BT-Drucksache 14/5823

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Frak. SPD u. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -14/5074, 14/5531, 14/5786, 14/5800- Entwurf eines Sozialgesetzbuchs -Neuntes Buch- (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

Vom 5. April 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

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5823

14. Wahlperiode

05. 04. 2001

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn,
Dr. Heidi Knake-Werner, Heidemarie Lüth, Pia Maier, Rosel Neuhäuser, Christina
Schenk und der Fraktion der PDS

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 14/5074, 14/5531, 14/5786, 14/5800 –

Entwurf eines Sozialgesetzbuchs – Neuntes Buch – (SGB IX)
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

Der Bundestag wolle beschließen:

1. Das SGB IX fasst in wesentlichen T eilen das bisherige Rehabilitationsrecht
behinderter Menschen zusammen. In einigen Punkten, insbesondere im Hin-
blick auf das Rehabilitationsangleichungsgesetz von 1974, entwickelt es
diesen Rechtsbereich weiter.

Das SGB IX erhebt den Anspruch, das Benachteiligungsverbot des Grund-
gesetzes („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“)
im Bereich der Sozialpolitik umzusetzen. Diesem Anspruch wird es nur un-
zureichend gerecht, da es – von Ansätzen abgesehen – ausdrücklich kein ei-
genständiges Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen ist. Insbe-
sondere hebt es den im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verankerten
Grundsatz der Nachrangigkeit der Eingliederungshilfe für Behinderte (§§ 39
ff. BSHG) nicht auf bzw. löst ihn nicht heraus. Damit werden

– die im BSHG vorgesehenen Einkommens- und Vermögens- bzw. Bedürf-
tigkeitsprüfungen für die Betroffenen weitgehend aufrechterhalten;

– mit den Kosten der Eingliederungshilfe für Behinderte vorrangig die
Länder sowie die Städte und Gemeinden als Träger der Sozialhilfe belas-
tet.

2. Daher soll im SGB IX rechtlich verbindlich festgelegt werden, dass die
Bundesregierung bis spätestens 1. Januar 2004 ein eigenständiges Leis-
tungsgesetz für Menschen mit Behinderungen vorlegt, das folgende Grund-
linien beinhaltet:

– Die Eingliederungshilfe für Behinderte wird aus dem BSHG herausgelöst
und bei Aufhebung des Nachranggrundsatzes und Abschaffung der damit
verbundenen Einkommens- und Vermögens- bzw. Bedürftigkeitsprüfun-
gen behinderter Menschen und ihrer Angehörigen (Regelfall) in das neue
Leistungsgesetz überführt.
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– Stufenweise wird eine soziale Grundsicherung für behinderte und chro-
nisch kranke Menschen eingeführt, die durch einen pauschalierten Mehr-
betrag zum Ausgleich von Nachteilen auf Grund der jeweiligen Schädi-
gung oder Beeinträchtigung des betroffenen Menschen ergänzt wird.

– Ein einheitlicher Leistungsträger der Behindertenhilfe ersetzt das bisher
gegliederte System unterschiedlicher Rehabilitationsträger.

– Die Finanzierung der Leistungen erfolgt überwiegend aus Mitteln des
Bundes.

3. Das SGB IX wird durch ein weitgehend tradiertes Verständnis von Rehabi-
litation geprägt, das auch den im Gesetz massiv gebrauchten, aber nicht
näher definierten Begri f der Teilhabe dominiert. Dadurch werden mit dem
Begriff Teilhabe nicht konsequent Menschen- und Bür gerrechte für gesell-
schaftlich benachteiligte Menschen neu eingeführt – dies müsste vorrangig
durch ein bür gerrechtsorientiertes Gleichstellungs- und Antidiskriminie-
rungsgesetz erfolgen – sondern überwiegend Regelungen für medizinische,
berufliche und zum eil für soziale Rehabilitation getroffen.

Die mit dem SGB IX angestrebte "Förderung der Selbstbestimmung und
gleichberechtigten T eilhabe behinderter Menschen am Leben der Gesell-
schaft" erfordert im V ergleich zum vorliegenden Gesetz weiter gehende
Schritte, insbesondere

– eine modernere Fassung des Behindertenbegrif fs, der die Behinderung
vorrrangig als Einschränkung der Teilhabemöglichkeit am Leben der Ge-
sellschaft definiert, und sich an der WHO – De nition ICIDH 2 orien-
tiert,

– die konsequente Anwendung des Finalitätsprinzips, demzufolge Leistun-
gen unabhängig von Ursache und Art der jeweiligen Behinderung (Schä-
digung, Beeinträchtigung, Handicap) erfolgen und somit gleiche Leis-
tung für gleichartige Behinderung ermöglicht wird,

– die Aufhebung des in § 3a des Bundessozialhilfegesetzes festgelegten
Kostenvorbehalts von ambulanten gegenüber stationären Hilfen,

– die Gewährung vollständiger Pf egeleistungen in Einrichtungen der Be-
hindertenhilfe bei Beibehaltung des ganzheitlichen Betreuungsansatzes,

– die Einführung bzw. Ausweitung von Leistungen, die Menschen mit ent-
sprechenden Schädigungen, Beeinträchtigungen und Handicaps insbe-
sondere eine Teilnahme an der Kommunikation mit nichtbehinderten und
behinderten Menschen ermöglichen.

4. Das SGB IX enthält erste Ansätze, die in Richtung einer Überwindung des
Nachrangprinzips im Bundessozialhilfegesetz weisen. Sie führen zu Entlas-
tungen für die Angehörigen in W erkstätten für Behinderte und ihre Famili-
enangehörigen und sie begrenzen die Unterhaltspf ichtigkeit für erwachsene
behinderte Menschen, die im Haushalt der Eltern oder in Einrichtungen le-
ben, auf das 27. Lebensjahr.

5. Die im SGB IX enthaltenen Neuerungen im Recht der Rehabilitation für
Menschen mit Behinderungen eröf fnen einerseits Chancen für ein mehr
selbstbestimmtes Leben, andererseits sind sie aber halbherzig oder restriktiv
ausgeführt. Sie laufen somit Gefahr, nur ungenügend praktische Wirkung zu
entfalten. Eine weitere Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderun-
gen im Prozess der Rehabilitation erfordert insbesondere

– das neu eingeführte W unsch- und W ahlrecht eindeutiger als einen
Rechtsanspruch der Menschen mit Behinderungen auf Geldleistung aus-
zugestalten, auf einen Nachweis der W irtschaftlichkeit der Leistung
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durch den/die Leistungsberechtigten und Leistungsberechtigte zu ver -
zichten und somit die letztendliche Entscheidungsdominanz der Rehabi-
litationsträger aufzuheben,

– das neue Recht der Selbstbeschaffung von Leistungen so auszugestalten,
dass die Risiken der Kostenerstattung nicht auf den/die Leistungsberech-
tigten und Leistungsberechtigte abgewälzt werden können,

– das Recht auf Arbeitsassistenz umfassend zu gewährleisten und Möglich-
keiten zu eröf fnen, es zu einem Recht auf personale Assistenz in allen
Lebensbereichen, einschließlich im privaten Bereich, zu entwickeln,

– das Recht auf Förderung der Selbsthilfe muss über den Bereich der medi-
zinischen Rehabilitation hinaus zur Anwendung kommen und durch ähn-
lich konkrete Regelungen wie im SGB V ausgestaltet werden.

6. Das Ziel, mit dem SGB IX das Recht der Rehabilitation zusammenzufassen,
zu vereinfachen und übersichtlicher zu gestalten, wird in vielen Punkten
nicht erreicht und partiell konterkariert.

Die Regelungen zur Zuständigkeitserklärung und die Einrichtung gemeinsa-
mer Service- und Beratungsstellen sind dann positiv zu bewerten, wenn sie
für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen tatsächlich zu einer
Vereinfachung und Beschleunigung der V erfahren zur Beantragung von
Leistungen führen, eine schnellere und kompetente Gewährung der Leistun-
gen ermöglichen und somit oft zu verzeichnende Notsituationen vermeiden
helfen, die durch mangelnde T ransparenz und Kompetenzgerangel der Re-
habilitationsträger verursacht werden. Daher ist dringend Klärung geboten,
wie diese neuen Mechanismen praktisch funktionieren sollen. Ansonsten
besteht die Gefahr, dass ein wichtiger Teil des SGB IX ähnlich wirkungslos
bleibt, wie dies beim Reha-Angleichungsgesetz von 1974 der Fall war . Der
Ansatz, vorhandene Strukturen optimal zu vernetzen und für die Betroffenen
die einfachsten Zugangswege zur Leistung zu sichern, darf nicht zu einer
zusätzlichen Bürokratisierung führen und neue Schnittstellenprobleme auf-
werfen.

Für die Rechtssicherheit aller Beteiligten im Rehabilitationsprozess ist es
unabdingbar, die Fragen der Schnittstellen zu anderen Sozialversiche-
rungsystemen, insbesondere zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur
Pflegeversicherung, im SGB IX eindeutiger zu klären

7. Die Finanzierungsgrundlagen des SGB IX sind in weiten T eilen unklar. Sie
bedürfen im Interesse der Menschen mit Behinderungen, aber auch der ein-
bezogenen Rehabilitationsträger einer dringenden Präzisierung und Unter-
setzung.

Obwohl das SGB IX kein umfassendes Leistungsgesetz für Menschen mit
Behinderungen darstellt, enthält es eine Reihe leistungsrechtlicher Regelun-
gen, die zwar nicht den Bundeshaushalt belasten und insofern als kostenneu-
tral angesehen werden können. Sie führen aber zu nicht vollständig quantif -
zierbaren finanziellen Belastungen der Länder sowie der Städte un
Gemeinden als T räger der Sozialhilfe. Durch eine Beibehaltung des Nach-
rangprinzips bei der Eingliederungshilfe sowie durch schwerlich nachvoll-
ziehbare „Einsparungen an anderer Stelle“ sollen diese Belastungen ausge-
glichen werden.

Für leistungsrechtlich bedingte Mehraufwendungen in der gesetzlichen
Krankenversicherung ist im SGB IX ebenfalls keine nachvollziehbare Kom-
pensation sichtbar.

Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass in der Praxis

– Leistungen, für die kein eindeutiger Rechtsanspruch besteht, restriktiv
gewährt werden,
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– das Nachrangprinzip im Bundessozialhilfegesetz noch nachdrücklicher
durchgesetzt wird,

– rechtliche Auseinandersetzungen über die Gewährung von Leistungen
bzw. ihren Umfang zunehmen.

Da die Bundesregierung nicht beabsichtigt, noch in dieser Legislaturperiode
ein Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen vorzulegen, wird sie
aufgefordert, zur Sicherstellung der im SGB IX vor gesehenen leistungs-
rechtlichen Regelungen Maßnahmen zu treffen, die einen Ausgleich der zu-
sätzlichen finanziellen Aufwendungen an die im Gesetz festgelegten räger
der Rehabilitation ermöglichen.

Berlin, den 5. April 2001

Dr. Ilja Seifert
Monika Balt
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Heidi Knake-Werner
Heidemarie Lüth
Pia Maier
Rosel Neuhäuser
Christina Schenk
Roland Claus und Fraktion

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