BT-Drucksache 14/5141

Die russische Exklave Kaliningrad/ Königsberg unterstützen

Vom 24. Januar 2001


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

24. 01. 2001

Antrag

der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Ina Albowitz, Rainer
Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Paul K. Friedhoff, Horst
Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther
(Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Walter Hirche,
Dr. Werner Hoyer, Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin, Ina Lenke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der
F.D.P.

Die russische Exklave Kaliningrad/Königsberg unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union und die Perspektive
einer möglichen weiteren Öffnung der NATO stellen die Exklave Kaliningrad/
Königsberg vor schwierige Herausforderungen, eröffnen aber auch Chancen.
Mit der EU-Osterweiterung wird die Region nicht nur zum Bindeglied zwi-
schen Europa und Russland, sie gewinnt auch im Rahmen der vom Kölner EU-
Gipfel im Juni 1999 beschlossenen „Nördlichen Dimension“ der EU eine be-
sondere Bedeutung für den gesamten Ostseeraum.

Nach anfänglichem Zögern hat die neue russische Regierung Konsequenzen aus
der sich abzeichnenden Entwicklung gezogen und die Exklave zur Pilotregion
für die Entwicklung einer regionalen Zusammenarbeit mit der EU erklärt.
Jüngste Äußerungen von Präsident Wladimir Putin zeigen, dass er Kaliningrad
nicht lediglich als militärischen Vorposten Moskaus sieht, sondern bereit ist, dort
ein liberales Wirtschaftsmodell in Verbindung mit Sonderbeziehung zur EU zu
etablieren. Bereits 1996 war das gesamte Kaliningrader Gebiet zur Sonderwirt-
schaftszone erklärt worden, um Standortnachteile durch Steuer- und Zollver-
günstigungen aufzuwiegen. Mit Litauen und Polen wurde der visafreie
Reiseverkehr für Kaliningrader Bürger eingeführt. Allerdings hat die Einrich-
tung der Sonderwirtschaftszone angesichts einer unbeweglichen Bürokratie,
fehlender Investitionen und öffentlicher Fördermittel, aber auch auf Grund von
Korruption und Kriminalität nicht zu dem erhofften Aufschwung geführt. Die
Exklave leidet bis heute an ihrem sowjetischen Erbe. Die wirtschaftlichen, sozi-
alen und ökologischen Probleme der Region sind auch 11 Jahre nach dem Um-
bruch in Mittel- und Osteuropa enorm. Die Industrieproduktion tendiert gegen
Null, die Landwirtschaft liegt brach, Infrastruktur und Logistik sind kaum ent-
wickelt, Schifffahrt- und Hafenbetrieb sind fast zum Erliegen gekommen, Le-
bensmittel, Rohstoffe und Energie werden aus Russland oder den Nachbarlän-
dern eingeführt.
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Im Rahmen der bevorstehenden EU-Erweiterung müssen dringend regional an-
gepasste Lösungen gefunden werden. Insbesondere die Gestaltung des Schen-
gener Abkommens an den Außengrenzen einer erweiterten Union zur Exklave
Kaliningrad/Königsberg, stellt die europäisch-russische Zusammenarbeit vor
große Herausforderungen. Falls keine Sonderregelung vereinbart werden kann,
werden die Kaliningrader nach dem EU-Beitritt Polens und Litauens ein Visum
beantragen müssen, wenn sie das russische Hauptland auf dem Landweg besu-
chen wollen. Bereits jetzt behindern extrem lange Wartezeiten an den Grenzen
den Warenverkehr, wodurch die Attraktivität des einzigen eisfreien russischen
Ostseehafens weiter beeinträchtigt wird. Neben der Visaproblematik würde
nach einem EU-Beitritt Polens und Litauens auch der regionale Handel erheb-
lich weiter erschwert werden, da Kaliningrad kaum in der Lage sein wird, tech-
nische und ökologische Normen der EU, etwa im Bereich der für die Kalinin-
grader Wirtschaft wichtigen Fischverarbeitungsindustrie, zu übernehmen. Ziel
der gemeinsamen Anstrengungen muss es daher sein, die Exklave zu einer
Brücke Russlands nach Europa auszubauen. Kaliningrad wird so zum Testfall
für die zukünftige europäisch-russische Zusammenarbeit. Keine andere Region
Russlands verfügt auf kleinstem Raum über eine Vielzahl von Grenzübergän-
gen zu Ländern, die in absehbarer Zeit Mitglieder der Europäischen Union wer-
den und überdies über eine Anbindung an das europäische Normalspur-Schie-
nennetz.

Die EU-Kommission hat dem Rat Mitte Januar 2001 ein Diskussionspapier
über die künftige Gestaltung der Beziehungen zur Exklave Kaliningrad zur in-
ternen Abstimmung vorgelegt. Die europäische Zusammenarbeit mit Russland
darf sich aber nicht auf Absichtserklärungen und Studien beschränken. Sie
muss konkrete Strategien erarbeiten und auch umsetzen, um die ansonsten dro-
hende Isolierung der Region mit den daraus entstehenden Folgen für eine wei-
tere Verarmung, für organisierte Kriminalität, Waffenhandel und politische In-
stabilität zu vermeiden. Eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union im Rahmen der „Nördlichen Dimension“ und des Ostseerates bietet die
besten Voraussetzungen zur Intensivierung der wirtschaftlichen, politischen
und kulturellen Beziehungen Kaliningrads zu seinen Nachbarn und zum Abbau
noch vorhandenen Misstrauens. Die Bundesregierung ist im Rahmen ihrer ge-
genwärtigen Ostseeratspräsidentschaft gefordert, hier eigene Initiativen zu ent-
falten. Es ist offensichtlich, dass sich alle genannten Probleme nur mit dem
Einverständnis Moskaus lösen lassen. Die russische Regierung muss daher eng
in die Planungsprozesse auf allen Ebenen mit einbezogen werden. Hierzu ge-
hört auch die intensive Auseinandersetzung mit dem von russischer Seite vor-
geschlagenen „besonderen Abkommen“ mit der Union sowie die Beteiligung
Russlands an der weiteren Verfolgung des vom EU-Rat in Feira im Sommer
2000 beschlossenen „Aktionsplanes“ der „Nördlichen Dimension“ der EU.

Eine stärkere Anbindung an europäische Strukturen ist jedoch nicht nur aus
wirtschaftspolitischer Sicht, sondern auch unter dem Gesichtspunkt erforder-
lich, dass das Kaliningrader Gebiet über die einzige russische Grenze mit ei-
nem NATO-Staat verfügt und bei einer zukünftig möglichen weiteren Öffnung
der NATO auch für die baltischen Staaten von der NATO-Grenze umgeben sein
wird. Entsprechend wird die strategische Bedeutung Kaliningrads für Moskau
weiter ansteigen.

Vor dem Hintergrund der besonderen geschichtlichen Verantwortung Deutsch-
lands müssen die europäischen Bemühungen zur Einbindung der Exklave Kali-
ningrad/Königsberg in die europäischen Strukturen auch durch bilaterale Initia-
tiven ergänzt werden. Dies betrifft u. a. ein stärkeres Engagement für deutsche
Investoren, den Ausbau und Erhalt der Bahnstrecke Königsberg – Berlin, Uni-
versitäts- und Schulpartnerschaften wie auch Maßnahmen zur Förderung des
Deutsch-Russischen Hauses in Kaliningrad/Königsberg und zur Unterhaltung
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der deutschen Soldatenfriedhöfe. 1 250 km von Moskau und nur 600 km von
Berlin entfernt gelegen, könnte sich Kaliningrad zur Drehscheibe für Handel
und Transport zwischen Russland und der erweiterten Union und zum Binde-
glied zwischen Russland und NATO im Rahmen eines gemeinsamen euro-
päischen Sicherheitsraumes entwickeln. Doch es muss schnell gehandelt wer-
den.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. gegenüber den EU-Partnern und der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft

auf einen Ausbau und eine Vertiefung der EU-Russland-Strategie hinzuwir-
ken, die kurzfristig auf eine rasche Lösung der im Zuge der EU-Osterweite-
rung auftretenden Probleme für die Region Kaliningrad/Königsberg abzielt
und mittelfristig eine Anbindung der Exklave an europäische Strukturen mit
dem Ziel eines gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Sozialraumes
anstrebt;

2. sich in diesem Rahmen für eine zügige Implementierung des Aktionsplans
der „Nördlichen Dimension“ der Europäischen Union einzusetzen;

3. dabei Projekten der „Nördlichen Dimension“ zur Förderung der „positiven
Interdependenz zwischen der Union, Russland und dem Ostseeraum“ Vor-
rang einzuräumen. Hierzu gehören Programme zur technischen Hilfe bei der
Zusammenarbeit im Zollwesen ebenso wie die Verwaltungsschulung und
die Kooperation im Kampf gegen das organisierte Verbrechen;

4. im Zusammenhang mit den Ostseerats-Gesprächen über die Etablierung
einer Freihandelszone im nordwestlichen Ostseeraum einschließlich der
Exklave Kaliningrad auf eine baldige Verbesserung der teilweise von den
Betroffenen als schikanös empfundenen Grenzabfertigungen zu drängen;

5. die EU-Kommission in diesem Zusammenhang zu einer Prüfung aufzufor-
dern, inwieweit der Aktionsplan der „Nördlichen Dimension“ durch die rus-
sisch-litauische „Nedden-Initiative“ ergänzt werden könnte, mit der beide
Länder eine weitgefächerte Zusammenarbeit im Bereich Wirtschaft, Ener-
gie, Transport, Umwelt, Kriminalitätsbekämpfung, Grenzsicherung und
Kulturaustausch vereinbart haben;

6. komplementär zu diesem Aktionsplan während des bis zum 1. Juli 2001
fortdauernden deutschen Vorsitzes im Ostseerat eine deutsche Initiative zur
Einbindung der Region Kaliningrad/Königsberg in die regionale Koopera-
tion und Entwicklung im Ostseeraum zu ergreifen und sie anlässlich der
vom 21. bis 23. März 2001 in Kaliningrad geplanten Baltic See States Sub-
regional Conference einzubringen;

7. in diesem Rahmen noch vor dem EU-Beitritt Polens und Litauens auf die
Etablierung eines regionalen Grenzregimes hinzuwirken, das sowohl den
Anforderungen des Vertrages von Schengen zur wirksamen Sicherung der
EU-Außengrenzen als auch dem Erfordernis eines erleichterten regionalen
Grenzverkehrs und Handels gerecht wird;

8. gegenüber der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft darauf zu drängen, das
von der EU-Kommission vorgelegte Diskussionspapier über derartige
flexible Grenzregelungen, z. B. die Einführung einer „leichten Visazone“
oder vereinfachte Verfahren für die Ausstellung von Sichtvermerken im
so genannten Kleinen Grenzverkehr, möglichst zügig zu beraten und zu
implementieren;

9. sich darüber hinaus gegenüber der Europäischen Kommission für die mög-
lichst zügige Einleitung und Umsetzung weiterer Fördermaßnahmen zum
Ausbau der Infrastruktur und zur Unterstützung wettbewerbsfähiger Wirt-
schaftszweige, insbesondere im Bereich Telekommunikation, Umwelt-
schutz, Handel und Finanzwesen und von mittelständischen Betrieben sowie
für Maßnahmen einzusetzen, die auf eine Anpassung der Produktion im
Kaliningrader Gebiet an europäische Normen und Standards abzielen;
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10. sicherzustellen, dass die Regierung der Russischen Föderation an der For-
mulierung und Implementierung sämtlicher Projekte und Fördermaßnah-
men für das Kaliningrader Gebiet sowohl im Rahmen der Europäischen
Union als auch des Ostseerats umfassend beteiligt wird und die sich hier-
aus ergebene Vertiefung und Erweiterung der Zusammenarbeit in dem
1997 ratifizierten „Kooperations- und Partnerschaftsabkommen“ zwischen
Russland und der EU zusammengeführt werden;

11. sich gegenüber den EU-Partnern, aber auch gegenüber der russischen Re-
gierung für die Eröffnung einer Ständigen Vertretung der Europäischen
Union einzusetzen, die neben der Wahrnehmung spezifisch europäisch-rus-
sischer Belange auch – soweit möglich – mit der Vertretung bilateraler In-
teressen der EU-Mitgliedstaaten im Kaliningrader Gebiet betraut werden
sollte;

12. den zügigen Ausbau der im Herbst 2000 an der Universität Kaliningrad
eingerichteten „Euro-Fakultät“ in den Fächern Wirtschaft, Politische Wis-
senschaft und Rechtswissenschaften zu fördern;

13. der russischen Seite klarzumachen, dass die von allen Seiten gewünschte
enge zukünftige Rolle des Kaliningrader Gebietes als Bindeglied zwischen
der Russischen Föderation und der Europäischen Union ein höheres Maß
an administrativer Autonomie der Exklave voraussetzt;

14. die sich im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung für die Exklave
Kaliningrad ergebenden spezifischen Probleme und die hierfür erarbeiteten
Lösungsansätze auch auf die Tagesordnung des NATO-Russland-Rates
mit dem Ziel zu setzen, hieraus sicherheitspolitische Schlussfolgerun-
gen – auch im Hinblick auf eine eventuelle zukünftige weitere NATO-
Öffnung – zu ziehen;

15. in den bilateralen Beziehungen zu der Region die Fortsetzung der wert-
vollen Arbeit des Deutsch-Russischen Hauses in Kaliningrad/Königsberg
sicherzustellen;

16. sich gegenüber der russischen Regierung und der polnischen Regierung für
die Wiederaufnahme einer Zugverbindung zwischen Berlin und Kalinin-
grad einzusetzen und zu prüfen, inwieweit hierfür auf Fördermittel der
Europäischen Union zurückgegriffen werden könnte;

17. in Zusammenarbeit mit dem Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft der
russischen Regierung und der Kaliningrader Verwaltung eine Initiative zur
gezielten Förderung deutscher Investitionen in der Exklave zu ergreifen;

18. sich im Einvernehmen mit der deutschen Kriegsgräberfürsorge und der Ka-
liningrader Verwaltung für den Erhalt und die Pflege des Massengrabes
deutscher Soldaten auf dem Friedhof der Kaliningrader Swjato-Nikolskiy-
Kirche einzusetzen.

Berlin, den 16. Januar 2001

Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Irmer
Ina Albowitz
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke

Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Ina Lenke

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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