BT-Drucksache 14/3563

Soziale Arbeit stärken - Alternativen zum Zivildienst entwickeln

Vom 8. Juni 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/3563
14. Wahlperiode 08. 06. 2000

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Sabine Jünger, Monika Balt, Petra Bläss,
Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn, Dr. Heidi Knake-Werner, Rosel Neuhäuser,
Christina Schenk, Heidi Lippmann, Dr. Heinrich Fink, Maritta Böttcher,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS

Soziale Arbeit stärken – Alternativen zum Zivildienst entwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Soziale Dienste sind ein wichtiger Bestandteil der sozialen Sicherungs-
systeme in der Bundesrepublik Deutschland. Sie betreuen und versorgen
Kinder und Jugendliche, ältere Menschen, Kranke, Menschen mit Behin-
derungen und andere, die assistierende und/oder begleitende und betreu-
ende Unterstützung benötigen. Soziale Dienste werden durch Städte und
Gemeinden, Sozial- und Wohlfahrtsverbände, Religionsgemeinschaften,
gemeinnützige Vereine und Selbsthilfegruppen getragen. Sie stützen sich
auf das Engagement und die Leistungen von Frauen und Männern vor
Ort. Viele dieser Leistungen werden zusätzlich, unentgeltlich und freiwil-
lig erbracht – oftmals ergänzen oder ersetzen sie fehlende Leistungen
dort, wo sie von Kommune, Land oder Bund nicht erbracht werden.

2. Seit seiner Einführung im Jahre 1961 hat sich der Zivildienst vom bloßen
„Wehrersatzdienst“ zu einer wichtigen Säule des Sozial- und Gesund-
heitssystems der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Entsprechend
der Vorgabe des Zivildienstgesetzes sollen die Zivildienstleistenden Auf-
gaben erfüllen, „die dem Allgemeinwohl dienen, vorrangig im sozialen
Bereich“. Der widersprüchliche Charakter des Zivildienstes – die Erfül-
lung sozialer Aufgaben im Rahmen eines Zwangsdienstes – ist eng mit
der allgemeinen Wehrpflicht verbunden. Die Bindung sozialer Aufgaben
an die Ableistung eines Zwangsdienstes ist einer modernen Zivilgesell-
schaft nicht angemessen.

3. Bevor Forderungen nach einer Aussetzung der Wehrpflicht realisiert wer-
den können, sind Bedingungen für eine soziale Daseinsvorsorge zu
garantieren, welche die Aussetzung des Zivildienstes bis hin zu seiner
Abschaffung ermöglichen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der
Zivildienst längst zu einem festen Bestandteil des sozialen Netzes gewor-
den ist. Tagespflegeeinrichtungen, ambulante und teilstationäre Pflege-
dienste, mobile soziale Hilfsdienste, individuelle Schwerbehindertenbe-
treuung, Werkstätten für Behinderte, Fahrdienste u. a. sind vielerorts
ohne den Beitrag von Zivildienstleistenden nicht oder nur sehr einge-
schränkt funktionsfähig. Durch das engagierte Wirken von Zivildienst-

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leistenden, insbesondere in kulturellen und sozialen Bereichen sowie im
Umwelt- und Naturschutz, haben sich Strukturen und Beziehungen her-
ausgebildet, die schwer zu ersetzen sind. Der hohe persönliche Einsatz
der Zivildienstleistenden verdient Anerkennung und Wertschätzung.

4. Der Zivildienst hat trotz seiner Ausrichtung auf die Erfüllung von Aufga-
ben im sozialen Bereich keinen sozialen Sicherstellungsauftrag. In der
Realität werden jedoch Zivildienstleistende oft nicht zusätzlich, sondern
als Ersatz für vollwertige, tariflich bezahlte Arbeitskräfte eingesetzt. Al-
ternativen zum Zivildienst dürfen daher nicht zu neuen sozialen Ersatz-
diensten auf niedrigerem Niveau führen, sondern müssen vor allem auf
eine langfristige und vollwertige soziale Daseinsvorsorge, auf dauerhafte
Arbeitsplätze und verlässliche Versorgungsstrukturen ausgerichtet sein.

Ebenso wie die Abschaffung des Wehrdienstes kann die Abschaffung des
Zivildienstes nur über einen Prozess der Konversion bzw. Umwandlung
erfolgen. Dabei muss durch eine Bündelung unterschiedlicher Maßnah-
men und die aktive Mitwirkung der Betroffenen gewährleistet werden,
dass die bisher durch den Zivildienst geleistete Erfüllung von sozialen
Aufgaben in allen Übergangsphasen vollständig kompensiert und letzt-
lich auf einem höheren Leistungsniveau gewährleistet wird. Alternativen
zum Zivildienst müssen vor allem daran gemessen werden, wie sie die
sozialen Dienste im Interesse der betroffenen Menschen stärken, vervoll-
kommnen und zukunftsfähig machen. Und sie müssen daran gemessen
werden, wie sie den sozialen Bereich zu einem attraktiven Arbeits- und
Berufsfeld weiterentwickeln, in dem vor allem neue Erwerbsarbeitsplätze
geschaffen werden.

5. Mit dem 1999 im Deutschen Bundestag verabschiedeten Haushaltssanie-
rungsgesetz sind im Bereich des Zivildienstes erhebliche Einschnitte zu
verzeichnen. Sie betreffen sowohl die hilfebedürftigen Menschen als
auch die Zivildienstleistenden selbst. Zu diesen Einschnitten gehören die
Kürzung der Dienstzeit von bisher 13 auf 11 Monate, die Kürzung der
Stellenzahl sowie die Belastung der Einsatzstellen für den Zivildienst
(Übernahme von 30 % der Entlassungsgelder für die Zivildienstleisten-
den, Kürzung der Zuschüsse für die monatlichen Soldzahlungen). Allein
die letztgenannte Kostenbelastung der Dienststellen bei Sozial- und
Wohlfahrtsverbänden führt im Bundeshaushalt zu einer jährlichen Entlas-
tung von ca. 101 Mio. DM. Diese „Sparmaßnahmen“ erzeugen bei den
Dienststellen einen erhöhten Kostendruck und damit de facto Einschrän-
kungen im Angebot und in der Qualität, die sich besonders auf die Be-
treuung von Kindern und Jugendlichen, von alten, pflegebedürftigen und
behinderten Menschen negativ auswirken. Für diesen Personenkreis wer-
den bisher existierende Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben in
einem Ausmaß reduziert, das für die Betroffenen und ihre Angehörigen
oft dramatisch ist. Rückwirkungen auf die Zivildienstleistenden zeigen
sich in erhöhtem Leistungsdruck, mit dem zusätzliche physische und psy-
chische Belastungen einhergehen, sowie in einer Demotivierung bei der
Erbringung von Betreuungsleistungen.

Die mit den „Sparmaßnahmen“ der Bundesregierung 1999 eingeleitete
Entwicklung trägt zu einer Aushöhlung sozialer Dienstleistungen dar, die
durch Zivildienstleistende abgesichert werden. Die Auswirkungen der
durch die „Sparmaßnahmen“ der Bundesregierung herbeigeführten Ein-
schnitte auf die Betroffenen müssen daher kurzfristig begrenzt und kom-
pensiert werden.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:

1. kurzfristig Maßnahmen zu treffen, mit denen gewährleistet wird, dass
Leistungen, die bis zum 31. Dezember 1999 durch den Zivildienst er-
bracht und gesichert wurden, ab einem festzulegenden Zeitpunkt (spätes-
tens jedoch ab 1. Oktober 2000) wieder in vollem Umfang erbracht oder
gesichert werden können. Dabei sind keine Leistungseinschränkungen
bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, von alten, pflegebe-
dürftigen und behinderten Menschen zuzulassen.

In diesem Zusammenhang trägt die Bundesregierung insbesondere Sorge
dafür, dass

– beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(BMFSFJ) eine „Ombudsstelle Zivildienst“ eingerichtet wird, bei der
alte, pflegebedürftige und behinderte Menschen sowie ihre Angehöri-
gen, Einsatzstellen für den Zivildienst und Betroffenenverbände Pro-
bleme bei der Leistungserbringung melden und prüfen lassen können,
um erfolgte Leistungseinschränkungen aufzuheben oder durch andere
geeignete Maßnahmen zu kompensieren;

– das Bundesamt für den Zivildienst mit den Trägern der Einsatzstellen
eine solche Stellenbesetzung gewährleistet, die für die Absicherung
der Leistungen in den unterschiedlichen sozialen Bereichen auf dem
bisherigen Niveau, mindestens aber auf dem Niveau des Jahres 1999,
erforderlich ist.

2. mittel- und langfristige Alternativen für die Konversion des Zivildienstes
zu entwickeln und dem Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Novem-
ber 2001 einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Beschlussfassung vor-
zulegen, der folgende Leitlinien beinhalten soll:

– Alternativen zum Zivildienst müssen gewährleisten, dass im End-
ergebnis und in allen Übergangsphasen das zum 31. Dezember 1999
vorhandene Leistungs- und Versorgungsniveau mindestens erhalten
und ausgehend von dem sich entwickelnden Bedarf weiterentwickelt
wird. Im Vordergrund müssen dabei die Interessenlagen der assistenz-
bedürftigen Menschen stehen, für die bisher durch den Zivildienst
Leistungen erbracht oder gesichert wurden, d.h. insbesondere Kinder
und Jugendliche, alte, chronisch kranke und pflegebedürftige Perso-
nen sowie Menschen mit Behinderungen.

– Die bisher vom Bund für den Zivildienst aufgewendeten finanziellen
Mittel (ca. 2,5 Mrd. DM) müssen in vollem Umfang für die soziale
Arbeit erhalten bleiben. Sie sollen für die Entwicklung von Alternati-
ven zum Zivildienst so genutzt werden, dass die Erbringung der Leis-
tungen für hilfebedürftige Menschen im Vordergrund steht. Länger-
fristig ist davon auszugehen, dass eine Konversion des Zivildienstes
bei Erhaltung und Ausbau des Leistungsniveaus eine Erhöhung der
finanziellen Aufwendungen aus dem Bundeshaushalt erfordert. Diese
erhöhten Aufwendungen sollen vorrangig aus dem Konversionsfonds
des Bundes finanziert werden, der auf Grund der mittelfristigen Ein-
sparungen im Rüstungshaushalt zu bilden ist.

– Als grundlegende Komponente der Alternativen zum Zivildienst ist
der Öffentlich geförderte Beschäftigungssektor (ÖBS) zu entwickeln
und auszubauen. Dazu sind arbeitsmarktpolitische Maßnahmen einzu-
setzen, die sich auf folgende Schwerpunkte konzentrieren sollten:

a) Lohn- und Sachkostenzuschüsse der Bundesanstalt für Arbeit für
die langfristige Einstellung und Beschäftigung von hauptberufli-

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chen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in sozialen Diensten und
Einrichtungen, die vorrangig Leistungen für hilfebedürftige Men-
schen sowie für Familienentlastende Dienste erbringen;

b) Förderung von Modellprojekten zum Einstieg und zur Entwicklung
eines auf soziale Dienstleistungen orientierten ÖBS in den Berei-
chen Kinderbetreuung und Jugendhilfe, Altenhilfe und -betreuung
sowie individuelle Schwerbehindertenbetreuung auf der Grundlage
vertraglicher Vereinbarungen zwischen Bund und jeweiligem Bun-
desland mit einer Mindestlaufzeit von fünf Jahren;

c) Sonderprogramme zur Ausbildung und beruflichen Integration von
jungen Menschen in sozialen Berufen;

d) Programme zur Umschulung und beruflichen Neuorientierung in
sozialen Berufen für Menschen jeden Alters.

Die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sollten durch eine institutio-
nelle Förderung für Verbände und Vereine, die soziale Dienstleistun-
gen erbringen, flankiert werden.

Für die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Entwicklung des
ÖBS und für die institutionelle Förderung der Verbände und Vereine
sollen im Bundeshaushalt ab dem Haushaltsjahr 2001 eigenständige
Haushaltstitel eingestellt werden.

Finanzielle Mittel, die durch die oben genannten Maßnahmen den
Übergang aus Arbeitslosigkeit in Erwerbstätigkeit ermöglichen und
im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit eingespart werden können,
sind für die Verstetigung von dauerhafter, qualifizierter und tariflich
bezahlter Erwerbstätigkeit im sozialen Bereich einzusetzen.

– Als eine wesentliche Alternative zu bisherigen Leistungen des Zivil-
dienstes in der individuellen Schwerbehindertenbetreuung wird das
„Assistenzmodell“ bundesweit eingeführt und schrittweise so ausge-
baut, dass für Menschen mit Behinderungen auch bei schweren,
schwersten und mehrfachen Schädigungen und Beeinträchtigungen
eine weitestgehende selbstbestimmte Lebensweise ermöglicht wird.
Dies schließt ein, dass Betroffene ihr Wunsch- und Wahlrecht mit ei-
nem bedarfsdeckenden persönlichen Budget ohne Einschränkungen
durch Kostenvorbehalte realisieren können und die sich seit einigen
Jahren verstärkt ausprägende Praxis beendet wird, Leistungen der Ein-
gliederungshilfe für Behinderte dem Nachranggrundsatz des Bundes-
sozialhilfegesetzes zu unterwerfen.

– Zum Ausbau der sozialen Arbeit können Freiwilligendienste angebo-
ten und attraktiver gestaltet werden.

Auf der Grundlage dieser Leitlinien sollten die Ausarbeitung und Vorlage
des von der Bundesregierung vorzulegenden Gesetzentwurfs durch eine
„Kommission Zukunft der sozialen Arbeit“ begleitet werden.

Die Tätigkeit der Kommission Zukunft der sozialen Arbeit erfolgt unter
der Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend. Beteiligt sind die Bundesministerien für Arbeit und Sozial-
ordnung, für Gesundheit und für Bildung und Forschung. Sozial- und
Wohlfahrtsverbände, Selbsthilfeorganisationen, Kranken- und Pflegekas-
sen, die Bundesanstalt für Arbeit, die Hauptfürsorgestellen, die Versor-
gungsämter, Länder und Kommunen sowie ggf. weitere Einrichtungen,
deren fachliche Zuständigkeit betroffen ist, wirken gleichberechtigt mit.
Interessenvertretungen von Zivildienstleistenden sind einzubeziehen, ins-

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besondere soweit es sich um Übergangsmaßnahmen bis hin zur Abschaf-
fung des Zivildienstes handelt.

Berlin, den 8. Juni 2000

Dr. Ilja Seifert
Sabine Jünger
Monika Balt
Petra Bläss
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Heidi Knake-Werner
Rosel Neuhäuser
Christina Schenk
Heidi Lippmann
Dr. Heinrich Fink
Maritta Böttcher
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

1.

Mit der gesellschaftlichen Debatte über eine drastische Verkürzung des Wehr-
dienstes, den Forderungen nach ersatzloser Abschaffung der allgemeinen
Wehrpflicht und aller Zwangsdienste und mit der Kürzung der Haushaltsmittel
für den Zivildienst durch die Bundesregierung ist dieser Dienst substantiell in
Frage gestellt. Der Rolle als „Wehrersatzdienst“ wird der Zivildienst künftig
kaum noch gerecht werden. Schon heute ist absehbar, dass es schon bald mehr
Bewerber als zu besetzende Zivildienststellen geben wird. „Wehrgerechtigkeit“
ist so nicht zu gewährleisten. Nicht nur die Sinnhaftigkeit von Wehrdienst, son-
dern auch die von „Wehrersatzdienst“ steht grundlegend zur Disposition.

Der Zivildienst in seiner heutigen Form hat sich über Jahrzehnte zu einer wich-
tigen Säule im Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland entwickelt, die
nicht einfach ersatzlos abgeschafft werden kann, ohne dass dies negative Fol-
gen für verschiedene Gruppen hätte: Kinder und Jugendliche, alte und pflege-
bedürftige Menschen sowie Menschen mit Behinderungen. 1999 waren jahres-
durchschnittlich ca. 138 000 Zivildienstleistende in den unterschiedlichsten
Bereichen tätig: Rettungsdienste, ambulante und stationäre Hilfen, Pflege-
heime, Werkstätten und Wohnstätten für Behinderte, Kinder- und Jugendhilfe,
individuelle Schwerbehindertenbetreuung, Fahrdienste, Seniorenbetreuung etc.

Die Leistungen der Zivildienstleistenden verdienen hohe Anerkennung. Einer-
seits leisten sie einen oftmals bisher nicht anders zu ersetzenden Beitrag zur
Versorgung und Betreuung anderer Menschen. Die aus Begegnungen mit die-
sen Menschen gewonnenen sozialen Alltagserfahrungen sind für das Zusam-
menleben in einer vorrangig auf wirtschaftliche Effizienz ausgerichteten Ge-
sellschaft besonders wertvoll. Die meisten Zivildienstleistenden arbeiten unter
großen physischen und psychischen Belastungen bei einer relativ geringen,
nicht bedarfsdeckenden Vergütung.

Andererseits ist nicht zu übersehen, dass Zivildienstleistende in nicht wenigen
Fällen als ein „billiger Ersatz“ für fehlende bzw. „zu teure“ Fachkräfte einge-

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setzt werden, obwohl der gesetzliche Auftrag des Zivildienstes dies eigentlich
ausschließt.

Die durch das 1999 verabschiedete Haushaltssanierungsgesetz bewirkten Kür-
zungen haben erhebliche negative Auswirkungen auf das Leistungsniveau. Be-
sonders schwerwiegend ist die vorgesehene „Deckelung“ der zu besetzenden
Zivildienststellen auf 124 000 im Jahre 2000 und auf nur noch 110 000 im
Jahre 2001. In Verbindung damit ist die Verkürzung der Dienstzeit von 13 auf
11 Monate zu sehen, die ab Mitte 2000 zu einer Verkürzung der so genannten
maximalen Überlappungszeiten von derzeit drei in den alten und fünf Monaten
in den neuen Bundesländern auf einen bzw. drei Monate führt. (Solche Über-
lappungszeiten sind notwendig, um Ausfälle auszugleichen, die durch erforder-
liche Einarbeitung, Krankheit und Urlaub bedingt sind.) Damit steht real weni-
ger Potential zur Erledigung dringender sozialer Aufgaben zur Verfügung, als
dies noch 1999 der Fall war. In der Einsatzplanung und -durchführung sind
immer öfter „Berg- und Talfahrten“ zu verzeichnen, die bei den Betroffenen
Verunsicherung und Leistungsstress erzeugen.

Hinzu kommt, dass die zusätzliche Übernahme von 30 % des Entlassungsgel-
des für die Zivildienstleistenden durch die Einsatzstellen sowie die Kürzung
der Zuschüsse zu den monatlichen Soldzahlungen zu einem erhöhten Kosten-
druck führen, der oft nicht aus eigenen Kräften kompensiert werden kann. Auf
Grund dieser Entwicklung sind zusätzliche Leistungseinschränkungen bereits
spürbar. Der andere, von Einsatzstellen oft gewählte Ausweg – die Erhöhung
der Zuzahlungen durch die Betroffenen – ist ebenfalls keine akzeptable Alter-
native, zumal diese Zuzahlungen in den meisten Fällen gar nicht mehr geleistet
werden können.

2.

Dem realen Abbau sozialer Dienste und Leistungen, der mit der gegenwärtigen
und bereits absehbaren Entwicklung des Zivildienstes einhergeht, muss durch
verschiedene kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen gegengesteuert wer-
den.

Kurzfristig muss vor allem verhindert werden, dass die beschlossenen Maßnah-
men sich auf die Menschen negativ auswirken, für die mit Hilfe des Zivildiens-
tes Leistungen erbracht werden. Gegenüber dem Leistungsniveau des Jahres
1999 darf es daher keine Kürzungen geben, von denen Kinder und Jugendliche,
alte und pflegebedürftige Menschen sowie Menschen mit Behinderungen be-
troffen wären. Eine unverzüglich beim Bundesministerium für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend einzurichtende Ombudsstelle soll ermöglichen, dass
Betroffene aus den o.g. Gruppen, Angehörige (z. B. Eltern von betroffenen
Kindern und Jugendlichen), Einsatzstellen für den Zivildienst, Selbsthilfeorga-
nisationen und andere Betroffenenverbände Leistungseinschränkungen melden
und deren Aufhebung oder Kompensation durch andere geeignete Maßnahmen
in möglichst kurzen Fristen verlangen können.

3.

Mittel- und langfristig muss eine Konversion des Zivildienstes in eine Stärkung
und Modernisierung der sozialen Arbeit einmünden. Dabei ist jede wie auch
immer geartete Einführung jeglicher Art von Zwangsdiensten, wie z. B. ein so-
ziales Pflichtjahr für Jugendliche, strikt abzulehnen. Zwangsdienste können in
einer modernen Zivilgesellschaft keine zukunftsfähige und dauerhafte Grund-
lage zur Erbringung sozialer Leistungen am bzw. für Menschen sein. Dies be-
rührt die Artikel 12a und 17a des Grundgesetzes, deren Streichung oder Ände-
rung für die Abschaffung der Zwangsdienste erforderlich ist.

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Langfristige und vollwertige soziale Daseinsvorsorge erfordern in erster Linie
ein zusammenhängendes Paket von Maßnahmen, um soziale Arbeit künftig
umfassend zu sichern. Im Vordergrund muss dabei der Einstieg in einen ÖBS
stehen, der durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen unterstützt werden soll.

Sozial- und Wohlfahrtsverbände und ihre Mitgliedsorganisationen brauchen für
ihre Angebote und Einrichtungen eine stabile personelle Ausstattung insbeson-
dere dort, wo langfristige kontinuierliche Arbeit und ein hohes Qualifikations-
niveau erforderlich sind. Gezielte und langfristig angelegte arbeitsmarktpoliti-
sche Maßnahmen sind erforderlich, um mit der Konversion des Zivildienstes
im sozialen Bereich eine große Anzahl neuer Arbeitsplätze zu schaffen. Seriöse
Schätzungen verschiedener Institute gehen übereinstimmend davon aus, dass
durch den Ersatz von Zivildienst (und damit auch den Wehrdienst) zwischen
70 000 und 100 000 neue, zukunftsträchtige Arbeitsplätze entstehen können.

Lohn- und Sachkostenzuschüsse der Bundesanstalt für Arbeit sollen nicht der
Stützung weiterer Verwaltungsstrukturen dienen, sondern der langfristigen Ein-
stellung und Beschäftigung von qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern, die vorrangig Leistungen für assistenzbedürftige Menschen sowie für
Familienentlastende Dienste erbringen. Die Einführung und Sicherung von
Qualitätsstandards – z. B. in Pflegeeinrichtungen – nützen nur bedingt, wenn
nicht auch eine kontinuierliche Beschäftigung von qualifizierten festangestell-
ten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesichert werden kann. Dazu gehört
auch, der Tendenz entgegenzuwirken, soziale Dienste und Einrichtungen im-
mer mehr dem Kostendruck der Märkte auszusetzen und in Zonen prekärer Be-
schäftigung mit „Billigjobs“ für Frauen, Jugendliche und Ausländer zu verwan-
deln. Im Vordergrund muss die Schaffung von regulären, tariflich entlohnten
Erwerbsarbeitsplätzen stehen, ggf. in Verbindung mit dauerhafter öffentlicher
Förderung zur Sicherung der sozialen Daseinsvorsorge.

Sonderprogramme zur Ausbildung und zur beruflichen Integration junger Men-
schen in sozialen Berufen sollen dazu beitragen, diese Berufe attraktiver zu ma-
chen. Dazu gehört, dass neue Wege entwickelt werden, um Berufsausbildung
und Studiengänge unter Berücksichtigung der Interessen der Jugendlichen mit
Freiwilligendiensten zu verbinden.

Die Förderung von Modellprojekten zum Einstieg und zur Entwicklung eines
auf soziale Dienstleistungen orientierten Sektors sollte zwischen dem Bund und
den Ländern auf längerfristiger Basis (mindestens fünf Jahre) vereinbart und
über eine anteilige Finanzierung gesichert werden. Dies ist erforderlich, um
mehr Stabilität und Kontinuität in solchen Projekten zu schaffen.

Modellprojekte in den Bereichen

– Kinderbetreuung und Jugendhilfe,

– Betreuung und Hilfe für ältere Menschen,

– Familienentlastende Dienste und

– individuelle Schwerbehindertenbetreuung

müssen insbesondere in Brennpunktlagen von Großstädten und in struktur-
schwachen Regionen gefördert werden.

Die Entwicklung der Modellprojekte sollte von Anfang an darauf ausgerichtet
werden, bereits bestehende Strukturen zu nutzen und zu stärken sowie neue
Strukturen ergänzend zu entwickeln.

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4.

Die seit Jahren von Behindertenverbänden und Selbsthilfegruppen geforderte
Einführung des „Arbeitgeber-„ bzw. „Assistenzmodells“ steht noch immer aus.
Die Einführung solcher, in den Niederlanden und Großbritannien schon prakti-
zierter Modelle gäbe den Betroffenen zusätzliche Möglichkeiten, die Hilfen
und Assistenzleistungen auf der Grundlage eines bedarfsdeckenden „persönli-
chen Budgets“ selbst zu gestalten.

Auf dieser Grundlage wäre zu gewährleisten, dass bei der Vorbereitung eines
Elften Buches Sozialgesetzbuch (Recht der Rehabilitation und der Teilhabe
behinderter Menschen) durch die Bundesregierung ein wirklicher Politikwech-
sel eingeleitet wird: Menschen mit Behinderungen sollen nicht mehr in die
Position der von Leistungsträgern und Leistungserbringern fremdbestimmten
Objekte gedrängt werden, sondern als Subjekte ein wirkliches Wunsch- und
Wahlrecht bei der Nutzung der für sie in Frage kommenden Leistung realisieren
können. Dies setzt voraus, dass im Sozialrecht ein Übergang vom Sachleis-
tungsprinzip zum Geldleistungsprinzip erfolgt, d. h. Anspruchsberechtigte
erhalten einen – bedarfsgerechten – Geldbetrag, der ihnen eine Auswahl aus
dem Leistungsangebot ermöglicht.

Einige der Arbeiten, die z. B. in der individuellen Schwerbehindertenbetreuung
heute von Zivildienstleistenden erbracht werden, könnten auch von Freiwilli-
gendiensten als Assistenzleistungen angeboten werden. Ein entsprechender Be-
darf ist vorhanden, kann aber auf Grund der bestehenden Rahmenbedingungen
bisher nicht oder nur unzureichend gedeckt werden.

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