BT-Drucksache 14/4036

Sicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtlicher Standards und Förderung arbeitsmarktpolitischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz

Vom 5. September 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/4036
14. Wahlperiode 05. 09. 2000

Antrag
der Abgeordneten Ursula Lötzer, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Eva-Maria
Bulling-Schröter, Kersten Naumann, Uwe Hiksch, Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Ruth
Fuchs, Gerhard Jüttemann, Dr. Barbara Höll, Petra Bläss und der Fraktion der PDS

Sicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtlicher Standards und Förderung
arbeitsmarktpolitischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Aussage von Bundeskanzler Gerhard
Schröder vor der Jahrestagung des Verbandes deutscher Verkehrsunterneh-
men am 23. Mai in Berlin, „arbeits- und sozialrechtliche Qualitätsstandards
auch in einem liberalisierten Markt zu erhalten.“ Wettbewerbsrechtliche
Liberalisierungsvorgaben der Europäischen Union zur Verwirklichung von
Dienstleistungsfreiheit und der Herstellung des europäischen Binnenmarktes
dürfen nicht zu Lohn- und Sozialdumping führen. Dies erfordert zwingend
gesetzgeberische Schritte zur politischen Gestaltung des Wettbewerbs, die
die Einhaltung solcher Standards zur Bedingung der Wettbewerbsteilnahme
machen und gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit stärken. Zu diesem
Zweck müssen insbesondere die Gestaltungsmöglichkeiten des Vergabe-
rechts genutzt werden.

2. Ein rein über den Preis gesteuerter Wettbewerb um öffentliche Aufträge und
die Erbringung von Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge führt
in eine Spirale des Arbeitsplatzabbaus, bei den Einkommen und Arbeitsbe-
dingungen der Beschäftigten. Letztlich sinkt damit auch die Qualität der an-
gebotenen Dienstleistungen. Dies belegt die Entwicklung im öffentlichen
Nahverkehr: Schon die Ankündigung von Liberalisierungsvorhaben durch
die EU hat hier eine Situation geschaffen, in der sich die kommunalen Ar-
beitgeber mit Flucht aus den Flächentarifverträgen des öffentlichen Diens-
tes, Privatisierungen und Druck auf die Gewerkschaften auf die Anforderun-
gen des erwarteten Wettbewerbs vorbereiten und so die Kosten einseitig auf
die Beschäftigten abwälzen.

3. Die Flächentarifverträge haben sich als Grundbestandteil sozialer Demokra-
tie bewährt. Sie sichern über kollektivvertragliche Regelungen zwischen den
Tarifparteien Einkommen, Arbeitsbedingungen und soziale Mindeststan-
dards für die Beschäftigten. Als wichtige Voraussetzung für die Handlungs-
und Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften verdienen sie in einem so-
zialen Rechtsstaat politischen Schutz. Sie haben sich auch in der Funktion be-
währt, die Unternehmen vor einer Konkurrenz untereinander über Arbeits-
und Sozialkosten zu bewahren und ihnen Planungssicherheit zu geben.

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4. Arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitische Ziele wie die Bekämpfung der Ju-
gendarbeitslosigkeit, die Förderung der Bereitstellung von Ausbildungsplät-
zen und die Förderung der Erwerbsbeteiligung von Frauen als Bestandteil
einer konsequenten Gleichstellungspolitik dürfen nicht durch eine Wettbe-
werbspolitik unterlaufen werden, die sich allein an betriebswirtschaftlichen
Kostenkalkulationen orientiert. Zu ihrer Durchsetzung sind deshalb auch die
Instrumentarien des öffentlichen Vergaberechts konsequent zu nutzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

– ein Vergabegesetz vorzulegen, dass Bieterinnen und Bietern um öffentliche
Aufträge und ihren Nachunternehmerinnen und Nachunternehmern die Ab-
gabe einer Erklärung über die Einhaltung der einschlägigen Flächentarifver-
träge der Branche (Tariftreueerklärung) verbindlich vorschreibt und Ver-
stöße mit wirksamen Sanktionen sowie dem befristeten Ausschluss von
Auftragsvergaben belegt;

– in diesem Vergabegesetz bei sonst vergleichbaren Angeboten die Bevor-
zugung von Bieterinnen und Bietern vorzusehen, die nachweislich und in
überdurchschnittlichem Umfang die Beschäftigung von Frauen fördern, in
überdurchschnittlichem Umfang Ausbildungsplätze bereitstellen und die ge-
setzliche Quote für die Beschäftigung von Schwerbehinderten erfüllen;

– die Anwendbarkeit dieses Gesetzes auch für Konzessionserteilungen, öffent-
liche Dienstleistungsverträge und ähnliche Rechtsformen der Übertragung
unabhängig vom Auftragsvolumen sicherzustellen. Zur Vermeidung von
Ungleichbehandlungen erfordert dies die Anwendung dieser Bestimmungen
auch für Genehmigungswettbewerbe und nationale Ausschreibungsverfah-
ren unterhalb der im europäischen Recht genannten Schwellenwerte;

– rechtliche Voraussetzungen zu schaffen, die eine Verpflichtung von Aus-
schreibungsgewinnerinnen und -gewinnern zur Übernahme des Personals
des bisherigen Leistungserbringers zu unveränderten Arbeitsbedingungen
ermöglichen;

– sich für diese Vergabekriterien auch bei Ausgestaltung der Wettbewerbs-
richtlinien in der Europäischen Union einzusetzen. Darin sind möglichst
auch Übergangsregelungen von mindestens acht Jahren im öffentlichen
Nahverkehr durchzusetzen, wie sie die kommunalen Nahverkehrsunterneh-
men für erforderlich halten, um unter Wettbewerbsbedingungen überleben
zu können, sowie Bedingungen, die eine dauerhaft tragfähige, EU-konforme
Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs ermöglichen.

Berlin, den 29. August 2000

Ursula Lötzer
Rolf Kutzmutz
Dr. Christa Luft
Eva-Maria Bulling-Schröter
Kersten Naumann
Uwe Hiksch
Dr. Heidi Knake-Werner
Dr. Ruth Fuchs
Gerhard Jüttemann
Dr. Barbara Höll
Petra Bläss
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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Begründung

1. Obwohl mit dem Ablauf der in der 6. Novelle des Gesetzes gegen Wettbe-
werbsbeschränkungen (GWB) verankerten Übergangsfrist zum 30. Juni
2000 gesetzliche Regelungen auf Bundes- oder Landesebene zwingend vor-
geschrieben sind, um über die in § 97 Abs. 4 genannten Anforderungen der
Fachkunde, Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit hinaus arbeitsrechtliche,
soziale und ökologische Standards vergaberechtlich abzusichern, haben bis-
lang nur die Länder Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland ein sol-
ches Gesetz mit Geltung ausschließlich für die Bauwirtschaft erlassen. Vor
dem Hintergrund der vor dem Bundesgerichtshof anhängigen Klage gegen
das Berliner Landesgesetz ist eine Ausweitung des Kriterienkataloges durch
ein Bundesgesetz dringend geboten, auch um den Ländern einen verlässli-
chen Rechtsrahmen zur sozialen Ausgestaltung des Vergaberechts zu ge-
währleisten.

2. § 97 Abs. 4 GWB sieht lediglich die Voraussetzung einer gesetzlichen
Regelung für die Verankerung sozialer oder umweltpolitischer Kriterien im
Vergaberecht vor. Dennoch hat der Bundesgerichtshof in dem erwähnten
Verfahren gegen das Vergabegesetz des Landes Berlin die Frage der Zu-
lässigkeit einer Tariftreueklausel dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
zur Überprüfung vorgelegt. In einem vom DGB im Auftrag gegebenen Gut-
achten zu dieser Entscheidung führt Prof. W. Däubler aus: „Die Praktizie-
rung der Tariftreueerklärung durch den öffentlichen Auftraggeber geht we-
niger weit als eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung, da nur ein
bestimmter Teil der Geschäftstätigkeit der betroffenen Unternehmen erfasst
ist. Das BVerfG hat den weitergehenden Rechtsakt der Allgemeinverbind-
lichkeitserklärung nicht als Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit
nach Art. 9 Abs. 3 GG oder die Berufsfreiheit der außenstehenden Unter-
nehmen und Arbeitnehmer angesehen. Entsprechendes muss entgegen der
Auffassung des BGH auch für die Tariftreueklausel gelten.“ Vor dem Hin-
tergrund dieser rechtlichen Klärung ist die bisherige Position der Bundes-
regierung, insbesondere des Bundesministeriums für Wirtschaft und Tech-
nologie, unhaltbar geworden, den Verzicht auf die Vorlage eigenständiger
gesetzlicher Regelungen mit dem Abwarten der höchstrichterlichen Ent-
scheidung zu begründen.

3. Die Politik der Marktliberalisierung trifft vor allem im Bereich des Nah-
verkehrs auf einen Arbeitsmarkt, der weder auf der Ebene des Bundes noch
auf der Ebene eines Bundeslandes durch einen umfassenden Branchentarif-
vertrag geordnet ist. So gelten z. B. in Nordrhein-Westfalen (NRW) für die
im kommunalen Arbeitgeberverband NRW organisierten Nahverkehrsunter-
nehmen der BAT bzw. der BMT-GII; weiterhin gibt es daran orientierte
Haustarifverträge bei den kommunalen Unternehmen, die diesem Verband
nicht angehören. Um ca. 30 % unterhalb des darin geregelten Einkommens-
niveaus liegt das Tarifrecht für private Verkehrsunternehmen, die Verkehrs-
leistungen im Busbereich anbieten. Weiterhin gibt es Tarifverträge für Bus-
gesellschaften, die durch Privatisierung aus ehemals bundesbahneigenen
Busbetrieben hervorgegangen sind, die hauptsächlich für deren Altbeschäf-
tigte gelten, während dort für Neubeschäftigte erheblich ungünstigere Haus-
tarifverträge gelten. Schließlich gibt es in erheblichem Umfang völlig tarif-
lose private Unternehmen, die im Rahmen der Vergabe der Verkehrsleis-
tungen an Dritte (Anmietverkehre) auch an der Erbringung öffentlicher
Verkehrsdienstleistungen beteiligt sind. Vor diesem Hintergrund konnten
Nahverkehrsunternehmen allein durch die Ankündigung des Wechsels der
Rechtsform oder des Arbeitgeberverbandes bis hin zur Drohung mit der Ver-
gabe von Leistungen an tariflich nicht gebundene Anbieterinnen und Anbie-

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ter Betriebsvereinbarungen durchsetzen, die bei Neueinstellungen ein bis zu
30 % niedrigeres Einkommensniveau vorsehen. Auch der aus dieser Situa-
tion resultierenden bedenklichen Entwicklung, die innerhalb der Unterneh-
men unerträgliche Einkommensunterschiede bei gleicher Qualifikation und
Arbeitsleistung hervorgebracht hat, kann mit den vorgeschlagenen Maßnah-
men begegnet werden.

4. Darüber hinaus kann vor allem im öffentlichen Nahverkehr die Verpflich-
tung zur Tariftreue wirksam zur Verbesserung der Sicherheit und der Kun-
denfreundlichkeit der angebotenen Dienstleistungen beitragen: Tariflose
Unternehmen sind nicht an die Regelungen für Erholungs- und Ruhezeiten
der Beschäftigten gebunden. Die daraus folgenden erhöhten Arbeitsbelas-
tungen der Beschäftigten bis hin zu Übermüdung vermindern die Sicherheit
der Verkehrsdienstleistungen ebenso wie ihre Möglichkeiten, auf Kunden-
wünsche und Beratungsanforderungen einzugehen. Die Verpflichtung zur
Abgabe einer Tariftreueerklärung dient auch in anderen Bereichen der Si-
cherung der Leistungsfähigkeit und Qualität der bietenden Unternehmen.
Erfahrungsgemäß erbringen Unternehmen, die Arbeitnehmer nicht nach Ta-
riflöhnen bezahlen, häufiger qualitativ unzureichende Leistungen, die zu
Kündigungen der Aufträge oder aufwendigen Reklamationsverfahren füh-
ren, die dem öffentlichen Auftraggeber mehr an Belastungen auferlegen, als
die Vergabe an von vornherein tariftreue Unternehmen bedeutet hätte.

5. Die Kopplung der Vergabe öffentlicher Aufträge an die Förderung der Be-
schäftigung von Frauen ist als Bestandteil des Koalitionsvertrages ein er-
klärtes politisches Ziel der Bundesregierung. Die Schaffung einer vergabe-
rechtlichen Vorzugsregelung, die positive Beiträge von Unternehmen zur
Erreichung dieses gesellschaftlich und politisch gewünschten Ziels belohnt
und mit ökonomischen Anreizen unterstützt, ist also längst überfällig. Dies
gilt auch für Unternehmen, die mit dem Angebot von Ausbildungsplätzen
dazu beitragen, jungen Menschen berufliche und gesellschaftliche Zukunfts-
chancen zu eröffnen, obwohl dadurch zunächst betriebswirtschaftliche Kos-
ten entstehen können, die als Konkurrenznachteil auf einem unregulierten
Markt wirksam werden.

6. Die verbindliche Verpflichtung zur Abgabe einer Tariftreueerklärung leistet
durch die Herstellung gleicher Bedingungen für alle Marktteilnehmer einen
unverzichtbaren Beitrag zur Herstellung des vom Deutschen Städtetag in
Anlehnung an Artikel 16 des EG-Vertrages geforderten „vernünftigen Aus-
gleichs zwischen der Wettbewerbspolitik und den Gemeinwohlverpflichtun-
gen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge“. Hieraus ergibt sich auch
der sachliche Zusammenhang zu der Forderung nach der Durchsetzung von
Zuschuss- und Übergangsregelungen in der EU-Richtlinie für den öffentli-
chen Nahverkehr, für die auch der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen
(VDV) als Bedingung für eine gleichberechtigte Wettbewerbsteilnahme öf-
fentlicher Verkehrsunternehmen eintritt.

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