BT-Drucksache 14/4544

Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume

Vom 8. November 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4544
14. Wahlperiode 08. 11. 2000

Antrag
der Abgeordneten Ursula Burchardt, Heidemarie Wright, Christel Deichmann,
Petra Bierwirth, Rainer Brinkmann (Detmold), Marion Caspers-Merk, Ludwig Eich,
Annette Faße, Iris Follak, Monika Ganseforth, Renate Gradistanac, Klaus
Hagemann, Anke Hartnagel, Reinhold Hemker, Gustav Herzog, Brunhilde Irber,
Renate Jäger, Jann-Peter Janssen, Susanne Kastner, Ulrich Kelber, Hans-Peter
Kemper, Marianne Klappert, Karin Kortmann, Horst Kubatschka, Helga Kühn-
Mengel, Werner Labsch, Erika Lotz, Christoph Matschie, Heide Mattischeck, Ulrike
Mehl, Michael Müller (Düsseldorf), Jutta Müller (Völklingen), Dietmar Nietan,
Eckhard Ohl, Manfred Opel, Holger Ortel, Dr. Carola Reimann, René Röspel, Gudrun
Roos, Birgit Roth (Speyer), Marlene Rupprecht, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Heinz
Schmitt (Berg), Karsten Schönfeld, Reinhard Schultz (Everswinkel), Dr. R. Werner
Schuster, Dr. Angelica Schwall-Düren, Wolfgang Spanier, Reinhold Strobl
(Amberg), Jella Teuchner, Matthias Weisheit, Lydia Westrich, Dr. Margrit Wetzel,
Jürgen Wieczorek (Böhlen), Dr. Norbert Wieczorek, Heino Wiese (Hannover),
Waltraud Wolff (Zielitz), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, Winfried
Hermann, Ulrike Höfken, Angelika Köster-Loßack, Steffi Lemke, Sylvia Voß, Kerstin
Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

– Mit der Verabschiedung der Agenda 21 auf der Konferenz für Umwelt und
Entwicklung in Rio hat das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung eine
zentrale Bedeutung in der weltweit geführten Diskussion um die Zukunft
menschlicher Gesellschaften erhalten. Es soll den Handlungsrahmen für alle
Politikbereiche bilden.

– Über die grundlegenden Anforderungen des Leitbildes einer nachhaltig zu-
kunftsfähigen Entwicklung besteht mittlerweile ein breiter gesellschaftlicher
Konsens. Mit nachhaltiger Entwicklung wird eine vorausschauende, lang-
fristig tragfähige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft angestrebt,
die die heutigen Ressourcen für kommende Gesellschaften bewahrt und zu-
gleich zu einer Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lebensverhält-
nisse führt. Nachhaltige Entwicklung ist als dynamischer Prozess zu verste-
hen, der nach einer ganzheitlichen und vorsorgeorientierten Politikgestal-
tung verlangt. Dies gilt auch für die Entwicklung ländlicher Räume.

Drucksache 14/4544 – 2 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

– Für die ländliche Entwicklungspolitik in Europa wurde mit der Verordnung
über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums (EAGFL-Ver-
ordnung, VO (EG) Nr. 1257/99) eine neue Grundlage geschaffen, die die
multifunktionale Rolle der Land- und Forstwirtschaft in den Mittelpunkt
stellt, aber auch außerlandwirtschaftliche Aktivitäten einschließt.

Wichtige Funktionen sind:

– Sicherung von Arbeit und Beschäftigung für die Bewohner des länd-
lichen Raumes;

– Produktion qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel;

– Sicherung der Natur- und einer abwechslungsreichen, attraktiven Kultur-
landschaft;

– Schaffung von Angeboten für Freizeit und Erholung im Sinne eines
nachhaltigen Tourismus;

– Sicherung der biologischen Vielfalt;

– Schutz und Regeneration von natürlichen Lebensgrundlagen;

– Produktion und Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen.

– Ländliche Räume mit ihrer von der Land- und Forstwirtschaft geprägten
Kulturlandschaft umfassen 80 % der Fläche des Bundesgebietes. Über
50 % unserer Bevölkerung wohnt in ländlichen Regionen. Globalisierung,
wirtschaftlich-technologische Umwälzungen und Wertewandel in der Ge-
sellschaft stellen ländliche Räume vor neue Herausforderungen. So sind
die gesellschaftlichen Ansprüche und Erwartungen an die Wirtschafts-,
Erholungs- und Ausgleichsfunktionen ländlicher Räume heute sehr viel
differenzierter als noch vor wenigen Jahren.

– Die große strukturelle und funktionelle Vielfalt der ländlichen Räume bietet
ein breites Spektrum von Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven, be-
inhaltet aber auch die Gefahr von Fehlentwicklungen. Wirtschaftlich pros-
perierende Regionen im Umfeld von Ballungsräumen stehen Regionen ge-
genüber, denen Funktionsverlust und soziale Erosion durch Abwanderung
drohen.

– Gerade jene Regionen werden wesentlich von der Land- und Forstwirtschaft
geprägt. Im Spannungsfeld zwischen hohem Ernährungs- und Qualitäts-
bewusstsein der Verbraucher sowie berechtigten Umweltanforderungen auf
der einen Seite, ökonomischen Anforderungen bei der Produktion und zu-
nehmend härterem internationalen Wettbewerb auf der anderen Seite, wird
es für viele land- und forstwirtschaftliche Betriebe zunehmend schwieriger,
sich im Markt zu behaupten.

– Vor spezifischen Herausforderungen stehen auch wirtschaftlich durchaus
prosperierende ländliche Regionen, die den zunehmenden Flächenbedarf
für eine wachsende Wirtschaft, für Siedlungszwecke sowie für Ausgleichs-
und Ersatzflächen im Zuge von Infrastrukturvorhaben zu spüren bekommen.
Angesichts der in diesen Regionen hohen Nachfrage nach Flächen verschär-
fen sich Flächennutzungskonflikte, denen mit gezielten Instrumenten Rech-
nung zu tragen ist.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/4544

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt die bisherigen Aktivitäten der Bundes-
regierung zur nachhaltigen Entwicklung ländlicher Räume.

– Mit den Beschlüssen zur Agenda 2000 wurde das Umfeld für eine nachhal-
tige ländliche Entwicklung deutlich verbessert. Unter deutscher Präsident-
schaft wurde die Europäische Agrarpolitik zu einer Politik für ländliche
Räume weiterentwickelt. Mit der so genannten „zweiten Säule“ der Gemein-
samen Agrarpolitik wird ausdrücklich anerkannt, dass Landwirtschaft und
ländlicher Raum über die Nahrungsproduktion hinaus vielfältige Aufgaben
für die Gesellschaft wahrzunehmen haben. Gleichermaßen wird die Not-
wendigkeit gesehen, alternative Einkommens- und Beschäftigungsmöglich-
keiten im ländlichen Raum zu schaffen, weil die Land- und Forstwirtschaft
allein nicht in der Lage ist, ländliche Räume wirtschaftlich stabil und intakt
zu halten.

– Auf nationaler Ebene wird die EU-Strategie zur Förderung der ländlichen
Entwicklung mit regionalen Länderprogrammen und der vom Bund mit-
finanzierten Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und
des Küstenschutzes“ flächendeckend umgesetzt. Mit den Beschlüssen des
Bund/Länder-Planungsausschusses für Agrarstruktur und Küstenschutz von
1999 zur Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe wurden wichtige
Signale hin zu einer verstärkten Förderung existenzsichernder Investitionen
im ländlichen Raum sowie zur Unterstützung einer umweltverträglichen
Landbewirtschaftung gesetzt. Ebenso wird mit der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ein wichtiger Beitrag zur
Entwicklung besonders strukturschwacher ländlicher Gebiete geleistet.

– Weitere Ansatzpunkte für eine nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume
und für eine standortangepasste Landbewirtschaftung wurden von der Bun-
desregierung genutzt. Beispielhaft sind zu nennen:

– Eine Beschäftigungsinitiative ländlicher Raum, die zusätzliche Anstöße
geben soll zur Erschließung bisher nicht ausgeschöpfter Beschäftigungs-
potenziale und zur Belebung des Investitionsklimas im ländlichen Raum.

– Die Entwicklung eines Konzepts zur Erhaltung der biologischen Vielfalt
im Wald.

– Der konzeptionelle Ausbau der Förderung des ökologischen Landbaus,
der zu einer stärkeren Verbreitung und Akzeptanz naturnaher Produk-
tionsweisen führen soll. Insbesondere durch die verbesserte Förderung
der Verarbeitung und Vermarktung von ökologisch erzeugten Nahrungs-
mitteln werden neue Absatzwege auch für die ländlichen Regionen ge-
schaffen.

– Eine Initiative zur Entwicklung eines nationalen Forstprogramms.

– Die Durchführung von Modellprojekten zur Erprobung spezieller Strate-
gien, die für andere Regionen beispielhaften Charakter haben können,
wie das Bund-Länder-Projekt „Dorf 2000“, das in zwölf ausgewählten
Dörfern weitere Ansatzpunkte einer integrierten ländlichen Entwicklung
einschließlich des ländlichen Tourismus aufzeigt.

– Die Bundesregierung sieht mit Recht ihre Herausforderung zur Stärkung
ländlicher Räume als länderübergreifende sowie internationale Zukunftsauf-
gabe. Beim informellen Rat der EU-Agrarminister in Dresden 1999 war die
nachhaltige ländliche Entwicklung der zentrale Themenschwerpunkt. Auf
der Internationalen Konferenz „rural21“ in Potsdam im Juni dieses Jahres
haben politische Entscheidungsträger, Bewohner ländlicher Räume und
Nichtregierungsorganisationen aus vielen Staaten dieser Erde Strategien für
eine nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume diskutiert und eine gemein-
same Position erarbeitet.

Drucksache 14/4544 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. übergreifende Ziele und Indikatoren für eine nachhaltige Entwicklung des
ländlichen Raumes festzulegen. Diese Ziele sollen ökologischen Mindest-
standards für den langfristigen Schutz der abiotischen und der biotischen
Ressourcen umfassen ebenso wie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des
ländlichen Raumes sowie die Absicherung sozial nicht tragbarer Risiken
bzw. die Erhaltung einer sozialen Infrastruktur;

2. im Rahmen der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern bei der
Förderung ländlicher Räume auf integrierte, sektorübergreifende Strategien
zu setzen, die den unterschiedlichen Entwicklungschancen und spezifischen
Potenzialen ländlicher Regionen gerecht werden;

3. Umwelt- und Naturschutzbelange noch stärker in der Agrarpolitik zu be-
rücksichtigen, indem

– die „gute fachliche Praxis“ unter Berücksichtigung von Praxiserfah-
rungen und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen durch überprüfbare
Kriterien weiterentwickelt wird,

– die bestehenden Möglichkeiten zur Förderung von umweltverträglichen
Produktionsverfahren ausgeschöpft und entsprechende nationale Förder-
programme entwickelt werden,

– verstärkt ökonomisch angemessene Anreize für eine dauerhaft umwelt-
verträgliche Landbewirtschaftung geschaffen werden,

– Information, Beratung und Aufklärung im Hinblick auf eine dauerhaft
umweltgerechte Landbewirtschaftung verbessert werden,

– eine dauerhaft umweltgerechte Bewirtschaftung, insbesondere auch der
Wälder, durch den Aufbau von Zertifizierungssystemen und ökologischer
Gütesiegel weiter voranzutreiben und damit Absatzwege und neue Be-
schäftigungschancen zu eröffnen,

– die Förderung des ökologischen Landbaus sowie die Weiterentwicklung
von Absatz und Handel mit dem Ziel des Ausbaus des ökologischen
Landbaus auf 10 % der Fläche in fünf Jahren konsequent vorangebracht
wird;

4. die finanzielle Unterstützung des Bundes bei der Strukturförderung der Län-
der auf die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen zu konzentrieren,
so u. a.

– durch Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit land- und forstwirtschaft-
licher Betriebe,

– durch Förderung von Einkommenskombinationen,

– durch Ausbau des Dienstleistungsangebots in ländlichen Regionen (u. a.
Tourismus – teilweise in Kombination mit der Vermarktung eigener
Produkte; Übernahme von Naturschutz- und Landschaftspflegearbeiten),

– durch Förderung von Regionalmarketing,

– durch Förderung der Verwendung nachwachsender Rohstoffe zur Einspa-
rung primärer Energien und zum Schutz der Erdatmosphäre;

5. zur Förderung einer standortangepassten land-, forst- und fischereiwirt-
schaftlichen Nutzung sowie zur gezielten Förderung einer nachhaltigen
Flächennutzung in FFH- und Vogelschutzgebieten die Gemeinschaftsauf-
gabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ weiter aus-
zubauen. Der Bund kommt damit auch seiner Verantwortung zur Unterstüt-
zung der Länder bei der Umsetzung der EU-Fördermaßnahmen zur
ländlichen Entwicklung nach;

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/4544

6. die raumwirksamen Instrumente wie Landschaftsplanung, Flächennutzungs-
planung, Flurbereinigung, Dorferneuerung und agrarstrukturelle Entwick-
lungsplanung weiterzuentwickeln und besser aufeinander abzustimmen.
Diese Optimierung kann dazu beitragen, durch vorausschauende Konzepte
für die nachhaltige Entwicklung des ländlichen Raumes die Lösung von
Flächennutzungskonflikten sowie die Durchführung von Programmen etwa
zur integrierten Dorfentwicklung zu verbessern. Dabei ist auch darauf zu
achten, dass die regionalen Leitbilder entsprechend ihrer Landschaftsaus-
prägung stärker differenziert werden;

7. bei Maßnahmen zur Förderung von Angeboten für Freizeit und Erholung
in ländlichen Räumen dafür Sorge zu tragen, dass diese im Sinne eines
nachhaltigen Tourismus gestaltet werden. Umweltbelastungen in Form von
Flächeninanspruchnahme durch touristische Infrastruktur, Emissionen von
Schadstoffen und Klimagasen durch Transport und Verkehr, Ressourcenver-
brauch durch Beherbergung und Verpflegung sowie der Störung und Gefähr-
dung wild lebender Tiere und Pflanzen durch Souvenirhandel und Freizeit-
aktivitäten in den Zielgebieten ist so weit wie möglich entgegenzuwirken;

8. die Bürgerinnen und Bürger länderübergreifend zu unterstützen, ihr Lebens-
umfeld durch Selbsthilfe eigenständig zu gestalten.

Durch Einbeziehung aller Akteure im ländlichen Raum und aller Politikbe-
reiche sollen mehr Ressourceneffizienz verwirklicht und die eigene Leis-
tungsfähigkeit ländlicher Regionen zum Nutzen der gesamten Bevölkerung
ausgeschöpft werden. Um eine solche Entwicklung im Sinne der Agenda 21
in Gang zu setzen, sind engagierte Experten vor Ort erforderlich. Entspre-
chende Strategien und Konzepte müssen entwickelt und erprobt werden;

Ländliche Bildungsträger sollen sich als Kristallisationspunkte für Gestal-
tungsprozesse unter Beteiligung aller Akteure im ländlichen Raum ver-
stehen.

Erfolgreich durchgeführte Maßnahmen sollen einer breiteren Öffentlichkeit
transparent gemacht werden, um so die Übertragung auf andere Regionen
und die gewünschte Breitenwirkung zu erleichtern.

Das Prinzip der strategischen Partnerschaft ist in Form von Netzwerken zu
stärken.

Berlin, den 8. November 2000

Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion

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