BT-Drucksache 14/4666

zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum bevorstehenden Europäischen Rat in Nizza vom 7. bis 9. Dezember 2000

Vom 17. November 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

17. 11. 2000

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Uwe Hiksch, Dr. Klaus Grehn, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, Manfred Müller (Berlin), Roland Claus und der Fraktion der PDS

zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum bevorstehenden
Europäischen Rat in Nizza vom 7. bis 9. Dezember 2000

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag ist der Überzeugung, dass die soziale und ökologische
Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten die zentrale Aufgabe der
Europäischen Union (EU) für die nächsten Jahre ist. Sie ist historisch not-
wendig, um Frieden in ganz Europa zu erlangen und zu garantieren, um wirt-
schaftliche Stabilität und soziale Gerechtigkeit an die Stelle gravierender Wohl-
standsgefälle zu setzen und die Prinzipien von Frieden, Demokratie, Rechts-
staatlichkeit und Solidarität zur Grundlage des Zusammenlebens der Völker
und Menschen Europas zu machen.

Die EU steht mit ihrer beschlossenen Erweiterung vor der größten Heraus-
forderung seit der Gründung der EWG. Quantitativ wird sich die Zahl der Mit-
gliedstaaten am Ende dieser Erweiterungsrunde verdoppelt haben. Durch den
Beitritt zahlreicher ehemaliger sozialistischer Länder verändert die bisher aus-
schließlich westeuropäisch geprägte Union ihren Charakter. Beide Seiten müs-
sen sich auf die bevorstehenden Veränderungen vorbereiten.

Für die Bewerberländer ist der Beitritt mit schwierigen wirtschaftlichen, sozia-
len und politischen Anpassungsprozessen verbunden, zu denen sie bereits im
Vorfeld die Unterstützung der EU benötigen und die ohne die aktive Beteili-
gung der Bevölkerung dieser Länder nicht vollzogen werden können.

Aber auch die Union muss sich auf die Erweiterung vorbereiten. Ihre Institutio-
nen müssen in die Lage versetzt werden, auch mit erheblich mehr Mitgliedstaa-
ten als bisher effizient und zugleich demokratisch zu handeln und die gemein-
same politische Perspektive der europäischen Integration weiter zu entwickeln.

Die EU hat sich verpflichtet, ab 1. Januar 2003 für die ersten Beitritte vorberei-
tet zu sein. Deshalb soll die Regierungskonferenz, die im Februar 2000 begon-
nen hat, die EU erweiterungsfähig zu machen, bereits auf dem Europäischen
Rat im Dezember 2000 in Nizza beendet werden. Zugleich wurde ihre Tätigkeit
auf die Lösung der in Amsterdam unerledigt gebliebenen institutionellen Fra-
gen und die Problematik der verstärkten Zusammenarbeit beschränkt. Der
Deutsche Bundestag bedauert diese Beschränkung, weil die Gefahr besteht,
dass notwendige inhaltliche Reformen für ein sozialeres, ökologischeres und
demokratischeres Europa nicht in Angriff genommen werden. Andererseits ist
er der Ansicht, dass der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten nicht
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immer weiter hinausgeschoben werden darf. Deshalb akzeptiert er die Priori-
tätensetzung zugunsten der für die Erweiterung notwendigen institutionellen
Reformen auf dieser Regierungskonferenz, mahnt aber die anstehenden inhalt-
lichen Reformen für die nächste Regierungskonferenz an.

Der Deutsche Bundestag erwartet von der Bundesregierung, dass sie sich dafür
einsetzt, dass die so genannten leftovers von Amsterdam auf dem Europäischen
Rat in Nizza vollständig erledigt werden. Die Staats- und Regierungschefs
stehen nicht nur in der Verantwortung, die politische Einigung Europas zu wol-
len, sie müssen dafür auch die konkreten institutionellen Voraussetzungen auf
EU-Seite schaffen.

Der Deutsche Bundestag betont, dass bereits auf dem Gipfel in Nizza die
Modalitäten und die Inhalte für eine Fortführung der notwendigen Reformen in
der EU festgelegt werden müssen.

Bezüglich der in Nizza zu beschließenden institutionellen Reformen stehen
Entscheidungen in folgenden Bereichen an:

Stimmengewichtung im Rat

Die bisherige Stimmengewichtung im Rat folgt nicht konsequent einem an
Größe und Einwohnerzahl orientierten Schlüssel, sondern bevorzugt tendenzi-
ell kleinere, bevölkerungsärmere Länder, indem diese eine relativ höhere Stim-
mengewichtung haben. Die Verteilung der Gewichte zwischen den einzelnen
Mitgliedstaaten hat sich durch die verschiedenen Erweiterungsrunden zuguns-
ten der kleinen Staaten verändert, weil deren Anzahl überproportional zuge-
nommen hat. Diese Entwicklung, die im Grundsatz zu begrüßen ist, würde sich
durch die zukünftigen Erweiterungsrunden noch erheblich verstärken. Hinter
der qualifizierten Mehrheit der gewogenen Stimmen steht ein zunehmend ge-
ringerer Anteil an der EU-Gesamtbevölkerung. Wird dieser Prozess weiterge-
führt, so erscheint es problematisch, dass eine knappe Bevölkerungsmehrheit
ausreichen würde, um in der EU Entscheidungen mit großer Tragweite und mit
Wirkung für alle Mitgliedstaaten und ihre Bürger zu legitimieren. Ziel einer
Reform der Stimmengewichtung muss es daher sein, ein stärkeres repräsentati-
ves Gleichgewicht der Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

Größe und Zusammensetzung der EU-Kommission

Bisher gilt das Prinzip, dass jedes Land mindestens eine/einen EU-Kommis-
sarin/EU-Kommissar stellt und die „Großen“ (Deutschland, Frankreich, Groß-
britannien und Italien) je zwei. Bei Beibehaltung dieses Prinzips würde die EU-
Kommission auf über 30 Kommissare anwachsen. Bereits heute bereitet die
sachgerechte Aufteilung der Kompetenzen und Geschäftsbereiche innerhalb
der Kommission mit 20 Mitgliedern große Probleme. Eine effiziente Arbeit als
Kollegium wäre unter diesen Bedingungen nicht möglich. Deshalb muss die
Regierungskonferenz über die zukünftige Größe der Kommission und ihre
Aufgabenverteilung beraten und entscheiden.

Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat

Mit dem Amsterdamer Vertrag wurden Mehrheitsentscheidungen deutlich aus-
geweitet. Jetzt soll es darum gehen, dieses Prinzip zur Regel und Einstimmig-
keit zur – zuvor definierten – Ausnahme zu machen. Für die überstimmten
Staaten heißt das: Sie müssen die beschlossene Politik auch gegen ihren Willen
durchführen.
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Verstärkte Zusammenarbeit zwischen einzelnen EU-Staaten

Die Möglichkeit verstärkter Zusammenarbeit ist in der EU durchaus umstritten.
Gerade kleinere Mitgliedstaaten und eine Reihe von Beitrittskandidaten weisen
zu Recht darauf hin, dass aus der Verstärkten Zusammenarbeit europäische
Kerne oder Gravitationszentren hervorgehen können. Die verstärkte Zusam-
menarbeit kann Demokratieprobleme mit sich bringen, wenn das Europäische
Parlament tatsächlich nur „unterrichtet“ werden muss und nicht mitentscheidet
und nationale Parlamente außen vor bleiben.

Die erst 1997 in den Vertrag aufgenommene verstärkte Zusammenarbeit soll
auf Wunsch der EU-Kommission und einiger Regierungen durch die jetzige
Regierungskonferenz in einigen wesentlichen Punkten verändert werden: das
indirekte Veto für das Zustandekommen von verstärkter Zusammenarbeit soll
abgeschafft werden, anstelle von 50 % plus 1 Mitgliedstaat sollen in Zukunft
nur noch ein Drittel mitmachen müssen, damit verstärkte Zusammenarbeit
stattfinden kann, verstärkte Zusammenarbeit soll künftig auch im Bereich der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik möglich sein.

Europäisches Parlament

Die Erweiterung der EU macht auch eine Reform des Europäischen Parla-
ments notwendig, da auf der einen Seite viele neue Mitgliedstaaten und damit
auch Abgeordnete hinzukommen, auf der anderen Seite aber das Parlament
arbeitsfähig sein muss, d. h. die Zahl der Abgeordneten nicht unbegrenzt aus-
dehnbar ist. Legt man den gegenwärtigen Verteilungsschlüssel zu Grunde, hätte
das Europäische Parlament nach der Erweiterung bei 28 Mitgliedern über 1000
Abgeordnete. Der Amsterdamer Vertrag legt eine Obergrenze von 700 Abge-
ordneten fest. Das Europäische Parlament fordert zusätzlich die Wahl von
70 Abgeordneten über europäische Listen. Bei zu treffenden Veränderungen ist
gleichfalls zu beachten, dass auch im Europäischen Parlament die Größe der
jeweiligen Bevölkerung beachtet werden muss, damit es repräsentativ ist.

II.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich auf dem Euro-
päischen Rat in Nizza für folgende Ziele einzusetzen:

1. Ziel aller Reformen muss die Schaffung einer demokratischen, sozialen und
ökologischen EU sein. Dem Anspruch einer demokratischen Entwicklung
kann die EU nur gerecht werden, wenn der Integrationsprozess gleichzeitig
vertieft und auch in seinem neuen Umfeld fortgesetzt und intensiviert wird.

2. Die Stimmengewichtung im Rat soll nach dem wesentlich gerechteren und
durchschaubareren Verfahren der doppelten einfachen Mehrheit erfolgen.

3. Die Größe der Kommission soll auf eine feste Zahl von Kommissaren
begrenzt werden, der Begrenzungsschlüssel sich nach den Aufgaben der
Kommission richten. Zur Sicherung einer Vertretung aller Mitgliedstaaten
in einem mittelfristigen Zeitraum sollten ein Rotationsprinzip und/bzw.
„Staatssekretärsstrukturen“ unterhalb der Kommissarebene eingerichtet
werden. Hierdurch würden die Repräsentanz aller EU-Mitglieder in der
Kommission und deren kollektiver Charakter gesichert. Gleichzeitig muss
das Europäische Parlament neben stärkeren Kontrollrechten über die Aus-
wahl der Kommissare mitentscheiden sowie den Kommissionspräsidenten
und die Kommissare wählen. Die Kommissare sollten individuell verant-
wortlich werden.
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4. Mehrheitsentscheidungen im Rat müssen in Zukunft die Regel bilden und
Ausnahmen davon festgelegt werden. Zu ihnen sollten Vertragsänderungen,
Finanzpolitik sowie Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehören. Alle
Mehrheitsentscheidungen müssen dabei an die Mitentscheidung durch das
Europäische Parlament gebunden werden, so dass mit einer Ausweitung von
Mehrheitsentscheidungen die Rolle und die Bedeutung des Europäischen
Parlaments steigen.

5. Jede Aufweichung der im Amsterdamer Vertrag fixierten Kriterien für das
Zustandekommen von verstärkter Zusammenarbeit wird abgelehnt. Das
Europäische Parlament muss bei verstärkter Zusammenarbeit grundsätzlich
mitentscheiden.

6. Die Bundesregierung sollte vorschlagen, dass der Europäische Rat keine
eigenen Vorstellungen zur Reform des Europäischen Parlaments verabschie-
det sondern das Europäische Parlament beauftragt wird, bis zu einem be-
stimmten Zeitraum Vorschläge zur Reform seines Parlaments selbst zu erar-
beiten.

7. Der Gipfel in Nizza muss mit einer klaren Zeitperspektive für eine neue Re-
gierungskonferenz abgeschlossen werden. Zu deren Aufgaben gehören vor
allem die Verankerung der Grundrechtecharta in den Verträgen, eine Kom-
petenzabgrenzung zwischen EU- und nationaler Ebene und die Neuordnung
der Verträge. Aber auch die Forderungen nach einem sozialen und ökologi-
schen Europa, einer umfassenden Demokratisierung der EU, der demokrati-
schen Kontrolle der Europäischen Zentralbank nach stärkerer Transparenz
der europäischen Entscheidungsprozesse und nach mehr Bürgernähe und
Bürgerbeteiligung sollten auf die Tagesordnung der Nachfolgekonferenz ge-
setzt werden.

8. Die Weiterentwicklung der EU sollte in Zukunft nicht allein durch Regie-
rungskonferenzen vorgenommen werden. Als eine Möglichkeit, Reformen
der EU demokratischer in Angriff zu nehmen, sollte die Einsetzung eines
Konvents für die Erarbeitung von Vorschlägen im Vorlauf der nächsten Re-
gierungskonferenz gefordert werden

Berlin, den 17. November 2000

Uwe Hiksch
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Dr. Dietmar Bartsch
Manfred Müller (Berlin)
Roland Claus und Fraktion

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