BT-Drucksache 14/5982

Für eine Reintegration von Sozialhilfeempfängern in den Arbeitsmarkt-Anreize- für die Rückkehr in das Erwerbsleben erhöhen

Vom 9. Mai 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

14/

5982

14. Wahlperiode

09. 05. 2001

Antrag

der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van
Essen, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Klaus
Haupt, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner
Hoyer, Ulrich Irmer, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Günter Friedrich Nolting,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, Gerhard Schüßler, Marita Sehn, Dr. Hermann Otto Solms, Jürgen Türk,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der F.D.P.

Für eine Reintegration von Sozialhilfeempfängern in den Arbeitsmarkt – Anreize
für die Rückkehr in das Erwerbsleben erhöhen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zum Jahresende 1999 erhielten in Deutschland 2,8 Millionen Menschen Sozi-
alhilfe. Davon waren 1,7 Millionen aller Hilfeempfänger im erwerbsfähigen
Alter. Nach Expertenschätzungen sind von diesen mindestens 1 Million

in der
Lage, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Für viele arbeitsfähige So-
zialhilfe-Empfänger lohnt es sich jedoch nicht, eine Arbeit aufzunehmen:

– E r s t e n s ist gerade bei niedrigem Einkommen der Abstand zwischen
Lohn und Sozialhilfe zu gering: Allein das durchschnittlich verfügbare
Monatseinkommen – also nicht einmal die untere Lohn- und Gehaltsgruppe –
eines Alleinverdieners mit zwei Kindern bemisst sich einschließlich Kinder-
geld auf 3 200 DM. Es liegt damit lediglich 260 DM über dem Transfer-Ein-
kommen einer Sozialhilfefamilie von 2 940 DM.

– Z w e i t e n s wird die Sozialhilfe zu einem großen T eil gestrichen, wenn
ein arbeitswilliger Sozialhilfeempfänger Arbeit aufnimmt: Ein Sozialhilfe-
empfänger kann höchstens 275 DM mehr im Monat verdienen, wenn er zu-
sätzlich arbeitet. Jeder Zuverdienst darüber hinaus wird ihm zu 100 %, also
voll, auf die Sozialhilfe angerechnet.

Aus diesen Gründen gibt das deutsche Sozialhilfesystem arbeitsfähigen Sozial-
hilfeempfängern zu wenig Anreize, Arbeit aufzunehmen und in das Erwerbsle-
ben zurückzukehren. Insoweit verhalten sich viele arbeitsfähige Sozialhilfe-
empfänger wirtschaftlich nur rational, wenn sie keine Arbeit annehmen. Ein
niedriger qualifizierter Sozialhilfeempfänger mit Kindern hat nicht nur keine
wirtschaftlichen Grund zu arbeiten, er hat auch keine Chance, eine geringfü-
gige oder Teilzeitbeschäftigung zu finden, bei der er dasselbe verdient wie i
der Sozialhilfe. Das Potential gerade geringer qualif zierter Arbeitnehmer
(62 % der Sozialhilfeempfänger im erwerbsfähigen Alter haben entweder kei-
nen oder einen „unbekannten“ Berufsabschluss) etwa für den Dienstleistungs-
Drucksache

14/

5982

– 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

bereich wird nicht ausgeschöpft, weil die Anreize zur Arbeitsaufnahme falsch
strukturiert sind.

Eine solche „Sozialhilfe-Falle“ begünstigt die Schwarzarbeit. Sie nimmt dem
Einzelnen mit zunehmender Verweildauer in der Arbeitslosigkeit jede Chance
und Motivation, jemals wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Nicht zuletzt werden die öffentlichen Kassen von Bund, Ländern und Kommu-
nen durch diese Praxis schwer belastet. Dies ist weder im Interesse der arbeits-
fähigen Hilfeempfänger, die so zu einem Leben in Hilfsbedürftigkeit bestimmt
werden, noch im Interesse einer freiheitlichen Gesellschaft, die für die Eröff-
nung von Chancen und Teilhabe steht.

Sozialhilfe muss so ausgestaltet werden, dass sie einerseits den tatsächlich Be-
rechtigten ein Leben in Würde i. S. v. Artikel 1 Abs. 1 GG ermöglicht, anderer-
seits aber zugleich die Selbständigkeit aller Hilfeempfänger fördert und den
Leistungsmissbrauch vermeiden hilft. Entscheidend muss der Anreiz sein, wie-
der in das Erwerbsleben zurückzukehren, weil nichts einen Betroffenen mehr
disqualifiziert als dauerhafte Erwerbslosigkeit. Statt die 2,8 Millionen Sozial
hilfeempfänger mit rd. 40 Mrd. DM bürokratisch zu verwalten, müssen den Be-
troffenen Angebote gemacht werden, wieder V erantwortung für ihr Leben zu
übernehmen. Das bedeutet konkret: Es muss derjenige Hilfeempfänger , der
eine Beschäftigung finden kann und arbeiten will, nanziell deutlich besser ge-
stellt sein als derjenige, der sich nicht um eine W iedereingliederung in den Ar-
beitsmarkt bemüht. Sozialhilfe muss wieder als „Hilfe zur Selbsthilfe“ bzw .
„Hilfe zur Arbeit“ praktiziert werden.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. auf die Kommunen einzuwirken, die Freibeträge in der Sozialhilfe zu erhö-
hen, bzw. den Sozialhilfeträgern über eine Reform des Finanzausgleichs die
entsprechenden Anreize und Mittel zur Verfügung zu stellen,

2. die Anrechnungssätze mit zunehmendem Einkommen langsamer ansteigen
zu lassen,

3. den Eingangssteuersatz bereits 2002 auf 15 % zu senken.

Berlin, den 8. Mai 2001

Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

Begründung

Im Wesentlichen lohnt es sich für viele arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger aus
zwei Gründen nicht, eine Arbeit aufzunehmen:

Gerade bei niedrigem Einkommen ist der Abstand zwischen Netto-Lohn und
Sozialhilfe nicht groß genug. Gemäß § 22 Abs. 4 BSHG muss die Sozialhilfe
deutlich niedriger ausfallen als die durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelte der
unteren Lohn- und Gehaltsgruppen bezogen auf eine fünfköpf ge Familie. Die
sozialhilferechtlichen Regelsätze werden einerseits noch durch Sonderleistun-
gen und Mehrbedarfszuschüsse aufgestockt, anderseits müssen sich Sozialhil-
feempfänger auch Abzüge gefallen lassen: beim Ehepaar Kindergeld in Höhe
von jeweils 250 DM, bei Alleinerziehenden Kinder geld und Unterhalt, oder
wenn das Vermögen bestimmte Freigrenzen übersteigt. Im Er gebnis erhält ein
Alleinstehender monatlich 1 210 DM. Bei einer Alleinerziehenden kommen
Kindergeld (in der jeweils aktuellen Höhe) und, falls der fehlende Elternteil
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 –

Drucksache

14/

5982

keinen Unterhalt zahlt oder zahlen kann, der vom Jugendamt gezahlte Unter-
haltsvorschuss hinzu, so dass sich ein verfügbares T ransfer-Einkommen von
1 992 DM ergibt. Beim Ehepaar mit zwei Kindern summieren sich Regelbedarf
und andere Leistungen schließlich auf 2 940 DM. Bei Arbeitslosen, deren
Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe unterhalb ihres Sozialhilfeanspruchs
liegt, wird eine „aufstockende Sozialhilfe“ gezahlt, d. h. Sozialhilfe abzüglich
Arbeitslosenunterstützung. Damit ergibt sich für Sozialhilfeempfänger, die der-
artige Leistungen beziehen, ein verfügbares Einkommen, das genauso hoch ist
wie im Fall des alleinigen Sozialhilfebezugs.

Hinzu kommt: Nimmt ein arbeitswilliger Sozialhilfeempfänger Arbeit auf,
wird ihm die Sozialhilfe zu einem großen Teil gestrichen, nur Kindergeld wird
in voller Höhe weiter bezahlt. Nach den Empfehlungen des Deutschen V ereins
für öffentliche und private Fürsorge und gängiger Praxis in etwa der Hälfte der
Kommunen liegt der Freibetrag auf Erwerbseinkommen bei höchstens
275 DM, entsprechend 50 % des Eckregelsatzes eines Haushaltsvorstandes von
zurzeit 549 DM. Ein Sozialhilfeempfänger kann also höchstens 275 DM dazu
verdienen. Jeder monatliche Zuverdienst darüber hinaus wird ihm zu 100 % auf
die Sozialhilfe angerechnet. In Kommunen, die sich nicht an die Empfehlung
halten, liegen die Freibeträge (sogar) noch niedriger.

Dies bedeutet im Ergebnis; je größer die Familie eines Hilfeempfängers, desto
stärker ist der Anreiz, im Hilfesystem zu verweilen – die „Sozialhilfe-Falle“:
Wenn bei dem Sozialhilfe-Ehepaar

mit zwei Kindern mit dem verfügbaren
Haushaltseinkommen von 2 940 DM

im Monat einer der beiden Erwachsenen
wieder arbeitet und 3 000 DM brutto verdient, sinkt das verfügbare Einkom-
men ohne ergänzende Transfers auf monatlich 2 928 DM. Beantragt die Fami-
lie weiterhin Sozialhilfe, würde ihr verfügbares Einkommen um 275 DM ent-
sprechend der Höhe des Freibetrages ansteigen. Seit dem 1. Januar 2001 würde
ihr Antrag allerdings abgelehnt, denn durch die Reform des W ohngeldgesetzes
steht der Familie jetzt ein Wohngeld von 350 DM zu (Köln, Baujahr vor 1965,
Bad oder Dusche), so dass das Sozialamt die Familie dem W ohnungsamt zu-
weisen würde, wo dann ausschließlich Bund und Länder für die Kosten zustän-
dig sind. Die Sozialhilfeschwelle eines Alleinverdieners – also das Einkom-
men, bis zu dem er Anspruch auf Sozialhilfe hat – entspricht einem
Bruttostundenlohn von 20,47 DM, während Löhne für Tätigkeiten mit geringer
Produktivität vor allem im Dienstleistungsbereich, aber auch für Hilfskräfte in
der Industrie aktuell zwischen 10 und 15 DM pro Stunde liegen. Zur Klarstel-
lung sei darauf hingewiesen, dass Alleinerziehende in der Sozialhilfe einen
Sonderstatus haben: So beträgt ihr Erwerbsfreibetrag 2/3 – statt 1/2 – des Eck-
regelsatzes (sofern sich die Kommunen an die Empfehlungen des Deutschen
Vereins für öffentliche und private Fürsorge halten). Der Höchstsatz liegt damit
gegenwärtig bei 366 DM, also 91 DM über dem für nichtalleinerziehende Sozi-
alhilfeempfänger. Darüber hinaus entbindet § 18 Abs. 3 BSHG Alleinerzie-
hende von der Pflicht, für den eigenen Lebensunterhalt zu so gen, sofern sie ein
Kind unter 3 Jahren versorgen oder die Betreuung eines Kindes nicht gesichert
ist.

Dem sozialhilferechtlichen Fürsorgeprinzip wird offensichtlich größere Bedeu-
tung eingeräumt als der ebenfalls im Sozialhilferecht verankerten Zielsetzung,
erwerbsfähige Hilfeempfänger in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Deut-
liche Indizien dafür sind, dass 91,2 % (1999) der Sozialhilfeempfänger im er -
werbsfähigen Alter nicht erwerbstätig sind – wobei lediglich 9,6 % von ihnen
wegen „Krankheit, Behinderung, Arbeitsunfähigkeit“ nicht arbeiten gingen –
und sie im Durchschnitt 1 3/4 Jahre im Hilfebezug bleiben.
Drucksache

14/

5982

– 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
Begründung im Einzelnen

Eine beschäftigungsorientierte Sozialpolitik muss sich gerade darauf konzen-
trieren, benachteiligte Gruppen wie die der geringer qualif zierten Arbeitneh-
mer in den Arbeitsmarkt zu integrieren und Anreize für ihre Rückkehr in das
Erwerbsleben zu setzen.

1. Die

Freibeträge

für zusätzliche Einkommen müssen

erhöht

werden. Ein
höherer Freibetrag statt voller Anrechnung von Erwerbseinkommen – etwa
die Anrechnung nur zur Hälfte, wie es in Baden-Württemberg zurzeit er -
probt wird – verschafft demjenigen einen Anreiz, der mehr arbeiten und den
Abhängigkeitsstatus verlassen will. Ein höherer Freibetrag würde gerade
Teilzeitarbeitsplätzen zugute kommen, denn für geringer Qualif zierte ist der
Wiedereinstieg in das Erwerbsleben im W esentlichen über eine T eilzeitbe-
schäftigung möglich. Zwar obliegt gegenwärtig die Gestaltung der Freibe-
träge sowohl in der Höhe wie auch in der Ausgestaltung (Grenzbelastung)
ausschließlich den Sozialhilfeträgern. Die gesetzliche Regelung, § 76
BSHG, beschränkt sich auf die Vorgabe, dass vom „Einkommen … Beträge
in angemessener Höhe … für Erwerbstätige (abzusetzen)“ sind. Hier ist in
erster Linie die V erantwortung der Kommunen, die sich freiwillig an die
Empfehlung des Deutschen V ereins für öf fentliche und private Fürsor ge
halten, angesprochen. Wenn die Bundesregierung mehr tun will, als an die
Kommunen zu appellieren oder befristet Modellversuche zu subventionie-
ren, muss sie den Sozialhilfeträgern über eine Reform des Finanzausgleichs
die entsprechenden Anreize und Mittel zu Verfügung stellen.

2. Das

Anrechnungsverfahren

muss

progressiv

ausgestaltet werden, also bei
zunehmendem Einkommen langsamer ansteigen, um den Übergang vom
Transferbezug in die Arbeit f ießend zu gestalten. Dies wird die Hilfeemp-
fänger zum Berufseinstieg motivieren und ihnen diesen erleichtern. Eine
solche Anrechnung, die die Höhe des Zusatzerwerbs berücksichtigt, dient
der langfristigen Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Es motiviert den
arbeitswilligen Sozialhilfeempfänger, sich zu qualifizieren und Eigenverant
wortung für die persönliche Erwerbsbiographie zu übernehmen. Denn auch
geringer Qualifizierte haben sehr wohl Entwicklungsperspektiven: Nach ei
ner Langzeitauswertung des Sozio-Ökonomischen Panels schaffen rd. 35 %
der Beschäftigten im untersten und 43 % der Beschäftigten im zweitnied-
rigsten Einkommensfünftel den Aufstieg in das nächste Einkommensfünftel.

3. Der

Eingangssteuersatz

muss bereits 2002 auf 15 %

gesenkt

werden. Da-
rüber hinaus ist der Einkommenstarif insgesamt abzuf achen, um zu verhin-
dern, dass die Steuerbelastung gerade im unteren Einkommensbereich zu
schnell ansteigt. Es lebt sich in der Regel nicht komfortabel in der Sozial-
hilfe. Deshalb ist es zur Durchsetzung des Lohnabstandsgebotes notwendig,
Arbeitnehmereinkommen von Steuern und Abgaben weiter deutlich zu ent-
lasten. Gewiß, kurzfristig führt eine steuerliche Entlastung zwar zu Minder-
einnahmen auf Seiten des Staates; sie hat aber gleichzeitig zur Folge, dass
die Aufwendungen der Sozialkassen mittelfristig sinken, weil der Einzelne
eher befähigt wird, eigenständig für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Dies
gilt insbesondere für diejenigen, die bereits einer Erwerbstätigkeit nachge-
hen.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.