BT-Drucksache 14/4709

Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak

Vom 22. November 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4709
14. Wahlperiode 22. 11. 2000

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Heidi Lippmann, Carsten Hübner,
Dr. Winfried Wolf, Dr. Dietmar Bartsch, Manfred Müller (Berlin), Dr. Gregor Gysi,
Ulla Jelpke, Roland Claus und der Fraktion der PDS

Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die infolge des zweiten Golfkrieges vom Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen (VN) gegen den Irak verhängten Sanktionen bestehen in nahezu unver-
änderter Form seit mehr als zehn Jahren. Die massiven Zerstörungen der
Infrastruktur des Landes durch den Luftkrieg der Golfkriegsallianz und die
durch das Handelsembargo hervorgerufene wirtschaftliche Lage haben zu
einer äußerst prekären Versorgungssituation geführt. Das wirtschaftliche
Embargo trifft nicht das Regime Saddam Husseins, sondern vorwiegend und
mit aller Härte die Schwächsten der irakischen Gesellschaft. Alarmierend ist
vor allem die verheerende Wirkung auf das Gesundheits-, Bildungs- und Er-
ziehungswesen. Aufgrund des Mangels an importierten Medikamenten und
Impfstoffen sowie durch die Verschlechterung der Trinkwasserqualität, die
auf den Ausfall von Kläranlagen wegen Ersatzteilmangels und reduzierter
Stromproduktion sowie auf die Einleitung ungeklärter Abwässer in die
Flüsse zurückzuführen ist, ist eine erhebliche Zunahme von ansteckenden
Krankheiten wie Cholera und Typhus zu verzeichnen. Seit 1991 hat sich die
Sterblichkeit von Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren mehr als ver-
doppelt; das VN-Kinderhilfswerk UNICEF geht davon aus, dass allein mehr
als 500 000 Säuglinge und Kleinkinder aufgrund des Embargos gestorben
sind. Breite Schichten der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Das
Pro-Kopf-Einkommen ist zwischen 1990 und 2000 von 3 000 auf 252 Dollar
gesunken, womit der Irak mittlerweile zur Kategorie der am wenigsten ent-
wickelten Länder gehört. Durch das Embargo wurden soziale Ungleichhei-
ten weiter verschärft, die Kriminalitätsrate ist gestiegen. Eine Parallelökono-
mie hat sich entwickelt, von der vor allen Dingen die herrschende Elite pro-
fitiert. Neben den unmittelbaren Auswirkungen sind durch das Embargo
auch schwerwiegende langfristige Folgen für die irakische Gesellschaft zu
erwarten: Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildungsmöglichkeiten und eine ge-
nerelle Perspektivlosigkeit der Jugend stellen eine Gefahr für die zukünftige
Stabilität des Landes dar.

2. Das Wirtschaftsembargo gegen den Irak hat sich als kontraproduktiv erwie-
sen. Statt zu bewirken, dass die irakische Führung umfassend mit den VN
kooperiert und die Auflagen zügig und vollständig erfüllt, haben die lang-

Drucksache 14/4709 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

jährigen Sanktionen eine nicht gewollte umfassende Verschlechterung der
Lage der irakischen Bevölkerung nach sich gezogen, während sich das Re-
gime stabilisiert hat. Die Situation im Irak ist geprägt von systematischer
und umfassender Repression. Die von der Generalversammlung der VN am
17. Dezember 1999 und von der VN-Menschenrechtskommission am 18.
April dieses Jahres verabschiedeten Resolutionen zum Irak sprechen von
„systematischen, weitverbreiteten und äußerst schwerwiegenden Verletzun-
gen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch die iraki-
sche Regierung.“ Willkürliche Verhaftungen, Folter, Exekutionen, Ver-
schwindenlassen und Rechtlosigkeit prägen das Leben im Irak. Die Lage der
Frauen hat sich seit dem Inkrafttreten der Sanktionen erheblich verschlech-
tert. Die Arbeit der irakischen Opposition und die Auseinandersetzung über
die zurückliegenden Verbrechen und andauernden Menschenrechtsverlet-
zungen des Regimes sind erschwert worden. Überdies hat das durch das
Wirtschaftsembargo verursachte Leiden zu einem erheblichen Misstrauen
der Bevölkerung im Irak und in anderen arabischen Ländern gegenüber der
internationalen Gemeinschaft geführt. Die Entwicklung kooperativer, inter-
nationaler Beziehungen in der Region und darüber hinaus wurde und wird
nachhaltig gestört.

3. Grundsätzlich stellt sich die Frage, was durch das Mittel der internationalen
Sanktionen erreicht werden kann, welche Kosten dabei entstehen und auf
wessen Kosten das gesetzte Ziel erreicht werden soll. Statt einer bloßen
Fortsetzung der bisher praktizierten Abschottungspolitik der internationalen
Gemeinschaft gegenüber dem Irak muss nach anderen Methoden gesucht
werden, um politische Veränderungen im Irak durchsetzen zu helfen. Das
irakische Regime muss mit den dafür zur Verfügung stehenden völkerrecht-
lichen Instrumenten zur Rechenschaft gezogen werden, ohne dass die iraki-
sche Bevölkerung darunter zu leiden hat. Auch die Kriegshandlungen wäh-
rend des Golfkrieges müssen untersucht, und alle Verstöße gegen internatio-
nales Recht – von wem auch immer – müssen geahndet werden.

4. Eine Lockerung des Wirtschaftsembargos allein reicht nicht aus, um länger-
fristig eine menschenwürdige Existenz der irakischen Bevölkerung zu si-
chern. In diesem Sinn ist auch die 1995 vom Sicherheitsrat der VN durch
Resolution 986 erteilte und seitdem regelmäßig, letztmalig am 8. Juni dieses
Jahres verlängerte Erlaubnis, eine bestimmte Menge Erdöls auf dem interna-
tionalen Markt zu verkaufen und einen Teil der Einkünfte für den Erwerb
von Lebensmitteln und Medikamenten zu verwenden (sog. Oil-For-Food-
Abkommen) gescheitert, da sie nicht zu einer deutlichen Verbesserung der
Versorgungslage geführt hat. Um eine Verbesserung der Lebensbedingungen
der irakischen Bevölkerung zu bewirken, muss das Wirtschaftsembargo auf-
gehoben werden, wobei die Einfuhr potentiell gefährlicher oder zu verbote-
nem Gebrauch bestimmter Güter weiterhin unterbunden werden muss.

5. Die bisher festgelegten Reparationszahlungen sollten vom Sicherheitsrat auf
ein erträgliches Maß der Ölexporterlöse begrenzt werden. Davon sollten in
erster Linie Entschädigungsansprüche der Kriegsopfer beglichen werden.
Die Erfüllung der Waffenstillstandsbedingungen und der VN-Auflagen
durch den Irak, die Kooperation mit den entsprechenden Organisationen der
VN, insbesondere mit der UNMOVIC, und ein angemessenes Verhalten ge-
genüber den Nachbarstaaten und der eigenen Bevölkerung könnten – im
Sinne einer positiven Konditionierung – durch internationales Entgegen-
kommen in der Reparationsfrage unterstützt werden. Auch die Verwirk-
lichung einer politischen Lösung für die Region Kurdistan-Irak auf Basis
der Resolution 688 des VN-Sicherheitsrates hätte hier ihren Platz. Die Frage

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/4709

einer weiteren Reduzierung und schließlich eines vollständigen Reparati-
onserlasses bliebe jährlich zu prüfen.

6. Die schrittweise und konditionierte Aufhebung der Isolierung des Irak soll
als Schritt zum Aufbau eines regionalen Sicherheitssystems am Golf ver-
standen werden. Der Versuch, kooperative Sicherheitsstrukturen in der Golf-
region – und im Nahen Osten insgesamt – zu etablieren, ist ohne die mittel-
fristige Reintegration des Irak in seine Umwelt undenkbar. Regionale
Sicherheit kann sich auf Dauer nicht nur auf die erreichte Demilitarisierung
des Irak stützen. In der Resolution 687 (1991), C, Nummer 14, des VN-
Sicherheitsrates werden Maßnahmen „in Richtung auf das Ziel der Schaf-
fung einer Zone im Nahen Osten, die frei ist von Massenvernichtungswaffen
und allen Flugkörpern zu deren Einsatz, sowie in Richtung auf das Ziel
eines weltweiten Verbots chemischer Waffen“ gefordert. Darüber hinaus
muss die Überrüstung bei den konventionellen Waffen beendet werden.
Über geeignete vertrauensbildende Maßnahmen muss gesprochen werden.
Die Bundesregierung muss deutsche Rüstungsexporte in diese Region unter-
binden und international dafür eintreten, dass der Waffenfluss in diese
Region insgesamt eingestellt wird.

7. Die Politik der Bundesregierung in der Irak-Frage hat sich bisher eher durch
Nichtverhalten bzw. starke Zurückhaltung ausgezeichnet. Dies ist besonders
nach den Verstrickungen der Bundesrepublik Deutschland bzw. deutscher
Firmen in die konventionelle und nichtkonventionelle Aufrüstung des Irak
in den 80er Jahren inakzeptabel. Deutschland könnte einen wichtigen Bei-
trag zur endgültigen Aufklärung der irakischen Rüstungsanstrengungen leis-
ten, indem es die Kollaboration deutscher Rüstungs- und Hochtechnologie-
firmen mit dem Irak lückenlos aufdeckt. Es sollte eine besondere Aufgabe
der Bundesrepublik Deutschland sein, im internationalen Rahmen für Ab-
rüstung und kooperative Sicherheit in dieser Region einzutreten. Vor allem
aber ist die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der internationalen
Gemeinschaft gefordert, der gegenwärtigen humanitären Katastrophe im
Irak entgegenzuwirken. Sie kann mithelfen, die internationale Irak-Politik
aus der gegenwärtigen Sackgasse herauszuführen.

II. Die Bundesregierung wird daher aufgefordert,

– sich gegenüber den Mitgliedern des VN-Sicherheitsrates dafür einzusetzen,
dass diese für eine sofortige Aufhebung der gegen den Irak verhängten Wirt-
schaftssanktionen – mit Ausnahme der militärischen – eintreten. Die inter-
nationale Überwachung irakischer Importe, um die Einfuhr potentiell ge-
fährlicher oder zu verbotenem Gebrauch bestimmter Güter zu unterbinden,
bliebe von der Aufhebung des Embargos unberührt;

– darauf hinzuwirken, dass die irakischen Auslandsguthaben zweckgebunden
aufgetaut werden. Sie könnten unter VN-Aufsicht zur Finanzierung wichti-
ger Importe verwandt werden, um die soziale und wirtschaftliche Infrastruk-
tur des Landes zu restaurieren;

– auf die USA und Großbritannien einzuwirken, dass diese ihre völkerrechts-
widrigen Luftangriffe auf Ziele in den Flugverbotszonen, bei denen immer
wieder Zivilisten getötet werden, umgehend einstellen;

– sich mit Nachdruck dafür einzusetzen, dass das EU-Programm der humani-
tären Hilfe für die irakische Bevölkerung aufgestockt wird und allen Lan-
desteilen des Irak gleichermaßen zukommt;

Drucksache 14/4709 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
– den vom Auswärtigen Amt erstellten asylrechtlich relevanten Bericht zur
Lage im Irak entsprechend der Ergebnisse der Berichte des Sonderberichter-
statters für den Irak und anderer VN-Institutionen sowie der Einschätzung
international anerkannter Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty In-
ternational und Human Rights Watch zu überarbeiten und im Einvernehmen
mit den Ländern darauf hinzuwirken, dass keine Flüchtlinge in den Irak
abgeschoben werden, sondern in der Bundesrepublik Deutschland Asyl
erhalten.

Berlin, den 22. November 2000

Begründung

1. Die Aufrechterhaltung der Sanktionen ist angesichts der humanitären Kata-
strophe im Irak nicht zu rechtfertigen. Sie würde massiv Artikel 3 der All-
gemeinen Erklärung der Menschenrechte der VN vom 10. Dezember 1948
widersprechen. Aus Protest gegen die verfehlte Sanktionspolitik der VN
sind mittlerweile mehrere hohe für den Irak zuständige Repräsentanten der
VN von ihren Posten zurückgetreten, zuletzt wie sein Amtsvorgänger, Den-
nis Halliday, der Koordinator des VN-Hilfsprogramms Hans von Sponeck
und die Leiterin des Welternährungsprogramms im Irak, Jutta Burghardt.
Eine Neubestimmung der Irak-Politik der internationalen Gemeinschaft ist
unumgänglich. Um das Leiden der irakischen Bevölkerung zu reduzieren
und die Versorgungslage wieder auf ein menschenwürdiges Niveau zu he-
ben, ist es notwendig, die Frage der Wirtschaftssanktionen von der Durch-
setzung der Entwaffnung und ihrer Überprüfung zu trennen.

2. Eine Änderung des Regimes im Irak, so sehr sie aufgrund der massiven Ver-
stöße des derzeitigen Regimes gegen Menschen- und Völkerrecht auch not-
wendig erscheint, war niemals Gegenstand der verschiedenen Embargo-
beschlüsse des VN-Sicherheitsrates. Die Aufhebung der Sanktionen bzw.
ihre Suspendierung ist ausschließlich an die Erfüllung der Abrüstungsvor-
schriften gebunden. Es untergräbt die Autorität der VN, wenn ihre Be-
schlüsse durch eine „hidden agenda“ zu einem willkürlichen Instrument ein-
zelner Sicherheitsratsmitglieder umfunktioniert werden.

3. Tatsache ist, dass sich der Irak bei der Erfüllung der Auflagen wenig koope-
rativ gezeigt hat. Es besteht daher weiterhin der Verdacht, dass das Regime
Waffenarsenale verborgen hält und neue Rüstungsanstrengungen zu unter-
nehmen versucht. Auch wenn die Zielsetzungen der Embargobestimmungen
grundsätzlich verwirklicht sind und der Irak keine unmittelbare militärische
Bedrohung für die Region mehr darstellt, bleibt die Notwendigkeit strikter,
internationaler Rüstungskontrolle bestehen. Die Arbeit der vom VN-Sicher-
heitsrat im Dezember 1999 durch Resolution 1284 eingesetzten Spezialkom-
mission UNMOVIC ist daher auf längere Sicht notwendig und darf in keiner
Weise behindert werden.

Wolfgang Gehrcke
Heidi Lippmann
Carsten Hübner
Dr. Winfried Wolf

Dr. Dietmar Bartsch
Manfred Müller (Berlin)
Dr. Gregor Gysi
Ulla Jelpke
Roland Claus und Fraktion

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