BT-Drucksache 14/4640

Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - 14/4230, 14/4630

Vom 15. November 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

15. 11. 2000

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn,
Dr. Heidi Knake-Werner, Pia Maier, Rosel Neuhäuser, Dr. Uwe-Jens Rössel,
Christina Schenk und der Fraktion der PDS

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksachen 14/4230, 14/4630 –

Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, bei der Reform der
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach folgenden Grundsätzen
vorzugehen:

1. Das Rentenreformgesetz 1999 wird für ein weiteres Jahr – bei Beibehaltung
der jetzigen bis 31. Dezember 2000 geltenden Regelungen des Gesetzes zu
Korrekturen in den Sozialversicherungen – bis zum 31. Dezember 2001 aus-
gesetzt. Zugleich wird der vorliegende Gesetzentwurf zurückgenommen.
Diese Schritte erfolgen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Standpunkte der
verschiedenen Seiten (Menschen, die von Berufs- und Erwerbsunfähigkeit,
Schwerbehinderung, chronischer Erkrankung sowie Erwerbsminderung be-
troffen sind und ihrer Interessenverbände sowie der Renten- und Kranken-
kassen als auch der Arbeitgeber und ihren Vertretungen) anzunähern und
einen überarbeiteten Gesetzentwurf vorzulegen.

2. Eine gesetzliche Neuordnung der Berufs- und Erwerbsunfähgigkeitsrenten
erfolgt in Abwägung mit der Gesamtrentenreform, weiteren gesetzlichen
Vorhaben im Bereich der Behindertenpolitik, Rehabilitation und Pflegever-
sicherung sowie im Zusammenhang mit leistungsgesetzlichen Regelungen
für Menschen mit Behinderungen. Der bisher geltende Berufsschutz durch
die Berufsunfähigkeitsrente sowie die Begutachtungs- und Einstufungs-
kriterien für Erwerbsminderung, Erwerbs- und Berufsunfähigkeit sind bei-
zubehalten. Beim Suchen von sozial tragfähigen Lösungen sind vorhandene
Erfahrungen und Bewertungskriterien im Sinne der Betroffenen zu berück-
sichtigen.
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3. Die sachgerechte Zuordnung des Arbeitsmarktrisikos bei Erwerbsminde-
rung zwischen Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung ist durch
Bundeszuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit so zu kompensieren, dass
die Rentenversicherungsträger entsprechend entlastet werden.

4. Falls bis zum 31. Dezember 2001 keine sozial tragfähige Lösung gefunden
und vereinbart werden kann, wird das Rentenreformgesetz 1999 um ein wei-
teres Jahr bis zum 31. Dezember 2002 ausgesetzt. Wird auch dann keine wie
oben benannte Lösung erreicht, tritt mit Wirkung vom 1. Januar 2003 der
Rechtszustand vor dem Rentenreformgesetz 1999 wieder dauerhaft in Kraft.

Berlin, den 15. November 2000

Dr. Ilja Seifert
Monika Balt
Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Heidi Knake-Werner
Pia Maier
Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Roland Claus und Fraktion

Begründung

1. Durch den Regierungswechsel und das noch 1998 verabschiedete „Gesetz
zu Korrekturen in den Sozialversicherungen“ wurden einige Punkte des
Rentenreformgesetzes der CDU/CSU-FDP-Koalition (sog. RRG 1999) bis
zum 31. Dezember 2000 ausgesetzt, um die Berufs- und Erwerbsunfähig-
keitsrenten zu reformieren. Zugleich hatten SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN in ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt, in einer eigenen
Rentenstrukturreform schrittweise eine bedarfsorientierte und steuerfinan-
zierte Grundsicherung zur Vermeidung von Armut im Alter und bei dauer-
hafter Erwerbsunfähigkeit einzuführen. Diese Zielstellung wird mit dem
vorgelegten Gesetzentwurf zur Reform der Renten wegen verminderter Er-
werbsfähigkeit verfehlt.

2. Durch die im Gesetzentwurf vorgesehene Ausgestaltung der Erwerbsminde-
rungsrenten, der geplanten Abschläge für vorzeitige Inanspruchnahme von
Altersrente und das Hinausschieben der Altersrenteneinstiegsregelungen für
Schwerbehinderte, Berufs- und Erwerbsunfähige ergeben sich für chronisch
Kranke und Menschen mit Behinderungen erhebliche finanzielle Einschrän-
kungen und soziale Benachteiligungen. Dringend notwendige Transparenz
und Vereinfachungen werden nicht erreicht; der vorgelegte Gesetzentwurf
verkompliziert das Recht für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
für alle Beteiligten.

3. Durch die im Gesetzentwurf vorgesehene Einführung eines Zweistufen-
modells mit modifizierter konkreter Betrachtungsweise kommt es zur Preis-
gabe bewährter und eingespielter Orientierungsrahmen sowie Einstufungs-
kriterien bei der Bewertung von Erwerbsminderung. Das führt zu zahl-
reichen Unklarheiten in den Bewertungsverfahren sowie zu Verunsicherun-
gen bei den Betroffenen. Die Gefahr einer deutlich höheren Anzahl von
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Rechtsstreitigkeiten wäre die Folge. Die Gewährung von Leistungsansprü-
chen auf Erwerbsminderungsrente würde sich in vielen Fällen erheblich ver-
zögern, so dass der Großteil der Betroffenen auf Sozialhilfe – verbunden mit
Bedürftigkeitsprüfungen – angewiesen wäre.

4. Durch die im Gesetzentwurf vorgesehene Anhebung des Renteneintritts-
alters für Erwerbsgeminderte und Schwerbehinderte von 60 auf 63 Jahre
aus Gründen der „sozialen Symmetrie“ bei gleichzeitiger Einführung einer
Abschlagszahlung von bis zu 10,8 % bei vorzeitigem Rentenbeginn kommt
es zu finanzieller, materieller und sozialer Benachteiligung der davon betrof-
fenen Menschen .

5. Durch die im Gesetzentwurf vorgesehene grundsätzliche Abschaffung der
Berufsunfähigkeitsrente kommt es (trotz vorhandener Vertrauensschutzrege-
lungen) zum Abbau des Berufsschutzes und zu einer Demotivierung bei der
Qualifizierungs- und Bildungsbereitschaft, besonders für jüngere Menschen.
Dies würde auch für solche verantwortungsvollen Berufe gelten, die nicht
höheren akademischen Berufsgruppen zuzuordnen sind. Dadurch hätten
z. B. Kraftfahrer, Dachdecker, Kindergärtnerinnen, Altenpflegerinnen, Haus-
warte, Bäcker u. a. bei einer privaten Versicherung des Risikos wegen
Berufsunfähigkeit Risikozuschläge zwischen 50 und 200 % hinzunehmen.
Insofern ist auch der Hinweis auf die angeblich zu beseitigende Privilegie-
rung akademischer Berufe durch die bisherige Berufsunfähigkeitsrente nicht
nachvollziehbar.

6. Durch die im Gesetzentwurf vorgesehene Umkehrung des Regel-Aus-
nahme-Verhältnisses von Regel Dauerrente in Regel Zeitrente wird eine be-
währte Verwaltungspraxis in ihr Gegenteil verkehrt, obwohl aus verwal-
tungstechnischer sowie aus sozialmedizinischer Sicht kein Änderungsbe-
darf besteht und auch nicht angemeldet wurde. Wenn – wie jetzt im Gesetz-
entwurf vorgesehen – Erwerbsminderungsrente in der Regel als Zeitrente
geleistet werden soll, so erfolgt dies auf Kosten von gesundheitlich und so-
zial Benachteiligten. Es kommt hinzu, dass diese Renten dann frühestens
vom Beginn des siebten Monats nach Eintritt des „Versicherungsfalls“ zu
zahlen sind. Auf diese Weise werden Kosten von den Rentenversicherung-
trägern in die gesetzliche Krankenversicherung und indirekt auch auf die
Sozialhilfeträger verschoben. Allein für die gesetzliche Krankenversiche-
rung wird mit einer Kostenbelastung von ca. 1 Mrd. DM gerechnet.

7. Durch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen wird die Lebens-
situation von Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten bzw.
mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen erschwert, ohne dass andere Nach-
teilsausgleiche wirksam werden. So werden berechtigte Forderungen zur
sozialen Absicherung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinde-
rung von Geburt an (Werkstatt für Behinderte – WfB – und Fördergruppen
unter dem verlängerten Dach der WfB) und deren Eltern nicht ausreichend
gelöst, wie das z. B. die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit
geistiger Behinderung e. V. seit Jahren vorträgt.

8. Der Bundesregierung ist seit zwei Jahren bekannt, dass die von ihr be-
schlossene Aussetzung der Blümschen Rentenreform (RRG 1999) zum
31. Dezember 2000 ausläuft Sie hat es aber versäumt, in der Zwischenzeit
konsensfähige und für alle Seiten tragfähige Vorschläge für die Erwerbs-
minderungsrente vorzulegen, die zu keiner Verschlechterung der Lebens-
situation für eine größere Anzahl von Menschen mit Behinderungen, chro-
nisch Kranken bzw. mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Der
im Gesetzentwurf vorgesehene Vertrauensschutz ist zwar zu begrüßen, er
bleibt jedoch unzureichend. Die mit dem Rentenreformgesetz 1999 vorge-
sehenen Leistungskürzungen werden – wie auch vom Deutschen Gewerk-
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schaftsbund (DGB) eingeschätzt – größtenteils mit umgesetzt. Insofern stellt
der vorliegende Gesetzentwurf einen deutlichen Bruch mit dem Solidar-
gedanken der gesetzlichen Sozialversicherungsysteme dar.

9. Die Rücknahme des vorliegenden Gesetzentwurfs und die gesetzliche Fest-
legung, die gegenwärtig gültige Rechtslage bezüglich der Erwerbs- und
Berufsunfähigkeitsrenten um mindestens ein weiteres Jahr bis zum
31. Dezember 2001 beizubehalten (und das RRG 1999 entsprechend nicht in
Kraft zu setzen), würde es ermöglichen, die Forderungen von Sozial- und
Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Organisationen von Menschen
mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen besser als bisher zu be-
rücksichtigen und insbesondere

– eine Gesamtabwägung mit den im Referentenentwurf der Bundesregie-
rung zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines Auf-
baus von Vermögen zur Altersvorsorge vorgesehenen Regelungen vorzu-
nehmen,

– eine Reform der Erwerbsminderungsrenten mit anderen Gesetzvorhaben
der Bundesregierung abzustimmen, wie z. B. dem als Referentenentwurf
vorgelegten Sozialgesetzbuch IX, einem Gleichstellungsgesetz für Men-
schen mit Behinderungen, Vorhaben zur Reformierung der Pflegever-
sicherung, sowie

– Konzepte für ein von Wohlfahrts-, Sozial- und Behindertenverbänden ge-
fordertes Leistungsgesetz in das Gesetzgebungsverfahren einzubeziehen.

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