BT-Drucksache 14/4606

Nationale Nachhaltigkeitsstrategie

Vom 15. November 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4606
14. Wahlperiode 15. 11. 2000

Antrag
der Abgeordneten Ursula Burchardt, Brigitte Adler, Doris Barnett, Ingrid
Becker-Inglau, Petra Bierwirth, Rudolf Binding, Rainer Brinkmann (Detmold),
Marion Caspers-Merk, Christel Deichmann, Detlef Dzembritzki, Ludwig Eich,
Iris Gleicke, Monika Griefahn, Reinhold Hemker, Frank Hempel, Ingrid Holzhüter,
Renate Jäger, Susanne Kastner, Ulrich Kelber, Karin Kortmann, Horst
Kubatschka, Helga Kühn-Mengel, Erika Lotz, Tobias Marhold, Christoph Matschie,
Heide Mattischeck, Ulrike Mehl, Angelika Mertens, Michael Müller (Düsseldorf),
Dietmar Nietan, Günter Oesinghaus, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dagmar
Schmidt (Meschede), Heinz Schmitt (Berg), Dr. R. Werner Schuster, Dr. Angelica
Schwall-Düren, Wolfgang Spanier, Jella Teuchner, Adelheid Tröscher, Dr. Ernst
Ulrich von Weizsäcker, Dr. Margrit Wetzel, Heidemarie Wright, Dr. Peter Struck
und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Franziska Eichstädt-Bohlig,
Hans-Josef Fell, Ulrike Höfken, Michaele Hustedt, Dr. Angelika Köster-Loßak,
Steffi Lemke, Dr. Reinhard Loske, Albert Schmidt (Hitzhofen), Sylvia Voß, Kerstin
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nationale Nachhaltigkeitsstrategie

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bei der UNCED-Konferenz in Rio 1992 haben sich nahezu alle Staaten der Welt
auf das Ziel einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung verständigt.
Das Leitbild Nachhaltigkeit ist die zentrale Reformperspektive für gesellschaft-
lichen Fortschritt im 21. Jahrhundert.

Nachhaltigkeit als Zukunftsmodell erfordert eine umfassende Modernisierung
von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft: Notwendig sind neue Produkte und Pro-
duktionsverfahren, neue Technologien, aber auch neue Managementtechniken
und Entscheidungsverfahren, neue Arbeitsformen, neue Werthaltungen, neue
Konsummuster und Verhaltensweisen. Innovationen in einem umfassenden,
technische, soziale und institutionelle Aspekte einschließenden Sinn des Begriffs
sind der Schlüssel für die Lösung der ökologischen, ökonomischen und sozialen
Kernfragen der Gegenwart und Zukunft.

Das Leitbild Nachhaltige Entwicklung gibt dem notwendigen Innovations- und
Modernisierungprozess die erforderliche Richtungssicherheit. Ökologische Mo-
dernisierung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung bedarf einer langfristigen
Vorausplanung, die diskursiv entwickelt und strategisch formuliert werden muss.
Ein „Weiter so, wie bisher“ bietet keine zukunftsfähige Perspektive. In Sicht-

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weite der Rio-Folgekonferenz „Rio plus 10“ gilt es deshalb jetzt, die Chancen
einer nachhaltigen Entwicklung konsequent zu nutzen.

Leitlinie für „Gutes Regieren“ / Good Governance:

Nachhaltige Entwicklung stellt die politischen Institutionen vor neue Herausfor-
derungen. Es gilt, neue Formen der politischen Kommunikation und des politi-
schen Managements zu entwickeln. Der ökonomische und soziale Fortschritt ist
so zu gestalten, dass die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes als Basis für
gleiche Entwicklungschancen und Wohlstand der heute lebenden und der kom-
menden Generationen erhalten bleibt. Dies kann nur als Querschnittsaufgabe
unter Beteiligung aller relevanten Fachpolitiken erfüllt werden. Langfristiges,
planvolles, zielorientiertes und ressortübergreifendes Handeln ist die richtige
Antwort auf den komplexen Entwicklungsauftrag von Rio und zugleich die zen-
trale Leitlinie für „Gutes Regieren“ im 21. Jahrhundert.

Die Kräfte der Zivilgesellschaft mobilisieren:

Die in der Agenda 21 geforderte Beteiligung von gesellschaftlichen Akteuren
wie z. B. Gewerkschaften, Verbänden, Kirchen, freien Initiativen, Frauen und
Jugend auf allen Ebenen macht soziale Innovationen, neue Meinungsbildungs-
und Entscheidungsverfahren unabdingbar. Sie fördern eine neue Kultur der Teil-
habe und Verantwortlichkeit und mobilisieren die Kräfte der Zivilgesellschaft.

Wettbewerbsvorteile und Marktchancen nutzen:

Für Unternehmen eröffnen sich durch Strategien zur Steigerung der Ressour-
ceneffizienz, durch optimierte Produktionsverfahren, innovative umweltge-
rechte Technologien, nachhaltige Produkte und neue Dienstleistungen erhebli-
che Wettbewerbsvorteile und Marktchancen. Damit verbinden sich Chancen auf
neue Qualifikationen und neue Berufsfelder. Viele Unternehmen nutzen diese
Chancen schon heute. Konsequent nachhaltige Umweltpolitik unterstützt diese
Entwicklung und sichert durch den Export von umweltfreundlichen und ressour-
censchonenden Produkten und Techniken Arbeitsplätze.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt:

1. dass die Bundesregierung in wichtigen Bereichen wie dem Atomausstieg, der
Energiepolitik, dem Klimaschutz, der Konsolidierung der Staatsfinanzen und
mit den Reformen für mehr Generationengerechtigkeit bereits wichtige Wei-
chen für eine nachhaltige Entwicklung gestellt hat;

2. die mit dem Kabinettsbeschluss vom 26. Juli 2000 eingeleitete Umsetzung der
im Bundestagsbeschluss vom 20. Januar 2000 enthaltenen Kernforderungen
für eine nachhaltige Entwicklung in Deutschland;

3. die Entscheidung der Bundesregierung, eine nationale Strategie für eine nach-
haltige Entwicklung zu erarbeiten und die Federführung beim Kanzleramt
anzusiedeln. Damit ist eine zentrale Forderung der Enquete-Kommission
„Schutz des Menschen und der Umwelt“ umgesetzt worden. Eine solche
Gesamtstrategie gibt den bereits vorhandenen vielfältigen Aktivitäten z. B.
auf kommunaler Ebene, in Unternehmen, Verbänden und freien Initiativen
einen wichtigen Orientierungsrahmen;

4. die Einsetzung des Staatssekretärsausschusses bestehend aus Mitgliedern
aller relevanten Ressorts, der die nationale Nachhaltigkeitsstrategie entwi-
ckeln soll, beginnend mit „Klimaschutz“ und „umweltgerechte Mobilität“;

5. die Berufung eines Rates für nachhaltige Entwicklung, der sich aus Personen
des öffentlichen Lebens zusammensetzt. Der Rat soll grundlegende Anfor-
derungen und Ziele einer nachhaltigen Entwicklung formulieren, konkrete
Lösungsstrategien vorschlagen und den öffentlichen Dialog über Nutzen und
Ziele einer nachhaltigen Entwicklung anstoßen. Die Berufung des Rates über
die Dauer der Legislaturperiode hinaus dokumentiert die langfristige Orien-
tierung des Prozesses;

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6. den Vorschlag der Bundesregierung die Finanzierung dieses Vorhabens im
Haushalt abzusichern. Der Deutsche Bundestag wird eine Mittelausstattung
sicherstellen, die der Bedeutung des Themas Rechnung trägt. Eine Überprü-
fung der Notwendigkeit und Effizienz vorhandener Beratungsgremien ist in
diesem Zusammenhang sinnvoll.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. bis zum Gipfeltreffen „Rio plus 10“ eine kontinuierlich weiter zu entwi-
ckelnde, nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten und einen Katalog
von Indikatoren, Zielen und Maßnahmen für eine nachhaltige Entwicklung in
Deutschland festzulegen. Die Festlegung auf konkrete langfristige (z. B.
20 Jahre), mittelfristige (10 Jahre) und kurzfristige ( 5 Jahre) Zielvorgaben
ist eine entscheidende Voraussetzung für eine integrierte zielorientierte Poli-
tikformulierung. Konkrete Zielvorgaben ermöglichen Transparenz und Er-
folgskontrolle und geben Planungssicherheit für die Akteure in den unter-
schiedlichsten Bereichen;

2. bei den zentralen Themenfeldern „Klimaschutz und Energiepolitik“ sowie
„Umweltschonende und sozialverträgliche Mobilität“ solche Projekte voran-
zutreiben, die besonders geeignet sind, Lösungen für einen sparenden und
schonenden Umgang mit unseren Ressourcen und der Natur sowie der Ver-
minderung von Treibhausgasemissionen zu bieten.

Angesichts der Endlichkeit fossiler Energieträger und der unsicheren Entwick-
lung, insbesondere der Preise für Kraftstoffe, wird es vor allem darauf ankom-
men, eine Strategie weg vom Öl zu entwickeln. Dazu sind umsetzungsorien-
tierte Projekte zu forcieren, die zur Steigerung der Energieeffizienz und der
Entwicklung von alternativen Energien sowie zur breiten Anwendung von in-
novativen Technologien im Verkehr, wie z. B. der Wasserstoff- und der Brenn-
stoffzellentechnologie sowie IT-gestützter Strategien zur Verkehrsvermeidung
und Vernetzung verschiedener Verkehrsträger beitragen und die Entwicklung
neuer Nutzungsformen und Dienstleistungskonzepte fördern helfen;

3. über die beiden Felder Klimaschutz und Mobilität hinaus weitere Handlungs-
felder als Teil der nationalen Strategie für eine nachhaltige Entwicklung zu
erarbeiten. Dazu gehören z. B. Bereiche wie die Sicherung der natürlichen
Lebensgrundlagen durch Natur- und Artenschutz, Bauen-Wohnen-Siedlungs-
entwicklung, Umwelt-Gesundheit-Ernährung, die nachhaltige Entwicklung
ländlicher Räume, ökoeffizientes Wirtschaften sowie der Ausbau der Um-
welt- und Entwicklungspartnerschaft mit Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern. Hierfür müssen attraktive Leitbilder unter Berücksichtigung zukunfts-
fähiger Konsummuster und Lebensstile erarbeitet werden. Wegen der
besonderen Aktualität des Themas ist das Projekt „Nachhaltige Wasserwirt-
schaft“ kurzfristig zum Bestandteil der Nachhaltigkeitsstrategie zu machen;

4. strategische Handlungsansätze anzuwenden und weiterzuentwickeln. Dazu
gehören Indikatoren für ein nachhaltiges haushaltspolitisches Denken oder
die Prüfung des Infrastrukturangebots und -bedarfs auf Nachhaltigkeit, dazu
gehört auch die Neuausrichtung von Förderprogrammen – etwa in Bezug auf
Entwicklung und Förderung zukunftsfähiger Technologien, Produkte und
Dienstleistungen –, die Entwicklung von zielführenden Managementinstru-
menten für Wirtschaft und Staat ebenso wie entsprechende ökonomische Rah-
menbedingungen, für die insbesondere im Kontext einer ökologischen
Finanzreform, der Internalisierung von Umweltschäden sowie durch Schaf-
fung ökonomischer Anreize für umweltgerechtes Verhalten Instrumente zur
Verfügung stehen. Dabei sollte auch die Nachfragemacht des Staates (10 bis
15 % des BIP) gezielt eingesetzt werden;

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5. für die erforderliche Akzeptanzsteigerung und Beteiligung der Öffentlich-
keit eine breitenwirksame Medien- und Bildungsoffensive zu erarbeiten, alle
ihr zur Verfügung stehenden Kommunikationsmöglichkeiten hierfür zu nut-
zen und entsprechende Mittel dafür bereitzustellen;

6. durch geeignete Maßnahmen die Arbeit von regionalen und lokalen Agenda-
prozessen zu unterstützen und dabei zum Aufbau von regionalen und über-
regionalen Netzwerken von Nichtregierungsorganisationen und freien Ini-
tiativen beizutragen;

7. für eine enge Abstimmung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie mit den
Aktivitäten auf europäischer Ebene zu sorgen. Mit dem Beschluss des Euro-
päischen Rates von Helsinki vom November 1999, bis 2001 eine europäi-
sche Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten und dem vom Europäischen Rat
in Biarritz gebilligten Entwurf der „Charta der Grundrechte“ der Euro-
päischen Union (insbesondere Artikel 37) sind auf europäischer Ebene
entscheidende Vorgaben gemacht, die umzusetzen sind, indem neben den
europäischen nationale Integrationsstrategien für die einzelnen Politiken
entwickelt werden. Deutschland sollte in der EU zum Motor des Nachhaltig-
keitsprozesses werden. Es gilt den in den Beschlüssen von Cardiff vorgese-
henen staatenübergreifenden Erfahrungsaustausch systematisch zu nutzen
und voranzutreiben. Aufgabe der Fachressorts des Bundes ist es, bei der eu-
ropapolitischen Politikformulierung nachhaltige Entwicklung als zentrale
Querschnittsaufgabe zu berücksichtigen. Aufgabe der Europastaatssekretäre
unter Federführung des Auswärtigen Amtes ist es, bei der Vertretung deut-
scher Interessen in der Europäischen Union nachhaltige Entwicklung in glei-
cher Weise als Querschnittsaufgabe zu behandeln, wie dies auf nationaler
Ebene geschieht. Darüber hinaus gilt es, die Chancen der Osterweiterung der
Europäischen Union im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu nutzen;

8. die bilaterale Kooperation mit Entwicklungs- und Schwellenländern und die
Vertretung Deutschlands in internationalen Organisationen intensiv für die
Fortschritte in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung zu nutzen. Es gilt
insbesondere zukunftsfähige konsistente Strategien der Welthandels- und
Finanzpolitik unter Berücksichtigung sicherheits- und friedenspolitischer
Aspekte einer zunehmenden Ressourcenverknappung zu nutzen;

9. dem Deutschen Bundestag regelmäßig alle zwei Jahre einen schriftlichen
Bericht zur Entwicklung und Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstra-
tegie zuzuleiten. Sie soll Ziele und Indikatoren für eine nachhaltige Entwick-
lung zu einem Monitoringsystem weiterentwickeln, das als Basis des regel-
mäßigen Berichts der Bundesregierung dienen und jederzeit ermöglichen
soll, Fortschritte zu überprüfen und Handlungsbedarf zu ermitteln;

10. dem Rat für nachhaltige Entwicklung zu empfehlen, seine Arbeit umset-
zungsorientiert und auf konkrete Handlungsfelder bezogen zu organisieren.
Hierzu kann es sinnvoll sein, themenbezogene Arbeits- und Beteiligungs-
strukturen unter Federführung jeweils einzelner Ratsmitglieder zu schaffen.
Der Rat für nachhaltige Entwicklung soll darüber hinaus aufgefordert wer-
den, den regelmäßigen Austausch mit dem Deutschen Bundestag zu suchen.

Berlin, den 15. November 2000

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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