BT-Drucksache 14/5579

Beschäftigung älterer Arbeitnehmer fördern und Einstellungshindernisse abbauen

Vom 14. März 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5579
14. Wahlperiode 14. 03. 2001

Antrag
der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb,
Ina Albowitz, Hildebrecht Braun (Augsburg), Ernst Burgbacher, Jörg van Essen,
Ulrike Flach, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann,
Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, Ulrich Heinrich,
Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Ulrich Irmer, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin,
Ina Lenke, Günther Friedrich Nolting, Detlef Parr, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig,
Gerhard Schüßler, Dr. Hermann Otto Solms, Jürgen Türk, Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der F.D.P.

Beschäftigung älterer Arbeitnehmer fördern und Einstellungshindernisse
abbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In Deutschland betrug die Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen, d. h.
der Anteil der Erwerbstätigen an der gesamten Bevölkerung der Altersgruppe,
im Jahr 1999 lediglich 39 Prozent. Demgegenüber lag die Erwerbsbeteiligung
Älterer in beschäftigungspolitisch erfolgreicheren Ländern wesentlich höher als
in Deutschland – etwa in der Schweiz bei 72 Prozent, in Norwegen bei 67 Pro-
zent und in den USA bei 58 Prozent. Eine geringe Erwerbsbeteiligung Älterer
ist ein warnender Indikator für die strukturelle Schwäche des deutschen Ar-
beitsmarktes. Gleichzeitig ist die Arbeitslosenquote in Ländern mit einer hohen
Erwerbsquote deutlich niedriger als in Deutschland. So betrug die Arbeitslo-
senquote im Jahr 1999 in der Schweiz 3,1 Prozent, in Norwegen 3,3 Prozent
und in den USA 4,2 Prozent, während sich die Quote in Deutschland auf
8,7 Prozent belief (jeweils OECD-Standard).

Statt breit angelegter Frühverrentungsmöglichkeiten mit ihrer faktischen Sub-
ventionierung, statt weiterer Verschärfung des bereits vorhandenen tarifvertrag-
lichen und arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes, statt unmittelbarer staatlicher
Regulierung oder mittelbarer Steuerung der betrieblichen Weiterbildung durch
Subventionierung müssen die eigentlichen Ursachen dieser Entwicklung ange-
gangen werden. Denn die Herausforderungen der Zukunft müssen deutsche
Unternehmen zunehmend auch mit älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern bewältigen. Leitbild muss dabei sein, gerade die individuelle Ent-
scheidung jener leistungsfähigen älteren Menschen zu ermöglichen und zu
fördern, die ihr Wissen, ihre Erfahrung und soziale Kompetenz auch weiterhin
dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen möchten.

Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf:

E r s t e n s müssen gut gemeinte Schutzvorschriften neu justiert werden, wenn
und weil sie sich für den Abschluss von Arbeitsverträgen und damit für die Ein-

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stellung gerade älterer Arbeitnehmer nachteilig auswirken. Denn im Arbeits-
und Sozialrecht, verstärkt durch die Tarifpolitik gilt: Je älter Arbeitnehmer sind,
desto teurer und desto besser geschützt sind sie. So hat sich etwa das Kündi-
gungsschutzrecht zunehmend zu einer Einstiegshürde für Ältere entwickelt.
Viele dieser auch tarifvertraglichen Regelungen – etwa verlängerte Kündi-
gungsfristen oder Zustimmungsbedürfnisse – greifen in der Regel ab dem
50. bis 55. Lebensjahr und nach 10 bis 15 Jahren Betriebszugehörigkeit. Hier
muss darüber nachgedacht werden, den Kündigungsschutz durch ein Abfin-
dungsmodell rationaler auszugestalten und die Kleinbetriebsregelung wieder
auf 10 Beschäftigte heraufzusetzen.

Z w e i t e n s sind befristete Arbeitsverträge bereits ab einem Alter von 50 Jah-
ren ohne Sachgrund zu ermöglichen. Die heutige, von der jetzigen Bundesre-
gierung von 60 auf 58 Jahre abgesenkte Altersgrenze, ab der diese Regelung
greift, ist für nennenswerte arbeitsmarktpolitische Effekte immer noch zu hoch.
Dieses Instrument war bei 50 Prozent der befristet Beschäftigten eine Brücke
von der Arbeitslosigkeit in ein reguläres Arbeitsverhältnis.

D r i t t e n s müssen die Instrumente des Arbeitsförderungsrechts überdacht
werden. So hat ein Arbeitsloser, der älter als 45 Jahre ist, bei entsprechender
Dauer der versicherungspflichtigen Berufstätigkeit einen 14-monatigen
Anspruch auf Arbeitslosengeld, also auf 60 bis 67 Prozent des pauschalierten
Nettoentgelts. Dieser Anspruch erhöht sich progressiv bis auf 32 Monate für
einen 57-Jährigen. Daran schließt sich die ebenfalls am vorherigen Einkommen
orientierte Arbeitslosenhilfe an. Schließlich werden gerade bei älteren Erwerbs-
personen die Kriterien der Berechtigung gelockert: So ist die Möglichkeit des
Arbeitslosengeldbezugs für mindestens 58-Jährige unter erleichterten Voraus-
setzungen – Einschränkung der subjektiven Verfügbarkeit – ein klassisches
Hilfsmittel für Frühverrentung. Diese Ausgestaltung der Arbeitslosenversiche-
rung behindert eine angemessene Reaktion auf den Strukturwandel.

Hier muss die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zurückgeführt werden, zum
Beispiel auf einheitlich 12 Monate (Rechtstand 1985); die beschriebene
58er-Regelung, nach der Arbeitslose ab diesem Alter nicht mehr dem Arbeits-
markt zur Verfügung stehen müssen, ohne den Verlust der vom Arbeitsamt
bezogenen Leistungen befürchten zu müssen, muss überprüft werden; präven-
tiv muss der Arbeitnehmer verpflichtet werden, sobald ihm eine bevorstehende
Beendigung seines Arbeitsverhältnisses bekannt wird, sich arbeitssuchend zu
melden; auch der Einsatz von Förderinstrumenten, die auf Eingliederung in den
ersten Arbeitsmarkt zielen – insbesondere Eingliederungszuschuss – muss
bereits unmittelbar nach Eintritt der Arbeitslosigkeit möglich sein.

V i e r t e n s muss die Lebensarbeitszeit in Deutschland besser ausgeschöpft
werden. Denn das durchschnittliche Renteneintrittsalter liegt in Deutschland
heute bei knapp 60 Jahren. Das bedeutet nach Expertenberechnungen, dass we-
niger als ein Drittel aller Arbeitnehmer bis zur Regelaltersgrenze von 65 Jahren
arbeitet, in den neuen Bundesländern sind es weniger als ein Viertel. Die un-
heilvolle Allianz von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Arbeitsämtern, die
letztlich vom Steuerzahler mitfinanziert wird, muss korrigiert werden. Ent-
scheidend ist für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit zunächst, die Ausbil-
dungszeiten in Schule und Hochschule zu verkürzen und zu differenzieren.
Hier gilt aber auch, das tatsächliche Rentenzugangsalter mittelfristig anzuhe-
ben, die Anreize für eine Frühverrentung weiter zu reduzieren sowie den indivi-
duellen Wünschen Rechnung zu tragen, die Rentnerphase freiwillig in Über-
einstimmung mit dem Arbeitgeber hinauszuschieben. So könnte etwa die
Regelaltersgrenze von der individuellen Berufsbiographie abhängig gemacht
werden, so dass ein Berufstätiger, der seit seinem 16. Lebensjahr gearbeitet hat,
früher in Rente gehen kann als jemand, der erst mit 30 Jahren in den Erwerbs-
prozess einsteigt.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/5579

F ü n f t e n s sind schließlich auch die Tarifpartner und Unternehmen aufgefor-
dert, tarifvertragliche Normen zu überdenken. So sind etwa tarifvertragliche
Senioritätsprivilegien geeignet, die Beschäftigung und Einstellung älterer Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erschweren, statt sie neu zu beschäfti-
gen und zu reintegrieren. Denn wenn Verdienstniveau und individuelle Produk-
tivitätsentwicklung nicht mehr im Einklang stehen, steigt der Druck in den
Betrieben, ältere Beschäftigte über Modelle eines vorzeitigen Ausscheidens in
das Sozialsystem zu entlassen. Daher bleiben die Unternehmen aufgefordert,
Lebensalter und Einkommen stärker zu entkoppeln. Altersabhängige und nach
Betriebszugehörigkeit gestaffelte Einkommenszuwächse sind zurückzuführen
und verstärkt erfolgs- und leistungsorientierte Verdienstkomponenten einzu-
führen.

Auch bei der tarifvertraglichen Arbeitszeit gilt für die Unternehmen: Hier sind
stärker Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten sowie Differenzierungen des in-
dividuellen Arbeitszeitvolumens, etwa nach dem Lebensalter, einzuführen,
denn die Beschäftigten haben je nach Lebensalter häufig sehr unterschiedliche
Wünsche hinsichtlich der Dauer ihrer Arbeitszeit. Im Rahmen flexibler tarif-
vertraglicher Regelarbeitszeiten und Arbeitszeitkorridore können dann etwa
mit jüngeren Mitarbeitern längere und mit älteren Mitarbeitern kürzere Arbeits-
zeiten vereinbart werden.

Schließlich muss die betriebliche Weiter- und Fortbildung stärker auf ältere Ar-
beitnehmer ausgerichtet werden. Die Unternehmen müssten künftig verstärkt
auch in die Weiterbildung von über 50-Jährigen investieren und diese mit ihren
Fähigkeiten bei der Personalentwicklung angemessen berücksichtigen. Um zu-
sätzliche Anreize zu der Qualifizierung in kleinen und mittleren Unternehmen
zu schaffen, haben etwa die Bundesländer die Möglichkeit, im Rahmen des
neuen Ziel 3 des Europäischen Sozialfonds (Förderperiode 2000 bis 2006) auch
förderfähige Projekte finanziell zu unterstützen, die auf die Qualifizierungsbe-
dürfnisse älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingehen – allerdings
unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips.

Berlin, den 13. März 2001

Dirk Niebel
Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Heinrich L. Kolb
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt

Ulrich Heinrich,
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Günther Friedrich Nolting
Detlef Parr
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Hermann Otto Solms
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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