BT-Drucksache 14/4543

InterRegio für die Regionen erhalten

Vom 8. November 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4543
14. Wahlperiode 08. 11. 2000

Antrag
der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva-Maria Bulling-Schröter, Heidi Lippmann,
Uwe Hiksch, Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Ilja Seifert und der Fraktion der PDS

InterRegio für die Regionen erhalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Grunddaten des Schienenverkehrs legen die Konzentration auf den Nah-
und Regionalverkehr nahe. Die überwältigende Mehrheit der Reisenden
nutzt den Nahverkehr. Und selbst im Fernverkehr liegt die durchschnittliche
Reiseweite bei 230 Kilometern.

2. Die Entwicklung des Schienenverkehrs bestätigt diese Einschätzung. Seit
der Bahnreform stagniert der Fernverkehr; die durchschnittliche Reiseweite
ging hier sogar zurück – trotz des seither enorm ausgeweiteten ICE-Ver-
kehrs. Ein Wachstum, wenn auch ein unzureichendes, gab es ausschließlich
im Nahverkehr.

3. Der Regionalverkehr stellt ein entscheidendes Bindeglied zwischen Nah-
und Fernverkehr dar. In diesem Marktsegment sind die Chancen für ein
Wachstum des Schienenverkehrs besonders groß, weil der Schienenver-
kehrsanteil hier noch besonders niedrig ist. Zugleich liegt die Reiseweite
derjenigen, die in der Region Fernverkehrsreisen antreten, deutlich höher als
die derjenigen, die in städtischen Zentren Fernverkehrsreisen beginnen.

4. Der Interregio-Verkehr wurde Ende der achtziger Jahre vom Management
der damaligen Deutschen Bundesbahn gezielt als ein Produkt entwickelt,
das einerseits das große Marktsegment des Verkehrs zwischen Nah- und
Fernverkehr bedienen, und das andererseits in diesem Segment auch eine
dem InterCity-Verkehr vergleichbar hohe Qualität – mit Takt, Tempo und
Komfort – bieten sollte.

Diese Strategie war, Angaben der Bahn zufolge, bis Mitte der neunziger
Jahre durchaus erfolgreich: Die Züge des InterRegio-Verkehrs erwiesen sich
nach den Nahverkehrszügen als das Produkt mit den meisten Fahrgästen –
es zählte wesentlich mehr Fahrgäste als Züge des InterCity-/EuroCity- oder
des ICE-Verkehrs.

5. Der Verlust von Reisenden im InterRegio-Verkehr geht nicht auf eine ver-
schlechterte Nachfrage zurück. Belegbar sind vielmehr Verschlechterungen
in Angebot und Qualität, die vom Bahnmanagement vorgenommen wurden.
Entsprechend einer Entscheidung im Bahnmanagement aus dem Jahr 1996
wurden Angebot und Qualität im InterRegio-Verkehr systematisch beseitigt.

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6. Die Verkündung des Konzepts „Mora – Marktorientiertes Angebot“ vom
September 2000 sieht einen neuen und qualitativen Einschnitt im Fernver-
kehr der Bahn im Allgemeinen und im InterRegio-Verkehr im Besonderen
vor. Insgesamt sollen in den Jahren 2001 und 2003 Angebote im Fernver-
kehr entfallen, die bis zu 25 Prozent des Gesamtangebots im Fernverkehr
ausmachen. Das Produkt InterRegio wird damit insgesamt in Frage gestellt.
Ein ernsthafter Ersatz für diese nunmehr insgesamt gefährdete Zuggattung
ist nicht vorgesehen.

7. Eine Umsetzung des Konzepts hätte das „Ausrangieren“ von mehreren Hun-
dert konventionellen Reisezugwagen bereits im Jahr 2001 zur Folge; die
sich dann abzeichnende Verschrottung von Reisezugwagen wäre nicht nur
als „sorgloser Umgang mit Eigentum des Bundes“ zu bezeichnen. Ein derar-
tiger Aderlass an Beförderungskapazität wäre zudem nur unter Einsatz er-
heblicher finanzieller Mittel korrigierbar.

8. Zwar ist die Deutsche Bahn AG ein privatrechtlich geführtes Unternehmen.
Gleichzeitig ist die Bundespolitik jedoch auf dreifache Weise von der be-
schriebenen Entwicklung tangiert:

Erstens ist der Bund hundertprozentiger Eigentümer der Deutschen Bahn
AG.

Zweitens gibt es einen Verfassungsauftrag für den Schienenverkehr, der den
Bund verpflichtet, beim Erhalt und Ausbau der Schienenwege und bei den
Angeboten im Schienen-Fernverkehr den Verkehrsbedürfnissen Rechnung
zu tragen.

Drittens schließlich zielen die Streichungen der Deutschen Bahn AG im
Fernverkehr auf den zweckfremden Einsatz von Bundesmitteln, den „Regio-
nalisierungsgeldern“: Damit werden die Länder vor die Entscheidung ge-
stellt, entweder den Nahverkehr wie bisher zu bestellen, womit die Strei-
chungen im Fernverkehr und insbesondere bei den InterRegio-Zügen voll
„durchschlagen“, oder aber für reduzierte InterRegio-Verkehre teilweise Er-
satz zu schaffen, wodurch dann anderer Nahverkehr abzubestellen wäre.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. entsprechend den allgemeinen verkehrspolitischen Zielen, den umweltpoli-
tischen Anforderungen und den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag eine
Politik umzusetzen, wonach Verkehr von der Straße und von der Luft auf die
Schiene zu verlagern ist;

2. in ihrer Eigenschaft als Vertretung des Eigentümers und gemäß der Ver-
pflichtung zum Allgemeinwohl die Deutsche Bahn AG zu veranlassen, die
bestehenden Fernverkehrs-Angebote des interregionalen Verkehrs zu erhal-
ten und gemäß den Verkehrsbedürfnissen – die auch an den durchschnittli-
chen Reiseweiten der Angebots-Produkte der Bahn zu ermessen sind – zu
entwickeln.

Dazu gehört die Aufgabe, in Abstimmung mit den Bundesländern die räum-
liche Entwicklung in den Randregionen von Bundesländern mit Verkehrsan-
geboten auf den Schienenwegen des Bundes über die Ländergrenzen hinweg
zu unterstützen;

3. in ihrer Eigenschaft als Vertretung des Eigentümers gemäß der Verpflich-
tung zum Allgemeinwohl in Abstimmung mit den Ländern, die für die Per-
sonennahverkehrs-Aufgaben verantwortlich sind, darauf hinzuwirken,

a) den Schienenverkehr als ganzheitliches System weiter auszubauen,

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 3 – Drucksache 14/4543

b) die einzelnen Verkehrsarten des Nahverkehrs, des regionalen Verkehrs,
des interregionalen Verkehrs und des Fernverkehrs optimal aufeinander
abzustimmen und

c) disponierbare, attraktive und preiswerte Produkte in allen Bereichen des
Schienenverkehrs anzubieten;

4. die Höhe der Finanzmittel des Bundes gemäß Regionalisierungsgesetz („Re-
gionalisierungsmittel“), insbesondere für die Zugbestellungen der Länder
im Nahverkehr, längerfristig zu garantieren und eine Dynamisierung dieser
Mittel entsprechend der Inflationsrate zu vereinbaren;

5. dabei entweder an der bisherigen Regelung festzuhalten, wonach InterRegio-
Verkehr als Fernverkehr definiert wird und somit aus den Mitteln der Deut-
schen Bahn AG zu bezahlen ist oder – in Absprache mit der Deutschen Bahn
AG und mit den Ländern – eine neue Regelung zu vereinbaren, nach welcher
InterRegio-Verkehr vergleichbar dem Nahverkehr durch die Länder zu be-
stellen und vom Bund gemäß Regionalisierungsgesetz (RegionalisierungsG)
zu finanzieren ist. Im letzteren Fall müssen jedoch diese Bundesmittel in ent-
sprechendem Umfang erhöht werden;

6. den Einfluss des Bundes als Eigentümer der Deutschen Bahn AG zu nutzen,
um die Zuggattung des InterRegio zu erhalten und dieses Produkt entspre-
chend seinen guten Marktchancen als integralen Bestandteil des ganzheitli-
chen Systems Schiene weiterzuentwickeln.

Berlin, den 8. November 2000

Dr. Winfried Wolf
Eva-Maria Bulling-Schröter
Heidi Lippmann
Uwe Hiksch
Dr. Uwe-Jens Rössel
Dr. Ilja Seifert
Roland Claus und Fraktion

Begründung

Allgemein

Strukturen und Entwicklung des Schienenverkehrs:

Rund 90 Prozent aller Fahrgäste der Bahn (DB Reise und Touristik und DB
Regio) nutzen die Bahn im Nahverkehr, der als Schienenverkehr bis zu 50 Kilo-
meter definiert wird. Zehn Prozent der Fahrgäste („Verkehraufkommen“; Zahl
aller Fahrten im Jahr) entfallen auf den Fernverkehr (Schienenverkehr über
50 Kilometer Entfernung).

Wird der Fernverkehr allein für sich genommen, dann lag hier die durchschnitt-
liche Reiseweite 1998 bei rund 230 Kilometern. 1991 lag sie noch bei 245 Kilo-
metern (Verkehr in Zahlen 1999, Seiten 208 bis 211). Gemessen an der gesam-
ten Fahrleistung auf Schienen lag der Anteil des Nahverkehrs 1991 noch bei
„nur“ 40,9 Prozent; 1998 sind es bereits 48,4 Prozent. Damit macht der Nah-
verkehr auch bei der Verkehrsleistung (Summe der Personenkilometer) rund
die Hälfte des gesamten Schienenverkehrs aus.

Der Schienennahverkehr wies 1991 eine Verkehrsleistung von 23,2 Mrd. Per-
sonenkilometern aus; 1994, mit Beginn der Bahnreform, waren es 31,5 Mrd. Per-

Drucksache 14/4543 – 4 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

sonenkilometer; 1998 32,2 Mrd. Personenkilometer. Der Schienenfernverkehr
hatte 1991 eine Verkehrsleistung von 33,7 Mrd. Personenkilometern, 1994 von
34,8 Mrd. Personenkilometern und 1998 von 34,3 Mrd. Personenkilometern.

Die Reiseweite der Fernverkehrs-Reisenden aus den Regionen liegt im Schnitt
bei 245 Kilometern. Diejenige bei Reisen aus städtischen Zentren liegt unter
230 Kilometern. Der Marktanteil der Schiene in den Regionen wiederum liegt
bei rund der Hälfte des Marktanteils der Schiene in den städtischen Zentren.

Entstehung des InterRegio-Verkehrs:

1988 wurde beschlossen, die klassischen D-Züge durch neuen InterRegio-
Verkehr abzulösen. 1995 galt der Ausbau des InterRegio-Netzes als realisiert.
Damals fuhren 424 Züge auf 24 Linien. Die Fahrgastzahl lag bei 62 Millionen
Reisenden. Im gleichen Jahr (1995) wurden im InterCity-EuroCity-Verkehr
49 Millionen Reisende und im ICE-Verkehr 23 Millionen Reisende gezählt.
1994 lag auch das Umsatzvolumen im InterRegio gleichauf mit demjenigen im
ICE-Verkehr. Im Geschäftsbericht 1995 wurde festgestellt: „Der InterRegio
bietet nun ein nahezu flächendeckendes, attraktives Schienenangebot.“

Niedergang des InterRegio-Verkehrs:

Die Zeitschrift „Bahn-Report“ meldete in der Ausgabe 3/1996 den Beschluss
des Bahn-Vorstands, „innerhalb der nächsten fünf Jahre den Interregio abzu-
schaffen“. Dieses Ziel war auch Thema einer Anfrage von Abgeordneten der
Gruppe der PDS im Deutschen Bundestag in der letzten Legislaturperiode
(Bundestagsdrucksache 13/5683).

Seit diesem Zeitpunkt wurden InterRegio-Verbindungen in der Taktdichte redu-
ziert („ausgedünnt“), in den Fahrplanlagen verändert, in den Anschlüssen zu
anderen Zügen verschlechtert, und oft kamen InterRegios seitdem ohne Bistro
oder und mit Wagen in schlechtem äußeren Zustand zum Einsatz. Mit dem Be-
schluss, die Bistro-Abteile außer Betrieb zu setzen, verlor der InterRegio eines
seiner wesentlichen Qualitätsmerkmale völlig.

Konzept „Mora“ der Deutschen Bahn AG:

Am 28. September 2000 kündigte die Deutsche Bahn AG an, das noch beste-
hende InterRegio-Netz in zwei Stufen und bis zum Jahr 2003 weitgehend abzu-
schaffen. Insgesamt sollen von Mai 2001 an mit der Streichung von 16 Millio-
nen Zugkilometern rund neun Prozent des Bahnangebots „auf der Strecke“
bleiben. Ab 2003 sollen nochmals 23 Millionen Zugkilometer entfallen. Insge-
samt ergibt dies den massivsten Einschnitt, den es binnen weniger Jahre im
Verkehr auf Schienen in Deutschland je gab.

Die Verpflichtungen des Bundes ergeben sich aus

Grundgesetz Artikel 87e:

(1) Die Eisenbahnverkehrsverwaltung für Eisenbahnen des Bundes wird in
bundeseigener Verwaltung geführt. Durch Bundesgesetz können Aufgaben der
Eisenbahnverkehrsverwaltung den Ländern als eigene Angelegenheit übertra-
gen werden.

(3) Eisenbahnen des Bundes werden als Wirtschaftsunternehmen in privat-
rechtlicher Form geführt. Diese stehen im Eigentum des Bundes, soweit die
Tätigkeit des Wirtschaftsunternehmens den Bau, die Unterhaltung und das Be-
treiben von Schienenwegen umfasst. …

(4) Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere
den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 5 – Drucksache 14/4543

Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schie-
nennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rech-
nung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.

Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (Regio-
nalisierungsgesetz):

§ 2
Begriffsbestimmungen

Öffentlicher Personennahverkehr im Sinne dieses Gesetzes ist die allgemein
zugängliche Beförderung von Personen mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr,
die dazu bestimmt sind, die Verkehrsnachfrage im Stadt-, Vorort- oder Regio-
nalverkehr zu befriedigen. Das ist im Zweifel dann der Fall, wenn die Mehrzahl
der Beförderungsfälle eines Verkehrsmittels die gesamte Reiseweite 50 Kilo-
meter oder die gesamte Reisezeit eine Stunde nicht übersteigt.

§ 5
Finanzierung

(1) Den Ländern steht für den öffentlichen Personennahverkehr aus dem
Mineralölsteueraufkommen des Bundes … ab dem Jahr 1997 jährlich ein Be-
trag von 12 Milliarden Deutsche Mark zu.

(2) Der Betrag von 12 Milliarden Deutsche Mark steigt ab 1998 jährlich ent-
sprechend dem Wachstum der Steuern vom Umsatz; … Im Jahr 2001 wird mit
Wirkung ab dem Jahr 2002 auf Vorschlag des Bundes durch Gesetz, das der Zu-
stimmung des Bundesrats bedarf, die Höhe der Steigerungsrate neu festgesetzt
sowie neu bestimmt, aus welchen Steuereinnahmen der Bund den Ländern den
Betrag nach Absatz 1 leistet.

§ 7
Verwendung

Mit dem Betrag nach § 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 ist insbesondere
der Schienenpersonennahverkehr zu finanzieren.

Zu einzelnen Forderungen

Zu II.1 bis II.3 (Schienenverkehr ganzheitlich entwickeln):

Der Eisenbahn-Fernverkehr soll als Schienenverkehrs-Infrastrukturangebot des
Bundes etwa 80 Ober- und 330 Mittelzentren bundesweit verbinden. Dabei orien-
tiert sich der InterRegio-Verkehr primär auf die Verbindung von Mittelzentren.
Diese Aufgabe würde allerdings vernachlässigt, wenn der interregionale Verkehr
nicht entwickelt (z. B. in Heilbronn oder Gotha) oder zurückentwickelt wird. Ein-
zelne InterRegio-Linien, die tagtäglich einst alle zwei oder vier Stunden befahren
wurden, werden heute mit nur noch einem einzigen Zug pro Tag bedient.

Zu II.4 und II.5 (Finanzmittel gemäß Regionalisierungsgesetz):

Siehe Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (Re-
gionalisierungsgesetz) § 5 Abs. 2.

Zu II.6 (Marktchancen des InterRegio):

Wenn ein verdichtetes InterRegio-Netz ohne Lücken in der Bedienung herge-
stellt wird, die Züge gezielt im Langstrecken-Regionalverkehr oder grenzüber-
schreitend im Verkehr in die Nachbarstaaten eingesetzt und Kapazitäten in
Randbereichen beispielsweise durch Flügelzüge bedarfsgerecht bereitgestellt
werden, bestehen im InterRegio-Verkehr erhebliche Wachstumschancen.

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