf in den neuen Bundesländern auf 300 Mrd. DM. Um den
Wirtschaftsstandort neue Bundesländer und Berlin attraktiver zu machen, sind
weiterhin überproportionale Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur im Osten,
gemessen an den Gesamtinvestitionen des Bundes, notwendig. Güter- und Per -
sonentransporte sind im Osten Deutschlands immer noch um 20 Prozent zeit-
aufwendiger als im W esten. Das hat wesentlichen Einf uss auf die geringere
Produktivität in den östlichen Bundesländern. Daher muss diese Infrastruktur-
lücke mit hohem Tempo geschlossen werden.

Das bedeutet einen beschleunigten Ausbau der Schienenwege und Bundesfern-
straßen – einschließlich ihrer Ortsumgehungen – sowie die zügige Fertigstellung
der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit. Die Überarbeitung des Bundesverkehrs-
wegeplans ist unter diesen Prämissen bis 2002 abzuschließen.

Die Einschränkung des Schienenpersonenfernverkehrs durch die Deutsche Bahn
AG treffen auf Grund der dünnen Besiedelungsdichte die neuen Bundesländer
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besonders. Fehlende Zugverbindungen zwischen Ballungszentren und lang-
fristig kaum noch rentable Regionalverbindungen fordern eine klare Prioritäten-
setzung beim Streckenbau und bei der Zugverkehrsplanung. Angesichts der zu
erwartenden Bevölkerungsentwicklung ist neu zu bestimmen, was angemessene
und ausreichende Verkehrsangebote in der Fläche sind. Bei der damit zwangsläu-
fig verbundenen Schwerpunktsetzung beim Individualverkehr und Straßenba
sind zusätzliche finanzielle Belastungen der Büger zu vermeiden.

Der Bau kommunaler Verkehrsanlagen, von Schulen und Bildungseinrichtungen
und Umweltschutzprojekte wie Abwasserkanäle und Kläranlagen sollten mit
zusätzlichen Mitteln im Sinne einer Infrastrukturpauschale gefördert werden.
Dazu steht das Instrumentarium des Gemeindeverkehrsf nanzierungsgesetzes
zur V erfügung. Für Schulen, Bildungseinrichtungen und Umweltschutzpro-
jekte sollte der Bund in den nächsten drei Jahren den ostdeutschen Ländern und
Kommunen zusätzliche Mittel zuweisen.

3. Bildungspolitik – die lernende Gesellschaft als Leitbild begreifen

Der Lernbedarf unserer Gesellschaft wird immer schneller wachsen. Dazu ist es
notwendig, eine umfassende Neubewertung des praktischen Lernens in allen
Schul- und Ausbildungsarten vorzunehmen. Alle Konzepte zur Neuorientierung
an Schulen, Hochschulen und Universitäten müssen darauf ausgerichtet sein,
prinzipiell die Ausbildungszeiten zu verkürzen. Die neuen Länder können mit ih-
ren Erfahrungen beim 12-jährigen Abitur V orreiter für die Bundesrepublik
Deutschland sein. Das 12-jährige Abitur auf der Basis eines achtjährigen gymna-
sialen Bildungsganges zur Erlangung der Hochschulreife sollte zum Vorbild für
alle Bundesländer werden.

Die Bedeutung der Kernfächer Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften,
Fremdsprachen und Geschichte muss aufgewertet werden. Die bei den Ostdeut-
schen stark ausgeprägte positive Einstellung gegenüber Naturwissenschaften
und Technik muss als wichtiger Standortfaktor erkannt und genutzt werden. Die
naturwissenschaftliche und technische Bildung sowie ausreichende Kenntnisse
von Grundlagen wirtschaftlicher Zusammenhänge sind unerlässlich für die inter-
nationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes.

Eine erste Fremdsprache sollte prinzipiell schon vor dem fünften Schuljahr obli-
gatorisch eingeführt werden. Am allgemein bildenden Gymnasium sollten zwei
Fremdsprachen bis zum Abitur gelernt werden, während bilinguale Angebote für
alle anderen Schularten bereitgestellt werden müssen. Regelmäßige Praxistage
in Betrieben und praxisorientierte Projektprüfungen sollten das pädagogische
Profil bei allen Schulformen egänzen.

Es sollten neue Wege beim Dialog zwischen Schule und Eltern gegangen wer -
den. Wichtiges Element kann die Einführung von Kopfnoten sein, die nicht das
Ziel, sondern der Ausgangspunkt für diesen Dialog sein werden.

Neue Lernformen verlangen in allen Schularten neue Formen der Leistungsbe-
wertung. Dabei müssen für Kinder und Jugendliche transparente und vergleich-
bare Abschlüsse stehen. Vergleichsuntersuchungen zwischen einzelnen Schulen
und Schularten sowie den Hochschulen und Universitäten müssen ermöglicht
werden. Die Voraussetzungen für ein fächendeckendes Qualitätsmanagement an
staatlichen Schulen und permanente Vergleichsuntersuchungen sind bundesweit
zu schaffen.

Lehrer, Dozenten und Professoren müssen nach Leistung bezahlt werden. Da das
jetzige Dienstrecht nicht den Anforderungen der künftigen lernenden Gesell-
schaft entspricht, muss die Diskussion über die Leistungsanforderungen und
-bewertungen auf Bundesebene geführt werden. Die sich daraus ergebenden
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Konsequenzen für das Besoldungs- und Dienstrecht sollten schnellstens um-
gesetzt werden.

4. Stadtsanierung voranbringen – Wohnungsleerstand abbauen

Über eine Million leerstehender W ohnungen im Osten werden nicht mehr ge-
braucht. Wenn nach dem Willen der Kommunen und Länder W ohnungen vom
Markt genommen werden sollen, müssen W ohnungsgesellschaften und auch
private Vermieter vom Bund mindestens die Altschulden entsprechend der besei-
tigten Wohnquadratmeter erlassen bekommen. Wohnungseigentümer, Kommu-
nen und Länder brauchen eine solche verbindliche Zusage über die f nanzielle
Beteiligung des Bundes. Unklare Rahmenbedingungen und bürokratische Hin-
dernisse verzögern notwendige Abrissprojekte in den Kommunen.

Um einerseits das Leerstandsproblem im Sinne der dort lebenden Menschen zu
lösen, andererseits aber eine zukunftsgerichtete Stadtentwicklung zu ermög-
lichen sind für Innenstädte Entwicklungskonzepte notwendig. Sie sind ange-
sichts der dramatischen Situation, wo nicht vorhanden, im gestrafften Zeitrah-
men zu erstellen und sollten den Kommunen in unwesentlichen Randbereichen
nicht vorgeschrieben werden.

Sonderprogramme des Bundes für den Rückbau und die Sanierung von Wohnun-
gen sind weniger ef fizient als eigenverantwortete Programme der Länder un
Kommunen. Die Prioritäten – auch für den Wohnungsabriss – müssen vor Ort ge-
setzt werden. Die Länder sollten direkt notwendige Abrissprogramme koordi-
nieren und finanzieren. Die Förderpolitik im ohnungsbau muss das Überange-
bot von W ohnungen berücksichtigen. Unabhängig von der notwendigen
derzeitigen Novellierung des Wohnungsbaurechts gehört die Verantwortung für
die Wohnungsbauförderung langfristig in die Kommunen und Länder. Nur dort
kann die Situation auf dem Wohnungsmarkt richtig beurteilt werden. Die Verrin-
gerung von Mischfinanzierungen bedeutet abe, dass der Bund den Ländern, ins-
besondere den ostdeutschen Ländern, einen dauerhaften und dynamischen Aus-
gleich bei den Finanzmitteln verschafft.

Die Neubauförderung des Eigenheimbaus in Form der Eigenheimzulage des
Bundes darf in den östlichen Bundesländern nicht geringer sein als in den west-
lichen. Mehr als alle anderen Faktoren ist das eigene Haus Grund für die Identi-
fikation mit der Region und für dauerhaftes Bleiben in der Region. Die Anreiz
des Bundes, damit Menschen in Ost und West in ihrer Heimat bleiben bzw. dort-
hin zurückkehren, dürfen nicht unterschiedlich sein. Deutschland 2015 braucht
in allen Bundesländern Regionen, mit denen sich Menschen identif zieren kön-
nen und die ihnen Heimat bieten.

5. Landwirtschaftliche Strukturen erhalten – Chancen für den ökologischen
Umbau nutzen

Mit der Umstrukturierung der Landwirtschaft kam es in den neuen Bundeslän-
dern aus historischen Gründen zu ver gleichsweise großen landwirtschaftlichen
Betrieben. Die Bundesregierung wird aufgefordert, keine Nachteile für ostdeut-
sche Betriebe allein auf Grund ihrer Größe zuzulassen. Wirtschaftsförderung für
den ländlichen Raum bedeutet im Osten zuerst Erhalt der wettbewerbsfähigen
landwirtschaftlichen Strukturen. Kontraproduktiv für diese Betriebe ist dagegen
der Preisanstieg beim Agrardiesel, weil in der ostdeutschen Landwirtschaft
wesentlich größere Distanzen überwunden werden müssen.

Die ostdeutschen Agrarbetriebe sollten bei einer stärkeren ökologischen Aus-
richtung der landwirtschaftlichen Produktion in die Lage versetzt werden, ihre
Standortvorteile zu nutzen. Das Umland Berlins und das vieler größerer Städte
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ist für eine extensive Flächenbewirtschaftung und den Aufbau von speziellen
Verbraucherstrukturen besonders geeignet.

Wo heute noch verlassene Herrenhäuser oder Gutshöfe Interessenten f nden,
sollen diese zu günstigen Konditionen und nur unter der Bedingung eines
verbindlichen Investitionsplanes den neuen oder alten Eigentümern überlassen
werden.

6. Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik – den Bedingungen vor Ort anpassen

Trotz aller Erfolge bei der Transformation der Wirtschaft ist der Arbeitsmarkt im
Osten derzeit das größte Problem. Die Arbeitslosigkeit ist fast zweieinhalb Mal
so groß wie in den westlichen Ländern. Die Zahl der in arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen zeitweise Beschäftigten ist außerordentlich hoch. Arbeitsmarkt-
politische Maßnahmen sind mittelfristig in den östlichen Ländern unerlässlich.
Oberstes Ziel dieser Maßnahmen muss es aber sein, diese so am Bedarf auszu-
richten, dass den Betreffenden nach Ablauf der Maßnahme vor allem der Zugang
zum ersten Arbeitsmarkt erleichtert wird. Bisherige Initiativen der Bundesan-
stalt für Arbeit konnten ihre Funktion als Brücke zum ersten Arbeitsmarkt quan-
titativ und qualitativ nicht erfüllen. Deshalb ist das Instrument der Arbeitsmarkt-
politik zeitnäher und inhaltlich konkreter als bisher zu evaluieren. Korrekturen
müssen umgehend vorgenommen werden. Dies bezieht sich sowohl auf die Ar-
beitsbeschaffungsmaßnahmen als auch auf das Jump-Programm der Bundes-
regierung. Perspektivisch sollten arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zugunsten
investiver Maßnahmen des ersten Arbeitsmarktes zurückgefahren werden.

Tarifliche Regelungen im Osten sollten nicht von einer Orientierung auf di
Großunternehmen der westlichen Bundesländer ausgehen. Gerade junge Unter-
nehmen im Osten müssen den Anreiz haben, Betriebserweiterungen vorzuneh-
men, ohne automatisch in ein für sie ungünstigeres Normenregime hineinzu-
wachsen.

Die künftige Orientierung der Tarifpolitik im Osten kann nicht nach einem gene-
rell einheitlichen Zeitplan für alle Branchen erfolgen. Die Orientierung an west-
deutschen Flächentarifverträgen, auch innerhalb der einzelnen Branchen, ist für
die Zukunft kontraproduktiv. Da bereits jetzt die meisten ostdeutschen Unterneh-
men Löhne, Arbeitszeiten und Zuschläge auf Betriebsebene verhandeln, im
Durchschnitt Ostdeutsche länger arbeiten als Westdeutsche und die Maschinen-
laufzeiten länger sind, müssen im Gegenzug entsprechende Tarifverhandlungen
im Westen darauf gerichtet sein, die Unterschiede zwischen West und Ost nicht
noch zu vergrößern. Ein tarifpolitisches Leitbild, das sich an der regionalen Aus-
differenzierung orientiert, muss im Interesse der Wettbewerbsbedingungen auch
Vorbild für den W esten sein. Betriebs- und praxisnahe Regelungen müssen
weiterhin gestärkt sowie tarif iche Wahl- und Er gänzungsmöglichkeiten bzw.
Öffnungsklauseln erweitert werden.

Bündnisse für Arbeit müssen auf betrieblicher und nicht auf bundespolitischer
Ebene abgeschlossen werden. Es muss eine überschaubare, an den jeweiligen
sozialökonomischen Gegebenheiten der Branchen und Tarifbereiche orientierte
Frist zur Abschaffung ostdeutscher Sonderregelungen gelten.

7. Lohnangleichung im öffentlichen Dienst, Beamtenbesoldung und Honorare
für freie Berufe – Sonderregelungen Ost abschaffen

Eine zeitlich überschaubare Perspektive der Angleichung der Einkommensver-
hältnisse muss Bestandteil des Leitbildes für den Osten sein. Gerade in Berei-
chen, in denen Ost- und Westdeutsche am selben Ort die selbe Arbeit verrichten,
ist es auf lange Sicht nicht mehr tragbar, wenn ungleiche Gehälter, Einkommen
und Honorare bezogen werden.
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Die Bundesregierung wird aufgefordert, im Rahmen ihrer Gesetzgebungskom-
petenz einen verbindlichen Stufenplan zur Abschaf fung ostdeutscher Sonder -
regelungen vorzulegen.

Bis zum Jahr 2007 sollte eine stufenweise Angleichung der Einkommens- und
Besoldungssysteme Ost und West erfolgen:

Alle Berufseinsteiger erhalten ab sofort 100 Prozent der West-Besoldung.

Im Übrigen wird das Niveau in jährlichen Schritten von jeweils zwei v. H. ange-
hoben, beginnend mit 92 v. H. ab dem Jahr 2003 bis zum Niveau von 100 v. H. im
Jahr 2007.

Die Angleichung der Honorare bei den freien Berufen sollte gleichzeitig in den
o. g. Schritten erfolgen. Für den Bereich der Beamtenbesoldung und der Zulage-
regelungen ist zu prüfen, ob und inwieweit es möglich ist, für die neuen Länder
Öffnungsklauseln zu schaffen, die eine Bezahlung zulassen, die von der gelten-
den Stufenregelung zur Angleichung der Ostbesoldung abweicht.

Der Deutsche Bundestag fordert den zuständigen Bundesminister des Innern auf,
diese Maßgaben zur Grundlage der T arifverhandlungen für die Arbeiter und
Angestellten des öf fentlichen Dienstes zu machen und anschließend für das
Beamtenrecht zu übernehmen.

8. Eigenständigkeit, Regionalisierung und mehr T ransparenz – Schritte zur
Reform des Föderalismus im Osten einleiten

Die Leitidee für die Gestaltung der föderalen Beziehungen in Deutschland ist
Eigenständigkeit, klare V erantwortlichkeit und T ransparenz. Das setzt die
Entflechtung der bisherigen Entscheidungsstrukturen voraus. Ausreichende
Entscheidungsspielraum allein ist zu wenig, wenn eine ausreichende Leistungs-
fähigkeit nicht gegeben ist. Hier bedarf es der Hilfe zur Selbsthilfe.

Föderalismus braucht Subsidiarität, Subsidiarität braucht eindeutig def nierte
Einheiten. Misch- oder Einheitsstrukturen sind dabei eher hinderlich und des-
halb aufzubrechen.

Ziel ist es, die Handlungsfähigkeit aller politischen Ebenen zu stärken. Bund und
Länder brauchen ef fizientere Entscheidungsstrukturen. Die Lände , insbeson-
dere die östlichen Bundesländer, brauchen auf Grund ihrer besonderen Situation
größere Freiräume. Hierzu sollte der Bund „Flexibilisierungsgesetze“ erlassen,
die es allen Ländern erlauben, bei der Erfüllung von Aufgaben des eigenen Wir-
kungskreises von bundesstaatlichen Standards abzuweichen, wenn die ord-
nungsgemäße Aufgabenerfüllung gewährleistet ist.

Gerade die neuen Bundesländer brauchen verstärkt Anreize, ihre Fähigkeiten
und Potentiale einzusetzen. Die Folgen ihres Handelns wie Nichthandelns müs-
sen sie selbst spüren. Auch die östlichen Länder haben unter der Voraussetzung
der Chancengleichheit ein Interesse an einem Anreizsystem, das Erfolg und
Misserfolg der eigenen Politik deutlich macht. Auch zwischen den neuen Län-
dern ist bei mehr Unterschiedlichkeit die Gleichwertigkeit der Lebensverhält-
nisse nicht bedroht. Dies ist gewährleistet, wenn zu Kompetenzspielräumen und
wettbewerblichem Anreiz auch der solidarische Ausgleich gehört.

Die neuen Bundesländer sind seit W iederherstellung der staatlichen Einheit
Deutschlands gleichberechtigter T eil des föderalen Systems. Deshalb ist der
Ausgleich der geringeren Finanzkraft der ostdeutschen Länder und Kommunen
gesetzlich abzusichern. Besondere „Goldene Zügel“ mit denen auf die ostdeut-
schen Bundesländer stärker als auf andere Einf uss ausgeübt werden kann, wer-
den abgelehnt.

Die Verteilung der Bundesbehörden in den sechzehn Ländern, gemessen nach
dem Bevölkerungsanteil, stellt aus Sicht der neuen Länder, mit Ausnahme Ber-
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lins, eine erhebliche Benachteiligung dar. Das trifft auch auf Bundeswehrstand-
orte zu. Die Vorgaben der Föderalismuskommission zur vorrangigen Ansiedlung
und – sofern geplant – zur nachrangigen Schließung von Bundesbehörden in den
östlichen Bundesländern sind umzusetzen. Bei Anstellungen des Bundes ist eine
angemessene Anzahl von Angestellten und Beamten aus den östlichen Bundes-
ländern zu berücksichtigen. Mehr als bisher ist auch auf eine angemessene Ver-
tretung des Ostens bei den Leitungsstellen zu achten.

9. Modernisierung der Verwaltung als Beitrag zur Bürgergesellschaft

Staat und Gesellschaft befnden sich im Wandel. Die Bundesregierung ist aufge-
fordert, die Voraussetzungen zu schaffen, damit Bundes- und Landesbehörden
den sich immer weiter beschleunigenden V eränderungsprozessen gerecht wer-
den und diese administrativ begleiten können. Insbesondere die neuen Länder
brauchen mehr Möglichkeiten für eigenständiges und den konkreten Bedingun-
gen und Herausforderungen angepasstes Agieren. Nur so können die Aktivitäten
der Bürger und die sozialen Ressourcen der Gesellschaft mobilisiert werden.

Vorrang hat der Aufbau vernetzter , statt hierarchischer Strukturen. Die Daten-
netze aller Ressorts und Einrichtungen der Landesverwaltungen müssen, wie vor
kurzem im Freistaat Sachsen, zusammengeführt werden. Zukunftsweisende
Informations- und Kommunikationssysteme müssen zu mehr T ransparenz und
Effizienz bei erwaltungsentscheidungen beitragen. Auch in der Verwaltung ist
nicht mehr die Größe einer Behörde, sondern deren Schnelligkeit entscheidend.
Unternehmen müssen Genehmigungen und Fördermittel bei voller Rechts-
sicherheit schnell erhalten, damit Wirtschaftsentwicklung überhaupt noch statt-
finden kann. Bü ger müssen fachgerecht, unkompliziert und schnell ihre Be-
hördenangelegenheiten und -anfragen erledigen können, damit eine neue
Identifikation mit der eigenen Stadt und dem eigenen Land entsteht. Menschen
die sich durch freiwilliges Engagement für die Gesellschaft einbringen wollen,
müssen eine soziale Infrastruktur vorfnden, die diese Menschen nicht als störend
oder als Konkurrenz für den eigenen Arbeitsplatz ansieht. Diese Menschen brau-
chen die Anerkennung der Gesellschaft und die Unterstützung der Verwaltung.

Die Modernität einer solchen Verwaltung misst sich nicht allein an der effizien
ten Abwicklung von Genehmigungsverfahren für den Bau von Unternehmen,
Autobahnen und Schienentrassen. Der Staat muss in neue Strukturen und ver-
stärkt in Menschen investieren. Die Qualität der V erwaltung setzt qualifiziert
Mitarbeiter voraus. Wer den Standortvorteil einer modernen V erwaltung wirk-
lich nutzen will, muss im öf fentlichen Dienst die Leistungsträger der Gesell-
schaft beschäftigen wollen und darf ihn nicht zur Lösung von Problemen am
Arbeitsmarkt missbrauchen. Weniger Personal im öffentlichen Dienst kann ein
Mehr an moderner Dienstleistung und eine zusätzliche Mobilisierung von
Ressourcen bedeuten.

Deutschland 2015 bedeutet für die östlichen Bundesländer , sich als moderner
Dienstleistungsstandort in der Mitte Europas zu proflieren.

10. Erinnerungskultur

Nation und nationale Identität werden gerade in einer globalisierten Welt funda-
mentale Bestandteile der Kulturen der Völker sein. Das trifft auch auf das Volk
der Deutschen zu. Dazu gehören sowohl die negativen wie die positiven Bezugs-
punkte insbesondere der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Deshalb
muss das Gedenken an die friedliche Revolution der Ostdeutschen vom Herbst
1989 wieder stärker in den Mittelpunkt der gesamtdeutschen Erinnerungskultur
treten. Das muss seinen Ausdruck f nden in der Einrichtung und Pf ege entspre-
chender Denkmäler und Erinnerungsstätten, die ähnlich wie die Erinnerungsstät-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11 –

Drucksache

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ten an die nationalsozialistischen Verbrechen und den Widerstand dagegen von
nationaler Bedeutung sind.

Die Bundesrepublik Deutschland braucht ein nationales Freiheits- und Einheits-
denkmal zur Erinnerung an die friedliche Revolution des Herbstes 1989, durch
die die Wiederherstellung der staatlichen Einheit der Deutschen möglich wurde.
Durch die friedliche Revolution wurde die Entwicklung der deutschen Nation zu
einem demokratisch verfassten Land vollendet. Der Rolle Berlins als Bundes-
hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands muss Rechnung getragen werden.
Deshalb sollte hier an zentraler Stelle ein Freiheits- und Einheitsdenkmal errich-
tet werden, das sowohl den jahrelangen Widerstand gegen die kommunistische
Diktatur, die friedliche Revolution vom Herbst 1989 sowie die W iederherstel-
lung der staatlichen Einheit der Deutschen symbolisiert.

Tausende Menschen, die während der Zeit der kommunistischen Herrschaft in
Ostdeutschland Widerstand leisteten und dieses mit ihrer Gesundheit und dem
Leben bezahlten, sind Vorbilder und positive Bezugspunkte unserer nationalen
Identität. Deren Verhalten darf nicht einseitig aus der Opferperspektive beurteilt
werden, sondern muss in erster Linie als mutiges Engagement für Demokratie
und Bürgerrechte in das nationale Bewusstsein der Deutschen eingehen. Dieses
sollte in Form einer Ehrenpension auch einen materiellen Ausdruck fnden.

11. EU-Osterweiterung – die östlichen Bundesländer im Zentrum Europas

Im Jahr 2015 wird Ostdeutschland in der Mitte einer neuen Europäischen Union
liegen. Es ist an der Zeit, den Osten Deutschlands auf seine zukünftige geopoliti-
sche und strategische Lage vorzubereiten, damit diese historische Chance in vol-
lem Umfang genutzt werden kann. Die Bundesregierung ist aufgefordert, heute
die notwendigen Schritte dafür zu tun.

Der Ausbau der transeuropäischen Netze muss im Interesse Ostdeutschlands ent-
schieden beschleunigt werden. Der Ausbau des Schienennetzes über die Trassen
Berlin–Warschau–Moskau, Berlin–Breslau–Kiew und Nürnber g–Prag–
Budapest muss mit ebensolcher Dringlichkeit behandelt werden, wie die zentra-
len Straßenbauprojekte der A16 Leipzig –Cottbus–Breslau, der Via Hanseatica
Stettin–Danzig–Königsberg, der A13 nach Leitmeritz oder der A17 nach Prag.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, alle Möglichkeiten einer Kof nanzierung
aus EU-Mitteln auszuschöpfen.

Die Kommunen beiderseits der Ländergrenzen dürfen nicht in einen kontrapro-
duktiven Standortwettbewerb zurückfallen. Die Bundesregierung wird aufgefor-
dert, neben der Einforderung des acquis communautaire auch positive Konzepte
zur Förderung wirtschaftlicher Kooperationen zu erarbeiten, die Ländergrenzen
überschreiten. Dazu zählen die Förderung von „maquiladora“- Ansiedlungen
beiderseits der Grenze über Öf fnungsklauseln ebenso wie die Förderung von
grenzüberschreitendem Risikokapital nach dem Vorbild des europäischen „Inno-
vationsfonds“.

Die EU-Erweiterung wird langfristig auch für den ostdeutschen Arbeitsmarkt
positive Effekte haben. Eine steigende Zahl von Pendlern aus den Beitrittsstaaten
kann aber für einige Jahre in den Grenzregionen zu einem Überangebot von
Arbeitskräften führen – dies gilt vor allem im Niedriglohnbereich und bei zahl-
reichen Dienstleistungen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, Übergangs-
regelungen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und bei der Dienstleistungs-
freiheit auf europäischer Ebene durchzusetzen.

Die Erweiterung der EU wird die Berechnungsgrundlagen für EU-Struktur-
fondsmittel verändern. Die Bundesregierung ist aufgefordert, einen fnanziellen
Ausgleich für solche ostdeutschen Regionen zu zahlen, die einzig durch den Ein-
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– 12 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
tritt weiterer Staaten zur Europäischen Union von einer Kürzung der Mittel
betroffen sind.

12. Verhandlungen zum Länderf nanzausgleich und Solidarpakt II 2001 ab-
schließen – Planungssicherheit für die neuen Länder herstellen

Die östlichen Bundesländer haben nach dem Grundgesetz Anspruch auf ange-
messenen Ausgleich ihrer schwächeren Finanzkraft. Der Finanzausgleich soll
zur Herstellung vergleichbarer Lebensbedingungen im Bundesgebiet beitragen.
Bei der Neuregelung des Länderf nanzausgleichs müssen deshalb Selbständig-
keit und Eigenverantwortlichkeit der Länder, aber auch solidarische Mitverant-
wortung von Bund und Ländern ausgewogen berücksichtigt werden und neue
Verzerrungen fairer Entwicklungschancen in den neuen wie in den alten Bundes-
ländern vermieden werden.

Wesentlicher Zweck des Solidarpaktes ist die Bereitstellung von Finanzmitteln
zur Überwindung des teilungsbedingten Nachholbedarfs in den neuen Ländern.

Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich:

für die neuen Bundesländer Planungssicherheit herzustellen und bis Ende 2001
Maßstäbegesetz und Finanzausgleichsgesetz zu verabschieden;

die wesentlich geringere Steuerkraft der ostdeutschen Kommunen im Rahmen
des Finanzausgleichs zu berücksichtigten.

Anreizorientierte Ausgleichsmodelle sind notwendig und ermöglichen Wettbe-
werb und Teilungsbereitschaft. Die neuen Länder sollen am W ettbewerb unter
Berücksichtigung des nach wie vor vorhandenen erheblichen teilungsbedingten
Nachholbedarfs teilnehmen.

Der Solidarpakt II nach 2004 ist für mindestens zehn Jahre auf dem bisherigen
Niveau fortzuführen. Dabei ist grundsätzlich an dem Verteilungsschlüssel nach
Bevölkerungsanteil festzuhalten.

Pauschale Zuweisungen für Investitionen sind gegenüber Einzelprogrammen
des Bundes zu favorisieren.

Berlin, den 15. Mai 2001

Günter Nooke
Ulrich Adam
Klaus Brähmig
Wolfgang Bosbach
Hartmut Büttner (Schönebeck)
Wolfgang Dehnel
Kurt-Dieter Grill
Manfred Grund
Josef Hollerith
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski (Recklinghausen)
Dr. Angela Merkel

Hans Michelbach
Peter Rauen
Christa Reichard (Dresden)
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Dr.-Ing. Joachim Schmidt (Halsbrücke)
Dr. Rupert Scholz
Gerhard Schulz
Horst Seehofer
Margarete Späte
Michael Stübgen
Friedrich Merz, Michael Glos und Fraktion

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