BT-Drucksache 14/5578

Informationstechnologie in den Mittelpunkt der Entwicklungszusammenarbeit stellen

Vom 14. März 2001


Deutscher Bundestag Drucksache 14/5578
14. Wahlperiode 14. 03. 2001

Antrag
der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Günther (Plauen),
Ina Albowitz, Hildebrecht Braun (Augsburg), Ernst Burgbacher, Jörg van Essen,
Ulrike Flach, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger,
Dr. Werner Hoyer, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Dirk Niebel, Günther Friedrich
Nolting, Detlef Parr, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Gerhard Schüßler, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Jürgen Türk, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der F.D.P.

Informationstechnologie in den Mittelpunkt der Entwicklungszusammenarbeit
stellen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) entwickelt sich mit
zunehmender Geschwindigkeit. Parallel zu einer enormen Steigerung von Da-
tenverarbeitungs- und Datenübertragungszahlen sind die Preise für derartige
Dienstleistungen auch in Folge von Deregulierung und Liberalisierung der
Märkte massiv gesunken. Dadurch ist es möglich, weltweit Daten, Informatio-
nen und Wissen in einem nie gekannten Ausmaß zu verbreiten und eine Viel-
zahl neuer und verbesserter Anwendungen anzubieten. Informationen werden
durch die schnelle und kostengünstige Verbreitung über das Internet von ihrem
Träger unabhängig und damit potentiell beliebig verfügbar und zugänglich für
jedermann. Das erhebliche entwicklungspolitische Potential der neuen Techno-
logien ist bislang jedoch weitgehend ungenutzt geblieben.

Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Von den weltweit 5 % Internetnut-
zern stammen 88 % aus Industriestaaten. Die USA und Kanada allein stellen
57 % der Internetnutzer, wohingegen sich nur 1 % der Internetnutzer in Afrika
und im Nahen Osten befinden. In den Staaten der Europäischen Union und in
den USA mit zusammen ca. 600 Millionen Einwohnern hat jeder zweite Bürger
Zugang zu einem Telefon. Dagegen sind in Afrika lediglich 14 Millionen Tele-
fonanschlüsse für insgesamt 750 Millionen Einwohner vorhanden. Dieses als
„digitaler Graben“, „digitale Trennung“ oder auch „digital divide“ bezeichnete
Gefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern verhindert eine Teilhabe
der so genannten Dritten Welt an den Errungenschaften der technologischen
Revolution und damit auch am Wohlstandsgewinn der Globalisierung. Durch
die drohende Abkoppelung der Entwicklungsländer vom Aufbau einer globalen
Informationsgesellschaft läuft der „digitale Graben“ überdies Gefahr, sich zu
einem „interkulturellen Graben“ zu vertiefen.

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Die potentiellen Anwendungsbereiche von IKT in der Entwicklungspolitik sind
vielfältig.

 Beim Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen können Marktinformations-
systeme und Kommunikationsnetze die Wettbewerbsfähigkeit von Handel
und Produzenten verbessern. Kleine und mittlere Betriebe können ihre In-
formationsbasis erweitern und neue Märkte erschließen. Im Agrarsektor ver-
mittelt IKT den Landwirten Informationen über Beschaffungs- und Absatz-
märkte und Preise, wodurch ihre Abhängigkeit von Zwischenhändlern
erheblich reduziert wird. Deren marktbeherrschende Stellung führt in vielen
Entwicklungsländern zu gravierenden Marktverzerrungen.

 Im Bildungssektor ist IKT von erheblicher Bedeutung. Studenten in Ent-
wicklungsländern werden in die Lage versetzt, via Internet an in entlegenen
Hauptstädten oder im Ausland angebotenen Fernstudiengängen teilzuneh-
men. Durch einen verbesserten Zugang zu Datenbanken profitieren For-
schung und Wissenschaft in den betroffenen Ländern. Der chronische Man-
gel an Lehrmitteln und Fachliteratur in vielen Entwicklungsländern kann
mittels einer Bildungsoffensive via Internet erheblich reduziert werden. Ein
erfolgreiches Pilotmodell hierfür ist die African Virtual University in
Nairobi, die innerhalb von zwei Jahren 25 000 Studenten aus 15 afrikani-
schen Ländern in ihre Bildungsprogramme zur Überwindung räumlicher
Distanzen zwischen Lehrendem und Lernendem einbinden konnte.

 Der Einsatz von IKT in Entwicklungsländern kann auch einen Beitrag zur
Verbesserung des Universitätsstandortes Deutschland leisten. IKT ermög-
licht es dem ausländischen Studenten, sich über deutsche Hochschulen zu
informieren, zu deutschen Hochschulen per E-Mail Kontakt aufzunehmen
und sich einzuschreiben. Durch die Teilnahme an Projekten wie der so ge-
nannten virtuellen Hochschule könnte der ausländische Studierende sogar
vollständig via Internet in Deutschland ausgebildet werden.

 Im Bereich des Gesundheitswesens könnte IKT maßgeblich dazu beitragen,
die meist knappen finanziellen und personellen Ressourcen besser einzuset-
zen und somit einen höheren Versorgungsgrad der Bevölkerung zu errei-
chen. Besonders im Kampf gegen die Aids-Epidemie, aber auch in der allge-
meinen medizinischen Betreuung ist die internetgestützte Kommunikation
von unschätzbarem Wert für Vorbeugung, Aufklärung und Therapie.

 Durch den Ausbau der IKT-Infrastruktur wird ferner ein wesentlicher Bei-
trag zum Aufbau und zur Festigung rechtsstaatlicher Institutionen geleistet.
Informationsmonopole werden gebrochen, oppositionelle Gruppierungen
können sich ungehindert artikulieren, politische Meinungsbildungsprozesse
werden gefördert. Durch IKT können Durchführung und Überwachung von
Wahlen in Entwicklungsländern erheblich verbessert werden. Durch diesen
Demokratisierungseffekt kann IKT also auch maßgeblich zur politischen
Stabilisierung von Krisenregionen beitragen.

 Die durch das Internet hergestellte Transparenz führt ferner zu einer nach-
haltigen Verbesserung der Menschenrechtslage. Menschenrechtsaktivisten
können sich intern und mit ausländischen Partnern vernetzen, Verstöße ge-
gen die Menschenrechte werden publik, Menschenrechtsverletzer können
leichter überführt und zur Verantwortung gezogen werden.

 Auch im Katastrophenschutz und in der humanitären Hilfe sollte IKT ver-
stärkt zum Einsatz kommen. In entlegenen Regionen können Menschen
rechtzeitig vor Naturkatastrophen wie Erdbeben, Wirbelstürmen oder Über-
schwemmungen gewarnt, vorbeugende Maßnahmen eingeleitet und Hilfsak-
tionen besser koordiniert werden.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/5578

 Für die öffentliche Verwaltung bedeutet die Einführung von IKT ebenfalls
einen großen Fortschritt. Wenngleich der Gedanke an eine virtuelle Verwal-
tung in Entwicklungsländern noch in weiter Ferner liegen mag, so kann
doch ein gezielter, pragmatischer Einsatz ausgewählter IKT-Komponenten
zu einer erheblichen Verbesserung der Verwaltungsabläufe führen. Der
Einsatz von IKT sorgt nicht nur für eine Beschleunigung von Verwaltungs-
prozessen, er bietet auch einen erhöhten Grad an Transparenz.

Die deutsche Entwickungspolitik hat der Bedeutung von IKT bislang weder
konzeptionell noch in der Projektarbeit hinreichend Rechnung getragen. Die
Bundesregierung ließ ihren Ankündigungen anlässlich der G8-Initiative im Juli
2000 in Okinawa bisher auf diesem Feld kaum Taten folgen. Mit Ausnahme
eines kleinen IKT-Pilotprojektes i. H. v. 250 000 DM sind keine konkreten Vor-
haben in der praktischen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit erkennbar.
Es ist daher dringend erforderlich, der IKT in der Konzeption und Durchfüh-
rung deutscher Entwicklungspolitik den ihr gebührenden zentralen Stellenwert
einzuräumen.

Dabei sollte die entwicklungspolitische Förderung von IKT sinnvollerweise ein
dreistufiges Modell verfolgen:

– Erstens müssen politische und ökonomische Rahmenbedingungen für die
Verbreitung von IKT geschaffen werden. Der Aufbau eines IKT-Netzes darf
nicht durch restriktive politische Maßnahmen wie z. B. Handelsbeschrän-
kungen, Beschränkungen ausländischer Direktinvestitionen oder Technolo-
gieimporte und/oder IKT-verteuernde Steuern bzw. Abgaben auf Hardware
oder Software bereits im Keim erstickt werden. Hier besteht Handlungsbe-
darf auch im Hinblick auf die bevorstehenden weiteren Welthandelsrunden.

– Zweitens muss die praktische Entwicklungspolitik im Rahmen der techni-
schen und finanziellen Zusammenarbeit vorrangig an dem Aufbau der Infra-
struktur für die IKT in Entwickungsländern mitwirken. Dabei sollte der
Errichtung von so genannten Internet-Kiosken oder Telezentren in abgelege-
nen Regionen Vorrang gegeben werden, um den oft vorhandenen inländi-
schen „digitalen Graben“ zwischen ländlichen Regionen und urbanen Zen-
tren zu überwinden. Hierbei ist darauf zu achten, dass insbesondere für den
Zugang zum Internet eine hinreichend leistungsstarke und störungsarme An-
bindung an die weltweiten Netze erforderlich ist. Gegebenenfalls sollte ein
„leap-frogging“, das Überspringen einer oder mehrerer Technologiegenera-
tionen mit dem Ziel, die jeweils neueste Technologie zu installieren,
erfolgen.

– Drittens ist eine Bildungs- bzw. Ausbildungsoffensive erforderlich. Die Be-
völkerung muss behutsam an den Umgang mit IKT herangeführt werden.
Sie darf mit den neuen Technologien nicht überfordert werden. Eine traditio-
nell landwirtschaftlich geprägte Region wird sich nicht von einem Tag auf
den anderen in eine hochtechnologisierte Dienstleistungsgesellschaft ver-
wandeln. Einem eventuellen Entfremdungseffekt oder einer generellen
Skepsis seitens der Bevölkerung gegenüber dem neuen Medium Internet
kann dadurch vorgebeugt werden, dass verstärkt lokale Angebote und tradi-
tionelle Strukturen im Netz präsentiert werden.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Ausbau der Informations- und Kommunikationstechnologie in Entwick-
lungsländern zu einem Schwerpunkt der bilateralen finanziellen und techni-
schen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zu machen,

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2. in diesem Zusammenhang auch die Bemühungen der auf diesem Feld wir-
kenden Nichtregierungsorganisationen (NRO) um bessere Koordinierung,
gegebenenfalls mit Hilfe einer neu zu gründenden, sich ausschließlich mit
der IKT-Problematik in Entwicklungsländern beschäftigenden Organisa-
tion zu unterstützen,

3. ebenfalls gegenüber der EU-Kommission dafür einzutreten, IKT-Projekte
in den Mittelpunkt der zukünftigen Arbeit der Durchführungsorganisation
für die europäische Entwicklungshilfe „Europe Aid“ zu stellen. In diesem
Zusammenhang darauf zu drängen, die „eDevelopment-Initiative“ der
Kommission so bald wie möglich zu implementieren,

4. überdies im Rahmen einer globalen IKT-Strategie gemäß der im Juli 2000
in Okinawa beschlossenen G8-Charta über die globale Informationsgesell-
schaft verstärkt mit den internationalen Partnern, insbesondere mit den ent-
wicklungspolitischen Durchführungsorganisationen der Vereinten Natio-
nen, eng zu kooperieren,

5. im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit gezielt Maßnah-
men zum Aufbau von IKT-Infrastruktur mit dem Ziel zu fördern, universel-
len und freien Zugang zu IKT zu gewährleisten. Hierbei sollte insbeson-
dere der Errichtung von Telezentren und so genannten Internetkiosken in
öffentlichen Einrichtungen wie Postdienststellen Vorrang gegeben werden,

6. parallel hierzu im Rahmen der bi- und multilateralen entwicklungspoliti-
schen Zusammenarbeit an der Schaffung von institutionellen, politischen,
rechtlichen und ökonomischen Voraussetzungen für einen funktionieren-
den Telekommunikationsmarkt in den Entwicklungsländern mitzuwirken,

7. dabei die spezifischen kulturellen, historischen und gesellschaftspoliti-
schen Gegebenheiten der Partnerländer zu berücksichtigen und in die Pla-
nung mit einzubeziehen,

8. in Abstimmung mit den Partnerländern sicherzustellen, dass Telekommuni-
kationsunternehmen der freie Marktzutritt gewährleistet wird und die Rah-
menbedingungen für ausländische Direktinvestitionen in die neu entstehen-
den Telekommunikationsmärkte attraktiv gestaltet werden,

9. bestehende marktwirtschaftliche Strukturen in den Partnerländern, insbe-
sondere im Hinblick auf den Ausbau des Telekommunikationssektors, ge-
zielt zu fördern,

10. die Möglichkeiten des „leap-frogging“ – soweit vorhanden – zu nutzen, um
einen kompatiblen Technologiestandard regionenübergreifend sicherzu-
stellen,

11. IKT-Projekte verstärkt im Rahmen so genannter Public Private Partner-
ships durchzuführen. Denkbar wäre eine der von Unternehmen gesponser-
ten „Schulen ans Netz“-Initiative in Deutschland vergleichbare Aktion in
ausgewählten Entwicklungsländern. Die Definierung geeigneter PPP-Pro-
jekte sollte in enger Abstimmung mit lokalen NRO und der lokalen Ver-
waltung durchgeführt werden,

12. auch bei der Durchführung von IKT-Projekten dem Prinzip „Hilfe zur
Selbsthilfe“ mit dem langfristigen Ziel der Etablierung eines eigenständi-
gen, nationalen Informations- und Telekommunikationsmarktes Geltung zu
verschaffen. Dabei sollte ein Schwerpunkt auf die Entwicklung von Soft-
ware in der jeweiligen Landessprache gelegt werden,

13. flankierend zum Ausbau der IKT-Infrastrukur eine entwicklungspolitische
Ausbildungsoffensive im Bereich IKT zu initiieren, damit mittel- bis lang-
fristig ein hinreichendes qualifiziertes Arbeitskräftepotential für die loka-

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/5578

len IKT-Märkte entsteht. Lokale Unternehmen sollten – soweit vorhan-
den – vorrangig in diese Ausbildungsoffensive eingebunden werden,

14. mittels des IKT-Ausbaus einen Beitrag zur effizienteren und damit attrakti-
veren Gestaltung der lokalen Schulsysteme zu leisten sowie IKT auch ge-
zielt in die universitäre Ausbildung einzuführen,

15. gegenüber den Partnerländern darauf hinzuwirken, Pilotprojekte, heraus-
ragende Geschäftsideen und Unternehmensgründungen im IKT-Bereich
gezielt zu fördern, um den dadurch entstandenen Zugewinn an IKT-Kom-
petenz neuen Marktteilnehmern zugänglich zu machen,

16. bei der Darstellung von IKT-Inhalten in Zusammenarbeit mit lokalen NRO
auf die Übermittlung von Informationen in den jeweiligen Landessprachen
voranzutreiben, um eine Benachteiligung nichtenglischsprachiger Bevöl-
kerungsgruppen zu vermeiden und die allgemeine Akzeptanz der IKT in
Entwicklungsländern zu erhöhen.

Berlin, den 13. März 2001

Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Irmer
Joachim Günther (Plauen)
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun (Augsburg)
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Detlef Parr
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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