BT-Drucksache 14/3784

Bürgerbahn statt Börsenbahn

Vom 5. Juli 2000


Deutscher Bundestag

Drucksache

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14. Wahlperiode

05. 07. 2000

Antrag

der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva-Maria Bulling-Schröter, Uwe Hiksch,
Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Rosel Neuhäuser, Christine Ostrowski,
Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Bürgerbahn statt Börsenbahn

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Im vergangenen Jahrzehnt verlief die reale Verkehrsentwicklung in direktem
Widerspruch zur offiziell von der EU-Kommission und von der Bundesre-
gierung vertretenen Verkehrspolitik:

– Die Schiene und die Binnenschifffahrt haben weitere Marktanteile verlo-
ren,

– der Pkw hat anteilmäßig leicht zugelegt,

– der Lkw hat seinen Marktanteil erheblich und

– das Flugzeug hat seine Position massiv ausbauen können.

Damit haben jene Verkehrs- und Transportarten anteilmäßig gewonnen und
im absoluten Maß weiter zugelegt, die in besonderem Maße als umweltbe-
lastend gelten.

2. Die umweltpolitischen Ziele – auf die sich die Bundesregierung unter ande-
rem 1992 auf dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro und 1997 auf der Konfe-
renz in Kyoto verpflichtet hat – stehen heute grundsätzlich in Frage. Es sind
die rasanten Entwicklungen im Verkehrssektor – insbesondere im Straßen-
und Luftverkehr –, die gegenwärtig das Erreichen dieser Zielsetzungen (ins-
besondere die Minderung von Kohlendioxid-Ausstoß) massiv gefährden.

3. Wie bereits 1997/1998 durch die damalige Bundesregierung praktiziert, ver-
zichtet auch die jetzige Bundesregierung darauf, den Bundesverkehrswege-
plan, der 1992 zuletzt vorgelegt wurde und 1997 hätte turnusgemäß aktuali-
siert werden müssen, zu bilanzieren und neu vorzulegen.

Stattdessen hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen angekündigt, während der gesamten Legislaturperiode auf einen neuen
Bundesverkehrswegeplan verzichten zu wollen. Im Zeitraum 1999 bis 2002
sollen lediglich neue Bewertungskriterien für Projekte des Bundesverkehrs-
wegeplans erarbeitet werden.

4. Die 1993 beschlossene und seit 1994 wirksame Bahnreform konnte die er-
hoffte Renaissance des Schienenverkehrs bisher nicht bewirken.
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Zwar verzeichnete der Personenverkehr im Nah- und Fernbereich ein leich-
tes Wachstum hinsichtlich Leistung und Aufkommen, so dass die Marktan-
teile der Schiene im Personenverkehr auf niedrigem Niveau (etwa ein Zehn-
tel des motorisierten Individualverkehrs) gehalten wurden.

Jedoch gab es im Güterverkehr anstelle des in der Bundesverkehrswegepla-
nung vorgesehenen Schienenverkehrs-Wachstums einen Einbruch der
Transportleistung. Der Schienengüterverkehr, der laut Prognose von 1992
bis 2012 um 55 Prozent hätte zulegen sollen, verzeichnete bereits im Zeit-
raum 1992 bis 1998 einen Rückgang um 40 Prozent. Parallel dazu wuchs
der Straßengüterfernverkehr von 1992 bis 1998 um 82 Prozent, obwohl ein
Zuwachs in dieser Größenordnung in der Prognose von 1992 erst für das
Jahr 2012 (plus 95 Prozent) erwartet wurde.

5. Eine Reihe von aktuellen Ereignissen und Maßnahmen führte in jüngerer
Zeit dazu, dass der Schienenverkehr auf eine besonders schlechte Wegstre-
cke geriet:

– Es ereigneten sich mehrere schwere Eisenbahnunfälle: 1997 in Neustadt
bei Stadtallendorf/Marburg und in Elsterwerda, 1998 in Eschede und
2000 in Brühl.

– Mit jedem Fahrplanwechsel kam es zu weiteren Einschränkungen des
Schienenverkehrsangebots; Jahr für Jahr wurde und wird das Betriebs-
netz mit Schienenverkehr verkleinert.

– Die Bahntechnik-Industrie lieferte neue Schienenverkehrsfahrzeug-Ge-
nerationen aus, die den Erwartungen nicht entsprachen und sich teilweise
sogar als Ausfälle erwiesen, womit die Fahrplangestaltung im Schienen-
verkehr zusätzlich belastet wurde.

6. Es gibt eine Reihe von Anzeichen dafür, dass die Bilanz des Schienenver-
kehrs in den nächsten Jahren noch negativer werden kann:

– Im Jahr 2000 wurde erstmals seit der Bahnreform eine negative Bilanz
der Deutschen Bahn AG (für das Geschäftsjahr 1999) vorgelegt.

– Das neue Management der Deutschen Bahn AG hat erklärt, die Bahn sei
wieder hoch verschuldet und könne in Kürze wieder zum „Sanierungs-
fall“ werden, wenn nicht drastische Maßnahmen ergriffen würden.

– Angekündigt wurde die Absicht, den Schienenverkehr auf rund 10 000
Kilometern Nebenstrecken ausgliedern zu wollen. Dabei ist völlig unge-
klärt, ob dies 6 500, 9 000 oder möglicherweise sogar über 11 000 Kilo-
meter Strecke betrifft und wer auf den Nebenstrecken, die etwa ein Vier-
tel des Bundesschienennetzes von rund 40 000 Kilometern ausmachen,
den Betrieb durchführen soll.

7. Schließlich wurden Pläne bekannt, nach denen das Management der Deut-
schen Bahn AG die Beschäftigtenzahl, die von Januar 1994 bis März 2000
bereits von rund 340 000 auf rund 240 000 abgebaut worden war, bis 2004
um weitere 35 000 bis 70 000 abbauen will.

Unter anderem soll in vielen Zügen auf jedes Zugbegleitpersonal verzichtet
werden, was den Komfort und das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste stark ver-
schlechtern würde. Es sollen auch bis zu 7 000 Lokführerstellen abgebaut
werden, was auf die Einplanung einer noch höheren Arbeitsbelastung für die
verbleibenden Bahnbeschäftigten und auf einen massiven Abbau der Schie-
nenverkehrsangebote hindeutet.

8. Im Schienenpersonenverkehr wurden zwar eine Reihe von Mobilitätsbarrie-
ren für Menschen mit Behinderungen abgebaut. Dennoch bleibt die Situa-
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tion insgesamt unbefriedigend. Durchgreifende Verbesserungen – sowohl
bei der behindertengerechten Umrüstung auf Bahnhöfen als auch beim Ein-
satz von behindertengerechten Fahrzeugen – stehen noch immer aus. Nach
wie vor weigert sich die Deutsche Bahn AG, guten Beispielen wie in Skan-
dinavien und in den Niederlanden zu folgen und Reisezugwaggons mit fahr-
zeuggebundenen Einstieghilfen auszustatten. Angesichts der Einsparungen
beim Bahnpersonal ist der alleinige Einsatz von bahnsteiggebundenen Hil-
fen nicht akzeptabel. Dringender Handlungsbedarf ist offensichtlich, wenn
die Bahn für ALLE Menschen eine Bürgerbahn werden soll.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

dafür Sorge zu tragen, dass

1. zum Thema Verkehrspolitik eine breite Debatte in der Bevölkerung und ins-
besondere mit den Umwelt- und Fahrgastverbänden, mit den Verkehrsinitia-
tiven und unter Einbeziehung der Gewerkschaften geführt wird.

2. eine Politik der Verkehrswende verfolgt wird.

Diese wird als eine „Politik der drei V“ umschrieben: Es geht um VERMEI-
DUNG von Verkehr, um VERKÜRZUNG der Verkehrswege und um VER-
LAGERUNG von Verkehr

– auf die Schiene und anderen öffentlichen Verkehr,

– auf die Flüsse (Binnenschiffe),

– auf die Füße (Gehen) oder

– auf die Pedale (Velo/Fahrrad).

3. die für die Schiene nachteiligen Rahmenbedingungen im Verkehrssektor
verändert werden und insbesondere die Schiene (wie Flugverkehr und Bin-
nenschifffahrt oder wie konkurrierende ausländische Bahngesellschaften)
von der Mineralölsteuer befreit wird und nur der ermäßigten Mehrwert-
steuer unterliegt.

4. der Prozess der Zerschlagung und fortgesetzten Aufspaltung der Bahn ge-
stoppt wird.

Der Schienenverkehr bildet eine organische Einheit, die nur in dieser Syn-
these ein hohes Maß an Sicherheit, Service und Synergie aufweist.

5. der von verschiedener Seite – darunter dem niedersächsischen Wirtschafts-
ministerium – vorgetragene Vorschlag geprüft wird, wonach angesichts des
ins Auge gefassten Börsengangs der Deutschen Bahn AG (bzw. von Teilen
derselben) in jedem Falle das Schienennetz und die Bahnhöfe in öffentli-
chem Eigentum zu belassen und damit aus einer ins Auge gefassten Privati-
sierung herauszunehmen sind.

6. das noch bestehende Bundesschienennetz erhalten und weiter mit Schienen-
verkehr betrieben wird.

Der Bund muss dafür Sorge tragen, für so genannte Nebenstrecken diejenige
grundlegende Instandhaltung und Sanierung zu gewährleisten, die erforder-
lich gewesen wären und die vom Bahnmanagement (Bundesbahn, Reichs-
bahn und Deutsche Bahn AG) durch Setzung falscher Prioritäten nicht reali-
siert wurden.

7. im Falle einer möglichen Ausgliederung von Schienenbetrieb auf so ge-
nannte Nebenstrecken Grundbedingungen für mögliche Betreiber formuliert
und eingehalten werden.
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Unter anderem muss sichergestellt werden,

– bei der Bahn ein einheitliches System von Gesamt-Fahrplan und -Tari-
fen zu erhalten
(einschließlich einheitlich geltender Sondertarife und deren gegenseiti-
ger Anerkennung),

– bei Nebenstreckenausgliederungen Lohn- und Sozialdumping zu unter-
lassen,

– das bis dahin erreichte Niveau des Fahrplanangebots zu gewährleisten;
eine Ausgliederung nur dann zuzulassen, wenn es zu deutlichen Verbes-
serungen des Angebots kommt.

8. es bei den Schienenverkehrsunternehmen keinen weiteren Belegschaftsab-
bau und keine weitere Verdichtung der Arbeit („Arbeitsintensivierung“)
gibt.

Die Halbierung der Bahnbelegschaft von rund 480 000 auf 240 000 im
Zeitraum 1990 bis 1999 bei nur leicht reduzierten Leistungen war ein per-
soneller Aderlass, der keineswegs allein mit einer erhöhten Produktivität
begründet werden kann. Damit verbunden sind auch ein massiv erhöhter
Arbeitsstress, ein Abbau von Bedienungsfreundlichkeit und Kundennähe
und eine Gefährdung von elementaren Sicherheitsstandards. Ein weiterer
Belegschaftsabbau würde in den Bereichen Komfort, Pünktlichkeit und Si-
cherheit an die Substanz gehen.

9. es über eine klar definierte Verkehrspolitik pro Schiene zu einer Wiederbe-
lebung der bahntechnischen Industrie und zur Entwicklung eines attrakti-
ven Angebots effizienter Schienenfahrzeuge kommt.

10. Mobilitätsbarrieren für Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen
des Schienenpersonenverkehrs – insbesondere im Verantwortungsbereich
der Deutschen Bahn AG – systematisch abgebaut und neue Barrieren da-
durch verhindert werden, indem

– das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG) durch eine eindeutige Zugäng-
lichkeitsklausel dahin gehend ergänzt wird, dass „die Benutzung von
Bahnanlagen und Fahrzeugen durch behinderte und alte Menschen so-
wie Kinder und sonstige Personen mit Nutzungsschwierigkeiten er-
leichtert“ (Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung – EBO) und

– die dem Allgemeinen Eisenbahngesetz nachgeordnete Eisenbahn-Bau-
und Betriebsordnung durch nähere Ausführungsbestimmungen konkre-
tisiert wird.

Berlin, den 5. Juli 2000

Dr. Winfried Wolf
Eva-Maria Bulling-Schröter
Uwe Hiksch
Gerhard Jüttemann
Rolf Kutzmutz
Rosel Neuhäuser
Christine Ostrowski
Dr. Ilja Seifert
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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