BT-Drucksache 14/4653

Die Europäische Union als Zivilmacht ausbauen

Vom 17. November 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

17. 11. 2000

Antrag

der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Uwe Hiksch, Carsten
Hübner, Heidi Lippmann, Manfred Müller (Berlin), Roland Claus und der Fraktion
der PDS

Die Europäische Union als Zivilmacht ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Auf dem Gipfel von Nizza will der Europäische Rat die politisch-militärischen
Institutionen für militärische Kriseninterventionen der EU endgültig einrichten
und über das Zustandekommen und die Zusammensetzung einer Schnellen
Eingreiftruppe der EU beraten. Mit den „European Headline Goals“ wurden in
Helsinki im Dezember 1999 bereits die Weichen für Krisenreaktionskräfte im
Umfang von 60 000 Soldaten gestellt. Folgt man den dort vereinbarten Zielen,
so muss die EU insgesamt, d. h. für die Dauer eines Jahres, ein Militärkontin-
gent von über 200 000 Soldatinnen und Soldaten aller Waffengattungen bereit-
stellen. Die militärischen Planungen sehen vor, dass die Eingreiftruppe in der
Lage sein soll, für diesen Zeitraum, einen großen Krieg, zwei mittlere Kriege
oder mehrere kleine Militäroperationen zugleich durchführen zu können. Der
vor allem von den großen EU-Mitgliedstaaten vorangetriebene Versuch, die EU
auch als militärische Interventionsmacht zu formieren, bedingt, dass die Mit-
gliedstaaten in den nächsten Jahren aufwändige Programme qualitativer Auf-
rüstung auflegen müssen. Und dies in einer Situation, in der für die vorgese-
hene Osterweiterung der Union und für die notwendige Aufbauhilfe für Süd-
osteuropa beträchtliche finanzielle Mittel der EU mobilisiert werden müssten.

Die EU steht bei ihrem Gipfel in Nizza (Dezember 2000) daher am Scheide-
weg:

1. Soll sie sich als neuer weltpolitischer Akteur formieren, der sich auf Inter-
ventionstruppen stützt oder soll sie ihre Rolle als zivil orientierte, wirt-
schaftliche Macht weiterentwickeln?

Will sie ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) auf militä-
rische Instrumente oder auf ihre Fähigkeiten der diplomatischen Vermitt-
lung, des wirtschaftlichen und sozialen Interessenausgleichs, der umfassen-
den Kooperation gründen?

2. Strebt die EU danach, sich als exklusiver und dominanter Machtblock auf
dem eurasischen Kontinent zu präsentieren, oder will sie darauf hinwirken,
die gesamteuropäischen Strukturen unter dem Dach der OSZE fortzuent-
wickeln?
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Sollen militärisch geprägte Strukturen verfestigt werden, die auf der Aus-
grenzung Rußlands und der Ukraine beruhen, oder sollen die Anstrengun-
gen zum Aufbau einer alle Staaten einbeziehenden Sicherheitsarchitektur
verstärkt werden?

3. Will die EU in den nächsten Jahren nicht unerhebliche Teile ihrer Ge-
meinschaftsressourcen durch umfangreiche militärische Beschaffungspro-
gramme binden, oder will sie diese Mittel für die Integration und Förderung
der Staaten Osteuropas bzw. Südosteuropas aufbringen?

4. Sollen durch die Ausprägung der EU als Militärunion die bestehenden
Machthierarchien innerhalb der Union weiter verstärkt oder sollen die Chan-
cen zur möglichst gleichberechtigten Partizipation für alle Mitgliedstaaten
ausgebaut werden?

Soll die demokratische Einflussnahme der nationalen Parlamente und des
Europaparlaments weiter eingeschränkt oder ausgeweitet werden?

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,





sich allen Plänen eines militärischen Engagements der EU „in und um
Europa“ zu widersetzen,





der Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe der EU nicht zuzustimmen,





anzukündigen, dass den EU-„Krisenreaktionskräften“ keine deutschen Kon-
tingente zur Verfügung gestellt werden,





der Einrichtung eines Militärausschusses und eines Militärstabes beim Rat
der EU nicht zuzustimmen und sich daran nicht zu beteiligen,





der in Aussicht genommenen Rüstungsmodernisierung und Aufrüstung eine
klare Absage zu erteilen und die Bewilligung von Finanzmitteln für diese
Programme aus den EU-Haushalten kategorisch zu verweigern,





am Konsensprinzip bei Entscheidungen des Rates über sicherheits- und
militärpolitische Fragen festzuhalten, und die Entscheidungsbefugnis der
jeweiligen Parlamente über militärische Einsätze nicht weiter auszuhöhlen,





zu erklären, dass für sie der Ausbau der zivilen und kooperativen Sicher-
heitsstrukturen im Rahmen der OSZE absoluten Vorrang haben wird,





darauf hinzuwirken, dass, der Maßgabe ziviler Krisenvorbeugung entspre-
chend, die Rüstungsexportpolitik der EU-Staaten auf möglichst restriktivem
Niveau harmonisiert wird.

Berlin, den 17. November 2000

Wolfgang Gehrcke
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Carsten Hübner
Heidi Lippmann
Manfred Müller (Berlin)
Roland Claus und Fraktion
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Begründung

Mit der Übernahme der sog. Petersberg-Aufgaben in den Vertrag von Amster-
dam hat sich die EU die Aufgabe zu Eigen gemacht, militärische Einsätze
durchzuführen – von humanitären Aktionen bis zur massiven Kriegsführung,
die Friedensschaffung genannt wird. Zur Umsetzung dieser Festlegung sollen
nunmehr militärisch-politische Strukturen etabliert und umfangreiche Truppen-
kontingente bereitgestellt werden. Mit diesen Kampfverbänden will die EU die
„Fähigkeit zu autonomem Handeln“ erlangen. Ihr Einsatz soll zwar „im Ein-
klang mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen“ erfolgen, strikt ge-
bunden an die Regeln des geltenden Völkerrechts ist er nicht. Nachdem bereits
die NATO mit dem Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und der Ver-
abschiedung des neuen Strategiedokuments auf dem Washingtoner Gipfel im
April 1999 die Völkerrechtsordnung geschwächt hat, sind weitere Verstöße ge-
gen das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen vorgezeichnet. Statt sich nun
die Attribute militärischer Macht zuzulegen, wäre es die vorrangige Aufgabe
der EU, die Herrschaft des Rechts in den Internationalen Beziehungen zu stär-
ken. Für die Friedenssicherung in der Welt bleiben die Vereinten Nationen zu-
ständig.

Die EU möchte sich künftig als gleichberechtigter weltpolitischer Akteur neben
den USA etablieren. Insbesondere die Fähigkeiten der USA zur militärischen
Machtentfaltung im globalen Maßstab („global power projection“) werden zum
Maßstab gemacht, an dem sich die Politische Union Europa künftig orientieren
müsse. Doch auf diesem Felde kann Europa nicht mit den USA konkurrieren
und soll es auch nicht. Die Überwindung der unipolaren Weltordnung verlangt
eine stärkere internationale Rolle der EU. Dabei soll sich die EU aber auf ihre
eigenen Stärken besinnen und diese ausbauen. Die EU sollte eine Zivilmacht
bleiben, eine Staatenallianz, die ihre Ressourcen auf die Förderung einer nach-
haltigen Entwicklung, des sozialen Wohlstandes und des politischen Interessen-
ausgleichs konzentriert.

Der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) kommt daher primär
die Aufgabe zu, die zivile Krisenvorbeugung und nichtmilitärische Konflikt-
lösungen in Europa und den Anrainerregionen voranzubringen. Gebraucht wer-
den kohärente Konzepte für die Stärkung der Vertrauensbildung und Zusam-
menarbeit im Mittelmeerraum, eine aktivere Politik zur Unterstützung eines
Friedensprozesses im Nahen Osten und praktische Schritte zur Beschleunigung
der Öffnung der EU für die Staaten Ost- bzw. Südosteuropas. Die fiktiven mili-
tärischen Einsatzszenarien, die der Aufstellung der EU-Eingreiftruppe zu-
grunde liegen, haben nur eine Funktion: Sie fördern das Denken in Kategorien
militärischer „Problemlösung“ und setzen die Schwelle zum Einsatz militäri-
scher Gewalt herab. Schließlich führen sie dazu, Ressourcen, die für friedliche
Krisenvorbeugung dringend gebraucht würden, abzuziehen und in umfang-
reiche Aufrüstungsprojekte umzulenken.

Die geplante Modernisierung der Rüstungsarsenale der EU-Mitgliedstaaten,
der Versuch, die rüstungstechnologischen Vorsprünge der USA im Eilmarsch
aufzuholen, werden erhebliche Mittel in den Mitgliedstaaten binden – gegebe-
nenfalls auch in wachsendem Maße Finanzen der EU selbst. Für die Beschaf-
fung des als vorrangig erachteten Großraumtransportflugzeuges werden gegen-
wärtig weit über 60 Mrd. DM veranschlagt. Hinzu kommen Ausgaben für
Satellitenaufklärung und neue Kommando- und Kommunikationseinrichtun-
gen. Der Druck auf die EU, entsprechende Mittel einzustellen – zu Lasten an-
derer Etats – wird wachsen. Die damit einhergehende Stärkung des militärisch-
industriellen Komplexes wird im Übrigen auch den Anreiz und die „Notwen-
digkeit“ erhöhen, wieder mehr Rüstungsgüter und Kriegswaffen aus dem EU-
Bereich auszuführen. Mit der Verstärkung des Rüstungsexports jedoch wird die
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Welt nur noch unsicherer gemacht, werden die Bemühungen zur zivilen Kri-
senprävention geradezu konterkariert.

Gleichzeitig steht in den nächsten Jahren die Osterweiterung der EU ebenso
auf der Tagesordnung wie Integrationsaufgaben gegenüber Südosteuropa und
Beiträge zur Stabilisierung eines demokratischen Russlands. Auch sicherheits-
politisch scheint vor diesem Hintergrund die Verfestigung von westeuropäisch
dominierten Separatstrukturen verfehlt. Auf die Agenda gehören stattdessen
energische Schritte zur Entwicklung einer gesamteuropäischen Sicherheits-
architektur.

Aus diesen Gründen sollte der Europäische Rat in Nizza die Notbremse ziehen
und die militärischen Planungen ad acta legen.

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