BT-Drucksache 14/4886

Flankierung der Erweiterung der Europäischen Union als innenpolitische Aufgabe

Vom 5. Dezember 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

05. 12. 2000

Antrag

der Abgeordneten Günter Gloser, Hans-Werner Bertl, Hans Büttner (Ingolstadt),
Marion Caspers-Merk, Gernot Erler, Petra Ernstberger, Lilo Friedrich (Mettmann),
Rainer Fornahl, Klaus Hagemann, Rolf Hempelmann, Monika Heubaum, Gerd Höfer,
Lothar Ibrügger, Helga Kühn-Mengel, Detlev von Larcher, Winfried Mante, Lothar
Mark, Markus Meckel, Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Dietmar Nietan, Günter Oesinghaus,
Eckhard Ohl, Holger Ortel, Joachim Poß, Karin Rehbock-Zureich, Gudrun Roos,
Michael Roth (Heringen), Dieter Schloten, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Ottmar
Schreiner, Reinhard Schultz (Everswinkel), Dr. Angelica Schwall-Düren, Hedi
Wegener, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Lydia Westrich,
Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Peter Struck und der Fraktion
der SPD
sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Ulrike Höfken, Claudia Roth
(Augsburg), Dr. Helmut Lippelt, Monika Knoche, Winfried Nachtwei, Angelika Beer,
Rita Grießhaber, Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Flankierung der Erweiterung der Europäischen Union als innenpolitische Aufgabe

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die europäische Integration ist das wichtigste und erfolgreichste politische Pro-
jekt in der jüngsten Geschichte unseres Kontinents. Nach der Vollendung des
europäischen Binnenmarktes und der Wirtschafts- und Währungsunion gilt es
nun, mit der Erweiterung ein weiteres historisches Projekt zu bewältigen. Mit
der Erweiterung überwindet Europa die nach dem 2. Weltkrieg erfolgte Spal-
tung und stellt die Einheit des europäischen Kontinents auf demokratischer und
rechtsstaatlicher Grundlage wieder her. Zur Erweiterung der Europäischen
Union gibt es keine politische Alternative, denn nur sie garantiert Europa lang-
fristig Frieden, Demokratie und Stabilität. Sie ist zugleich das wirksamste In-
strument, um Osteuropa an das Wohlstandsniveau Westeuropas heranzuführen.

Politisch und gesamtwirtschaftlich ist die Erweiterung nicht nur für die Bei-
trittskandidaten sondern auch für die heutigen Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union ein Gewinn. Sie stärkt den Frieden in Europa und festigt das part-
nerschaftliche Miteinander. Die Erweiterung macht die Europäische Union
zum weltweit größten Binnenmarkt und stärkt ihre globale Wettbewerbsfähig-
keit. Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der mittel- und ost-
europäischen Beitrittsländer und erzielt wie Österreich und Italien seit Jahren
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hohe Handelsbilanzüberschüsse im Güteraustausch mit diesen Partnern. Allein
der Handel mit Osteuropa sichert in Deutschland derzeit rund 80 000 Arbeits-
plätze.

Die gesamtwirtschaftlichen Vorteile des Erweiterungsprozesses werden im
politischen wie im wissenschaftlichen Raum nicht in Zweifel gezogen. Im
Deutschen Bundestag gibt es dazu einen umfassenden politischen Konsens.

Den unbestreitbaren Vorteilen der Erweiterung steht die Skepsis in der Bevöl-
kerung vieler EU-Mitgliedstaaten gegenüber. In den nächsten Jahren kommt es
deshalb darauf an, die innenpolitischen Herausforderungen im Zusammenhang
mit der Erweiterung aktiv aufzugreifen, um die Zustimmung der Bürgerinnen
und Bürger zu diesem historischen Projekt zu stärken. Dabei müssen folgende
Handlungsfelder im Vordergrund stehen:





Die Informationsdefizite über unsere mittel- und osteuropäischen Partner
sind nach wie vor zu hoch. Die Chancen und Vorteile der Erweiterung wer-
den viel zu wenig wahrgenommen. Alle politisch Verantwortlichen müssen
ihre Anstrengungen verstärken, um die Bürgerinnen und Bürger für die Er-
weiterung zu gewinnen.





Seit Beginn der 90er Jahre haben die Globalisierung der Weltwirtschaft, die
Vollendung des europäischen Binnenmarkts und die wirtschaftliche Öffnung
Osteuropas erheblich zur Beschleunigung des Strukturwandels in der deut-
schen und europäischen Wirtschaft beigetragen. Für die regionale Ent-
wicklung sind neben den sich bietenden Chancen auch Risiken durch die
Erweiterung nicht auszuschließen. Besonders betroffen vom strukturellen
Anpassungsdruck sind die heute schon strukturschwachen Regionen, insbe-
sondere Regionen entlang der deutschen Ostgrenze. Deshalb ist eine spezifi-
sche strukturpolitische Flankierung notwendig, um möglichen negativen
Entwicklungen entgegenzuwirken oder diese zumindest abzufedern.





Nach der grundgesetzlichen Aufgabenteilung sind in Deutschland die Bun-
desländer für die regionale Strukturpolitik zuständig. Es ist ihre Aufgabe,
die vorhandenen Mittel auf die Problemregionen zu konzentrieren und mög-
lichst effizient einzusetzen. Dazu zählen sowohl die Mittel aus den europäi-
schen Strukturfonds als auch aus nationalen Programmen, z. B. die Mittel
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk-
tur“. Damit die Anpassung der Regionen an die neuen Bedingungen mög-
lichst effizient erfolgt, müssen die verschiedenen raumwirksamen Politikbe-
reiche auf regionaler Ebene besser verzahnt werden. Bund und Länder
sollten die Regionen aktiv beim Einsatz moderner Instrumente der Regio-
nalförderung, wie z. B. Regionalmanagement, unterstützen. Dabei sollte
auch auf das bewährte Instrument der Regionalkonferenzen zurückgegriffen
werden.

Auch die Europäische Union muss ihren Beitrag zur Vorbereitung besonders
betroffener Regionen, insbesondere der deutschen Grenzregionen, auf die
Erweiterung leisten. Der von der EU-Kommission angekündigte Aktions-
plan wird dazu beitragen, diese Regionen bei der Bewältigung der regiona-
len Folgen der Erweiterung zu unterstützen.





Nach der Erweiterung werden die bayerischen und ostdeutschen Grenz-
regionen nicht mehr an der Außengrenze der EU liegen. Diese neue geogra-
phische Lage bedeutet für diese Regionen eine große Herausforderung. Ein
Teil der strukturellen Anpassungsleistungen ist bereits erfolgt, denn mit den
Europaabkommen wurde der Warenaustausch mit den Beitrittskandidaten
bereits weitgehend liberalisiert. Zwar ist aus heutiger Sicht davon auszuge-
hen, dass sich zum Zeitpunkt der Erweiterung die Lage auf den regionalen
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Arbeitsmärkten verbessert haben wird. Gleichwohl besteht nach wie vor
dort, wo arbeitsintensive industrielle Fertigungen konzentriert sind, auf-
grund des verschärften Wettbewerbs ein überproportional hohes Arbeits-
platzrisiko für gering qualifizierte Arbeitnehmer. Branchenspezifische Pro-
blemlagen, wie z. B. in der Bau- und Transportbranche, tragen ebenfalls
erheblich dazu bei, die regionalen Arbeitsmärkte zu belasten. Hier sind
Wirtschaft und aktive Arbeitsmarktpolitik in engem Zusammenwirken ge-
fordert, vorausschauend und rechtzeitig vor dem Beitritt durch geeignete
Maßnahmen insbesondere im Bereich der beruflichen Weiterbildung betrof-
fene Arbeitnehmer auf die Übernahme zukunftsträchtiger Tätigkeiten vorzu-
bereiten. Eine wichtige Entscheidung haben Deutscher Bundestag und Bun-
desregierung mit der Anhebung der Investitionszulage für Unternehmen in
den ostdeutschen Grenzregionen in diesem Zusammenhang bereits be-
schlossen.

In den Erweiterungsverhandlungen müssen hinsichtlich der Freizügigkeit
der Arbeitnehmer sowie der Dienstleistungsfreiheit Übergangsregelungen
für die Arbeitsmärkte in den Mitgliedstaaten vereinbart werden. Um den be-
sonderen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Problemlagen Rechnung
zu tragen, sollten die innenpolitischen Folgen der Erweiterung auch im
Bündnis für Arbeit beraten werden.





Durch die Erweiterung vergrößern sich die Möglichkeiten zur grenzüber-
schreitenden Zusammenarbeit, die für die erfolgreiche Bewältigung der Er-
weiterung in den Grenzregionen einen wichtigen Beitrag leistet. Die betrof-
fenen Bundesländer sollten zusammen mit ihren Partnerregionen und den
jeweiligen nationalen Regierungen sowie der Europäischen Kommission
Maßnahmen ergreifen, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiter
zu verstärken.





Unterstützung verdienen die vielfältigen zivilgesellschaftlichen Kontakte
und die Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen, die sich bereits seit
Jahren um einen intensiven kulturellen Austausch bemühen und damit be-
reits heute die Bereicherung durch die anstehende Erweiterung ins Blickfeld
rücken.





Handlungsbedarf besteht auch in bestimmten Bereichen der Infrastruktur,
vor allem in Grenzregionen. Die besonders betroffenen Regionen entlang
der deutschen Ostgrenze sollten bei der Finanzierung von Verkehrsprojekten
gezielt unterstützt werden.





Im Zuge des Beitritts zur Europäischen Union müssen die Bewerberländer
den sog. Schengen-Acquis vollständig übernehmen. Deshalb werden die
Grenzkontrollen erst entfallen, wenn die neuen Mitglieder nach dem Beitritt
in der Lage sind, die Schengen-Standards tatsächlich zu erfüllen. Schon auf-
grund der Vor-Beitrittsstrategie und erst recht nach dem Beitritt nehmen die
künftigen Mitgliedstaaten an der polizeilichen und justiziellen Zusammenar-
beit teil, die allen Staaten mehr Möglichkeiten für die wirksame Bekämp-
fung der organisierten Kriminalität einräumt Diese Vorteile der Erweiterung
müssen stärker ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden.

Die innenpolitische Flankierung der Erweiterung ist eine große Herausforde-
rung für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie kann am ehesten erfolgreich
bewältigt werden, wenn alle Beteiligten im parteiübergreifenden Konsens aktiv
dazu beitragen, die Akzeptanz der Erweiterung bei den Bürgerinnen und Bür-
gern zu erhöhen.
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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

Im Rahmen ihrer Strategie zur innenpolitischen Flankierung der Erweiterung





ihre Anstrengungen zur Information der Bevölkerung über die Chancen und
Herausforderungen der Erweiterung weiter zu verstärken und sich weiterhin
aktiv in den Dialog mit allen wichtigen gesellschaftlichen Gruppen über die
Erweiterung einzubringen,





zu prüfen, ob und ggf. inwieweit der Einsatz der bewährten strukturpoliti-
schen Instrumente verstärkt werden kann, insbesondere durch eine Bünde-
lung und Verzahnung der verschiedenen Instrumente sowie den gezielten
Einsatz modernder Instrumente zur Förderung der Regionalentwicklung,
wie z. B. Regionalmanagement oder Regionalkonferenzen,





zu klären, inwieweit spezifische Probleme auf den regionalen Arbeitsmärk-
ten eine Unterstützung durch die Arbeitsmarktpolitik erfordern,





die Erweiterung auch im Bündnis für Arbeit aufzugreifen,





zu klären, wie die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammen-
arbeit verbessert werden können,





den Jugendaustausch und den kulturellen Austausch gezielt zu fördern, ins-
besondere mit unseren Nachbarländern Polen und Tschechien,





zu prüfen, wie der bereits begonnene Ausbau der Infrastruktur in den Grenz-
regionen weiter verbessert werden kann, um eine bedarfsgerechte Verkehrs-
anbindung der Grenzregionen zu gewährleisten,





Konzepte zu entwickeln, die die praktische Zusammenarbeit der Sicher-
heitsbehörden von Bund und Ländern mit den Beitrittsstaaten auf dem Ge-
biet der inneren Sicherheit gewährleisten. Die Öffentlichkeitsarbeit ist dahin
gehend zu verstärken, dass Kriminalitätsängste in der Bevölkerung abgebaut
werden.

Berlin, den 5. Dezember 2000

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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