BT-Drucksache 14/3522

Mutige EU-Reform als Voraussetzung für eine erfolgreiche Erweiterung

Vom 7. Juni 2000


Deutscher Bundestag Drucksache 14/3522
14. Wahlperiode 07. 06. 2000

Antrag
der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun (Augsburg),
Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Joachim
Günther (Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Klaus Haupt, Ulrich Heinrich,
Walter Hirche, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Jürgen Koppelin, Dirk Niebel,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, Dr. Herrmann Otto Solms, Dr. Dieter Thomae, Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der F.D.P.

Mutige EU-Reform als Voraussetzung für eine erfolgreiche Erweiterung

Der Bundestag wolle beschließen:

Die EU steht mit der größten Erweiterungsrunde ihrer Geschichte vor einer
existentiellen politischen Herausforderung. In nur wenigen Jahren dürfte sich
die Zahl ihrer Mitglieder drastisch erhöhen. Die Erweiterung ist historisch not-
wendig, um das ganze Europa zu vereinen und um den in der EU erreichten Zu-
stand des Friedens, des wachsenden wirtschaftlichen Wohlstands und der Ge-
meinschaftssolidarität auf die durch die Nachkriegsgeschichte benachteiligten
Völker Mittel- und Osteuropas auszudehnen. Die Erweiterung liegt aber auch
im herausragenden politischen und wirtschaftlichen Interesse der EU und in
erster Linie Deutschlands. Es wäre unverantwortlich, sie zu verzögern.

In hohem Maße notwendig für die Aufnahme neuer Mitglieder ist es, die not-
wendigen politischen institutionellen Reformen der EU in die Tat umzusetzen.
Die EU muss in die Lage versetzt werden, auch mit 25 oder mehr Mitgliedstaa-
ten rasch zu entscheiden, effektiv zu handeln und eine dynamische Integra-
tionsentwicklung zu ermöglichen. Die Regierungskonferenz zur Reform der
EU, die bis Ende des Jahres abgeschlossen sein muss, ist deshalb von höchster
politischer Priorität. Es ist politisch unverantwortlich, sie als Geisel zur Durch-
setzung anderer, weit geringwertigerer politischer Ziele zu benutzen, wie das
offenbar einige Länderregierungschefs, einige Bundesministerien und einige
EU-Mitgliedstaaten vorhaben. Diese Allianz von Blockierern, deren wahre Ab-
sicht darin liegt, die Ost-Erweiterung auf lange Zeit hinauszuschieben oder
ganz scheitern zu lassen, muss aufgebrochen werden.

Die Reform muss zu einer tiefgreifenden und langfristig zukunftsfähigen Ände-
rung der Struktur der Institutionen führen. Die EU darf nicht mit ungelösten in-
stitutionellen Fragen in die Erweiterung gehen, will sie nicht ihre eigene Exis-
tenz gefährden. Neue Regierungskonferenzen werden bei größerer Zahl der
Mitglieder immer schwieriger. Die Gefahr, sich mit immer weniger zufrieden
zu geben, nimmt zu.

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Der Deutsche Bundestag lässt sich vom Prinzip einer europäischen Verfassung
in bundesstaatlicher Perspektive, die auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht, als
Endziel der Integrationsentwicklung leiten. Er unterstützt deshalb die Ausar-
beitung einer Grundrechte-Charta der EU als ein weiteres konstitutives Ele-
ment in der Entwicklung der EU. Die Grundrechte-Charta muss als rechtlich
verbindlicher Bestandteil in die Europäischen Verträge aufgenommen werden.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, bei der Regierungs-
konferenz ehrgeizige Ziele anzustreben:

1. Entscheidend für die Handlungsfähigkeit einer erweiterten Gemeinschaft
ist grundsätzliche Einführung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung,
die alle Bereiche der EU und des EG-Vertrages umfasst. Dabei darf es kein
Tabu geben. Das Einstimmungserfordernis muss zu einer seltenen Aus-
nahme werden, die an klare Kriterien gebunden ist.

Die Regierungskonferenz verfolgt zz. den Ansatz, die Europäischen Ver-
träge Artikel für Artikel darauf zu überprüfen, wo die qualifizierte Mehr-
heitsentscheidung eingeführt werden kann. Der Deutsche Bundestag hält
dieses Vorgehen für falsch.

Die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen muss in jedem
Fall zur Einführung des Mitentscheidungsverfahrens des Europäischen
Parlaments führen.

2. Die Zahl der Sitze im Europäischen Parlament ist durch den Vertrag von
Amsterdam auf höchstens 700 festgelegt worden. Dabei muss es bleiben,
wenn man die Arbeitsfähigkeit des EP erhalten will. Die durch die Erweite-
rung notwendige Neuverteilung der Parlamentssitze muss stärker propor-
tional der Bevölkerungszahl ausfallen als bisher, um dem Europäischen
Parlament bei erweiterten Rechten die notwendige demokratische Legiti-
mation zu geben. Es sollte angestrebt werden, eine bestimmte Anzahl euro-
päischer Abgeordneter auf europäischen Listen der Parteienbündnisse zu
wählen. Darüber hinaus sollte ein einheitliches europäisches Wahlrecht auf
proportionaler Basis geschaffen werden.

3. Die Bundesregierung wird aufgefordert, eine Stimmengewichtung im Mi-
nisterrat der EU anzustreben, die das Gewicht der jeweiligen Bevölkerung
besser repräsentiert. Die qualifizierte Mehrheit im Ministerrat muss auch
eine qualifizierte Mehrheit der Bevölkerung in der EU widerspiegeln. Die
bisher die bevölkerungsärmeren Mitgliedstaaten bevorzugende Stimmen-
gewichtung muss daher zugunsten der bevölkerungsreicheren Staaten kor-
rigiert werden. Ohne eine solche Korrektur könnten nach dem Beitritt einer
großen Zahl bevölkerungsärmerer Mitgliedstaaten Mehrheitsentscheidun-
gen im Rat nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung widerspiegeln.

4. Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich für eine Begrenzung der
Kommissionsgröße einzusetzen, die die jetzige Größe von 20 Kommissa-
ren nicht überschreitet. Ohne Änderung des derzeitigen Systems der Beset-
zung der Kommission ergäbe sich nach dem Beitritt der beitrittswilligen
Staaten eine Kommission mit über 30 Mitgliedern. Eine derart große Kom-
mission könnte nicht mehr effizient ihre Aufgaben als europäische Exeku-
tive und „Hüterin der Verträge“ wahrnehmen.

Der Kommissionspräsident soll in Zukunft einzelne Kommissionsmitglie-
der von ihren Aufgaben in der Kommission entbinden dürfen. Die Mög-
lichkeit des Parlaments, die Kommission gegebenenfalls in Frage zu stel-
len, wird damit glaubwürdiger.

5. Der Deutsche Bundestag fordert die Abschaffung des Wirtschafts- und Sozi-
alausschusses. Eine demokratische Union braucht keinen institutionalisier-

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ten Lobbyismus. Die Interessen der Bürger sollen im Europäischen Parla-
ment vertreten werden und nicht in Institutionen, die eher an den Ständestaat
des Mittelalters denken lassen als an die EU des 21. Jahrhunderts.

6. Die verstärkte Zusammenarbeit darf nicht mehr auf Antrag eines Staates
von der einstimmigen Beschlussfassung des Europäischen Rats abhängig
gemacht werden, und die Mindestzahl der Mitgliedstaaten, die für eine ver-
stärkte Zusammenarbeit erforderlich ist, muss gesenkt werden. Die ver-
stärkte Zusammenarbeit muss auch auf dem Gebiet der Gemeinsamen Au-
ßen- und Sicherheitspolitik möglich werden. Jeder Mitgliedstaat muss sich
an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen können, sobald er die Vor-
aussetzungen erfüllt. Die verstärkte Zusammenarbeit darf aber nicht als
Alibi für eine zögerliche Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter
Mehrheit dienen.

Durch die Erweiterung wird die EU heterogener werden. Um dennoch wei-
tere Integrationsfortschritte zu ermöglichen, muss die jetzt schon gegebene
Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit einer Gruppe von EG-Staaten
im institutionellen Rahmen der Union erleichtert werden. Mit diesem im
Vertrag von Amsterdam vereinbarten Instrument sollen neue, über den
acquis communautaire hinausgehenden Integrationsfelder im institutionel-
len Rahmen der EU erschlossen werden, auch wenn nicht alle EU-Mitglie-
der sich von Anfang an beteiligen können oder wollen. Es soll und darf
hingegen nicht missbraucht werden als Mittel zur Erosion des acquis im
Allgemeinen und des Binnenmarktes im Besonderen oder gar den Weg zu
einem „Europa à la carte“ ebnen.

7. Die vom Vertrag geforderte und politisch beschlossene Gemeinsame Ver-
teidigungspolitik und Verteidigung sollte ein hervorragendes Beispiel für
die verstärkte Zusammenarbeit werden. Der EU-Vertrag muss deshalb bei
Wegfall des WEU-Vertrages über die Petersberg-Aufgaben hinaus durch
ein Zusatzprotokoll auf die Gemeinsame Verteidigung (Artikel 5 WEU-
Vertrag) ausgeweitet werden, an dem zunächst nur die jetzigen WEU-Mit-
glieder teilnehmen. Es entstehen sonst völlig überflüssige Doppelstruktu-
ren in WEU und EU. Auch hier soll sich jeder Mitgliedstaat beteiligen kön-
nen, sobald er dazu politisch bereit ist.

Der Deutsche Bundestag fordert auch, dass die Ämter des Hohen Reprä-
sentanten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und des für
die Außenbeziehungen zuständigen Kommissars in der Person eines Vize-
Präsidenten der Kommission zusammengeführt werden.

8. Grundrechte sind ein konstitutiver Bestandteil der EU. Die Grundrechte-
Charta der EU, die vor allem der Stärkung der Rechte der Unionsbürger
dienen und nicht auf Macht- und Kompetenzerweiterung zielen soll, muss
deshalb zu einem rechtlich verbindlichen Teil des EU-Vertrages werden.
Dies ist schon im Zuge der Vertragsrevision von Nizza anzustreben, der
Zeitdruck darf jedoch nicht zu einem Minimalkonsens führen. Soziale
Grundforderungen sollten in die Präambel aufgenommen werden. In die
Formulierung der eigentlichen Grundrechte sollten auch gesellschaftspoli-
tische Grundsatzfragen einbezogen werden, die beispielsweise gesell-
schaftliche Diskriminierung und technologischen Fortschritt wie etwa den
Datenschutz oder die Bioethik betreffen.

9. Die europäischen Verträge und die Entscheidungsabläufe der Europäischen
Institutionen sind für den Bürger undurchschaubar und unverständlich ge-
worden. Der Vorschlag der drei Weisen, die bestehenden Vertragstexte in
zwei Teile aufzuspalten, muss deshalb umgesetzt werden: der erste Teil
enthält die grundlegenden Bestimmungen über Vertragsziele, Grundsätze,

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Institutionen sowie die Grundrechte-Charta, der andere weniger grundle-
gende Bestimmungen. Dieser zweite Teil könnte zukünftig in einem einfa-
chen Verfahren im Europäischen Rat geändert werden. Nur der Vertrag mit
den grundlegenden Bestimmungen würde dem bei einer Verdoppelung der
Mitgliedstaaten immer komplizierteren Verfahren der Änderung durch eine
Regierungskonferenz unterliegen.

10. Der Deutsche Bundestag fordert eine Intensivierung der deutsch-französi-
schen Zusammenarbeit. Sie ist die Voraussetzung für die Umsetzung dieser
Ziele.

11. Notwendig ist auch eine begleitende Kommunikationsstrategie, die den
Nutzen der institutionellen Reform und der Ost-Erweiterung einer breiten
Öffentlichkeit verdeutlicht. Europa muss wieder positive Leidenschaften
hervorrufen.

Berlin, den 7. Juni 2000

Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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