BT-Drucksache 14/5489

Versorgung von Wachkoma-Patienten im häuslichen Bereich, in ambulanten und stationären Einrichtungen

Vom 7. März 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

14/

5489

14. Wahlperiode

07. 03. 2001

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Ruth Fuchs, Monika Balt
und der Fraktion der PDS

Versorgung von Wachkoma-Patienten im häuslichen Bereich, in ambulanten
und stationären Einrichtungen

Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist in Deutschland in Artikel 1 des
Grundgesetzes (GG) festgeschrieben und gilt für alle Menschen, auch für die-
jenigen, die die Risiken und Folgen von Behinderung oder schwerer Krank-
heit tragen. An diese personale Identität des Menschen sind alle Grundrechte
der Verfassung, auch die Gleichberechtigung der Menschen mit Behinderung
(Artikel 3 GG), geknüpft. Ein solcher Anspruch beinhaltet besonders auch für
Menschen mit schweren und komplexen Behinderungen das Recht auf ein
Leben in Selbstbestimmung und Würde, d. h. auf lebenserhaltende Maßnah-
men, Lebensqualität und auf Unterstützung und Förderung bei der Entwicklung
bzw. Wiedergewinnung ihrer personalen Identität.

Das Sozialstaatsgebot in Artikel 20 GG bedeutet in diesem Zusammenhang die
Verpflichtung zur Scha fung gesellschaftlicher Strukturen, die für diese Betrof-
fenen eine praktische Realisierung ihrer persönlichen Ansprüche auf Hilfe,
Schutz und Nichtbenachteiligung ermöglichen. Für die relativ kleine Gruppe
von Menschen mit schwersten neurologischen Behinderungen in und nach dem
Wachkoma ist dieses Sozialstaatsgebot in Deutschland aus der Sicht von vielen
Angehörigen, Pflegenden und Behindertenverbänden noch nicht erfüllt.

Menschen im Wachkoma sind in hohem Maße und längerfristig pfegebedürftig
und gleichzeitig von Therapie und Assistenz abhängig: Mit ihren berechtigten
Ansprüchen geraten diese Menschen zwischen die verschiedenartig oder unzu-
reichend geregelten Zuständigkeiten der Leistungsträger (Krankenversicherung/
SGB V, Pflegeversicherung/SGB XI, Eingliederungshilfe/BSHG und künftig
bei Rehabilitation/SGB IX). Nach der Akut- und Intensivbehandlung stehen für
diese Menschen kaum geeignete Einrichtungen für die weitere langfristige Ver-
sorgung zur Verfügung. Auch bei ihrer Rückkehr in die Familien fehlen ambu-
lante Versorgungsmöglichkeiten.

Diese schwerstgeschädigten Menschen bedürfen eines großen zeitlichen und be-
treuerischen Aufwandes. Mit dem Argument, dass weitere Therapieerfolge nicht
zu erzielen seien, werden sie oft auf die Pf ege verwiesen. Dabei sind häuf g
Kostengesichtspunkte ausschlaggebend. Angehörige werden mit der Betreuung
und Pflege häufig allein gelassen und geraten mit dieser schweren Aufgabe o
an ihre physischen, psychischen und f nanziellen Belastungsgrenzen.

Die Zuständigkeiten bei der akut- und intensivmedizinischen, pf egerischen
und rehabilitativen V ersorgung (einschließlich Über gangsbereiche) sind für
diese schwerstbehinderten Menschen nicht ausreichend geregelt: Sie sind auf
das außergewöhnliche Engagement anderer angewiesen, um menschenwürdig
Drucksache

14/

5489

– 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

leben zu können. Sie benötigen kompetente Fürsprache zur Verdeutlichung der
unzureichenden Versorgungssituation sowie zur Sicherung und V erbesserung
ihrer Rechtsposition.

In der „Kasseler Erklärung von 1999“ (Resolution der Deutschen V ereinigung
für die Rehabilitation Behinderter e.V ., Heidelber g) werden deshalb entspre-
chende Forderungen artikuliert, wie:

1. Die sozialethische Diskussion mit Gesetzgeber und Leistungsträgern über
eine angemessene Regelung der V ersorgung von W achkomapatienten und
Patienten mit neurologischem Rehabilitationsbedarf nach einer (T eil-)Re-
mission des „apallischen Durchgangssyndroms“ muss intensiviert werden.

2. Versorgungsstandards unter fachlichen und ethischen Gesichtspunkten als
Grundlage für Leistungsvereinbarungen mit den T rägern müssen definier
werden (ersatzweise sollen die beteiligten Rehaträger gesetzlich zur anteili-
gen Kostenübernahme verpf ichtet werden).

3. Ein bedarfsgerechtes V ersorgungsnetz aus stationären Einrichtungen und
ambulanten (inkl. häuslichen) Diensten, die je nach der Entwicklung des
Patienten wechselseitig zueinander offen sind, muss geschaffen werden.

Das W achkoma („Apallisches Syndrom“ oder „apallisches Durchgangssyn-
drom) – nach Redecker und Sonntag (1995) sollen bundesweit zwischen 10 000
und 12 000 Menschen im W achkoma in Pflegeheimen oder in häuslich
familiärer Umgebung leben – wird medizinisch (defektologisch) oft als Störung
bzw. Trennung der wichtigen Verbindung von Hirnmantel (Pallium, Neokortex)
und Hirnstamm beschrieben. Daran orientieren sich zumeist medizinische und
therapeutische Maßnahmen und die damit verbundenen medizinischen bzw .
Pflegeleistungen der Kassen.

In der Fachliteratur und von betreuenden Einrichtungen wird andererseits aber
auf die W irksamkeit der psychologisch-menschlichen Komponente für den
„Rehabilitationsprozess“ hingewiesen. Hervor gehoben wird, dass die V ersor-
gung, Betreuung, Pflege der „ achkoma-Patienten“ verschiedene, zeitlich
nicht immer klar bestimmbare Zeiträume durchläuft. Die V ersorgung, Umsor-
gung und Rehabilitation vollziehen sich derzeit in verschiedenen Phasen. Das
reicht von der „Akutversorgung“ (Phase A) über die „Rehabilitation“ (Phase B)
bis zur „aktivierenden Behandlungspf ege“ (Phase F).

Unter diesem Aspekt spezialisierten sich innerhalb der letzten Jahre ausge-
wählte Pflegeeinrichtungen über eine ereinbarung mit den Pflegekassen au
die Versorgung von Schwerst-Schädel-Hirn-Geschädigten. Im Vergleich zu an-
deren Pflegeeinrichtungen ist dabei mit erheblichen Mehrkosten zu rechnen
die aus einem erhöhten medizinischen und bauseitigen Mehraufwand sowie
Pflege- und Betreuungsbedarf resultieren. Die Kosten werden entsprechend de
gesetzlichen Regelungen von Pf egekassen, Krankenkassen, Rentenversiche-
rungsträgern, anderen zuständigen Sozialleistungsträgern, Heimbewohnern
bzw. ihren Angehörigen und Trägern der Sozialhilfe getragen.

Dabei zeigt sich, dass sowohl die Pf egeeinrichtungen als auch Angehörige der
Patienten mit hohen finanziellen Belastungen konfrontiert sind.

Pflegeeinrichtungen beklagen Schwierigkeiten bei den Kostenverhandlunge
mit den Krankenkassen. Auf der einen Seite muss die Pf ege von Wachkoma-
patienten durch examiniertes Fachpersonal vorgenommen werden, zusätzlicher
Versorgungsbedarf besteht außerdem im Bereich der Physio- und Ergotherapie,
für Medikamente und Hilfsmittel. Erschwerend kommt hinzu, dass die Einrich-
tungen in der Regel in Vorleistung gehen müssen, solange noch kein Bescheid
zur Pflegestufe oder auf Erteilung von Hilfsmitteln von der Krankenkasse vor
liegt.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 –

Drucksache

14/

5489

Auf der anderen Seite geraten immer häuf ger Angehörige der Patienten durch
immens hohe Zuzahlungsverpf ichtungen in finanzielle Not, besonders dann
wenn die Patienten noch relativ jung sind und minderjährige Kinder zur Fami-
lie gehören. Offenbar ist davon auszugehen, dass die Anzahl solcher Fälle wei-
ter ansteigt.

Aber nicht nur die V orleistungspflicht belastet die Einrichtungen. Immer stä -
ker gerät der Medizinische Dienst (MDK) der Krankenkassen in die Kritik,
weil dessen Gutachter direkt in die Diagnose und Therapie des verordnenden
Arztes eingreifen, Kostenvoranschläge und technische Komponenten der Hilfs-
mittel begutachten und deren medizinische Notwendigkeit ablehnen.

So wurden z. B. Fälle aus dem Freistaat Sachsen bekannt, dass Kuraufenthalte
ohne Begutachtung abgelehnt werden, statt der V erordnung einer T racheal-
kanüle durch den MDK die Sondennahrung mit der Begründung gestrichen
wird, flüssige Nahrung könne gleichwertig über das Schwerkraftsystem zuge
führt werden oder von der Ersatzkasse ein Fernalarm für ein Beatmungsgerät
nicht bewilligt wird.

Durch solche rechtlich bedenklichen und bis hin zu Leistungsverweigerungen
reichenden Eingriffe entstehen – neben der unzumutbaren psychischen Belas-
tung für die Angehörigen und der fachlichen Degradierung von medizinischem
Fachpersonal in den Einrichtungen – weitere Kosten sowohl für Einrichtungen
als auch für die Versicherten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch ist derzeit die Anzahl der Menschen, aufgeschlüsselt nach Bundes-
ländern, bei denen ein apallisches Syndrom diagnostiziert wurde und die

a) in häuslicher Umgebung

b) ambulanten und

c) in stationären Pflegeeinrichtungen betreut werden?

2. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die Zahl der Men-
schen mit apallischem Syndrom hinsichtlich der Pf ege, Betreuung und Ver-
gütung der Leistungen, bezogen auf die einzelnen Wachkomaphasen A bis F,
vor?

3. Welche und wieviel private bzw . Einrichtungen der öf fentlichen Hand sind
der Bundesregierung bekannt, die in der Bundesrepublik Deutschland, auf-
geschlüsselt nach Bundesländern, (Pf ege)Plätze für Menschen mit apalli-
schem Syndrom vorhalten?

4. Wie viel und welche weiteren V ersorgungs-, Pflege- und Betreuungsmög
lichkeiten sind nach Kenntnis der Bundesregierung in den nächsten Jahren
vorgesehen?

5. Wie wertet die Bundesregierung aus aktueller Sicht die o. g. Forderungen
der Kasseler Erklärung von 1999 und welche Schritte kann und will sie ein-
leiten, um diesen Forderungen zu entsprechen?

6. Welche ethischen und/oder medizinischen Probleme sieht die Bundesregie-
rung für die Ausgestaltung der Lebensqualität von Menschen mit apalli-
schem Syndrom aus dem derzeit undiffererenziert, z. T. strittig artikulierten,
Verständnis der Begriffe „Mensch“ und „Person“ in verschiedenen europäi-
schen wie deutschen Dokumenten zur Biomedizin bzw. Bioethik?
Drucksache

14/

5489

– 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

7. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Ansprüche für gleiche
Lebensqualität nach den Artikeln 1, 3 und 20 des Grundgesetzes für Men-
schen mit apallischem Syndrom, ihre Angehörigen und/oder Rechtsvertre-
ter rechtlich abzusichern?

Welche gesetzlichen Maßnahmen sind dafür nach Auf fassung der Bundes-
regierung erforderlich und welche beabsichtigt sie in welchen Zeiträumen
einzuleiten?

8. Wie wertet die Bundesregierung die Regelung der Zuständigkeiten bei der
akut- und intensivmedizinischen, pf egerischen und rehabilitativen Versor-
gung (einschließlich Über gangsbereiche) für diese schwerstbehinderten
Menschen mit apallischem Syndrom?

Was gedenkt sie in diesem Zusammenhang zu tun, um die von Angehöri-
gen und Vereinen als nicht ausreichend eingeschätzten Regelungen zu ver-
bessern?

9. Wie schätzt die Bundesregierung die Bedarfsentwicklung und die daraus
resultierenden Kosten

a) im häuslich-familiären Bereich,

b) im ambulanten Bereich und

c) für vollstationäre Pflegeplätze für die aktivierende Dauerp ege bei er -
worbener Hirnschädigung ein?

10. Welche Möglichkeiten und Probleme sieht die Bundesregierung, eine von
Fachwissenschaftlern und praxiserfahrenen Betreuern empfohlene fami-
liär-rehabilitative „Rund-um-die-Uhr-Pflege bz . -begleitung“ von W ach-
komapatienten in ambulanten oder stationären Einrichtungen bei entspre-
chend ausreichender existenzieller Absicherung dieser „Familienbetreuer“
zu gewährleisten?

11. Wie hoch sind

a) der durchschnittliche Pflegekostensatz in der Bundesrepublik Deutsch
land und

b) die tatsächlichen Kosten bei der V ersorgung eines Schwerst-Schädel-
Hirn-Geschädigten und wie hoch sind daraus resultierend die Zuzahlun-
gen der Angehörigen (bitte ver gleichende Angaben für die Bundeslän-
der)?

12. Welche zusätzlichen Kosten und Aufwendungen, die aus spezif schem Ver-
sorgungsbedarf von Wachkoma-Patienten erwachsen, können nach Kennt-
nis der Bundesregierung für die V ersorgung von W achkoma-Patienten in
den einzelnen Versorgungsbereichen, speziell für die Pf egeheime, aufge-
schlüsselt nach Bundesländern, sowohl für die Schaf fung von Pflegeplät
zen (medizinischer und bauseitiger Mehrbedarf) als auch für die V ersor-
gung anfallen?

13. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber vor , inwieweit
und auf welcher Grundlage durch die Krankenkassen Hilfsmittel für Wach-
koma-Patienten sowohl im stationären als auch im häuslichen Bereich
nicht in erforderlichem Umfang gewährt wurden?
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 –

Drucksache

14/

5489

14. Wie bewertet die Bundesregierung die derzeitige Qualität der V ersorgung
von Wachkoma-Patienten?

Welche Möglichkeiten und Chancen sieht die Bundesregierung in diesem
Zusammenhang, um für Wachkoma-Patienten die Anwendung von Thera-
pien nach dem neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand
noch umfassender zu nutzen?

15. Beabsichtigt die Bundesregierung im Pf egeversicherungsgesetz bzw . in
anderen Gesetzen künftig Regelungen vorzusehen, die – wenigstens für
besonders schwere Fälle, wie z. B. bei W achkoma-Patienten – eine
Fristsetzung für Entscheidungen über Anträge auf Höherstufung oder
Hilfsmittel sichern?

Wenn ja, wie und wann soll diese Regelung erfolgen?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 7. März 2001

Dr. Ilja Seifert
Dr. Ruth Fuchs
Monika Balt
Roland Claus und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.